Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig. Zuletzt erschien von ihm "Merkel- Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft" (Westend Verlag 2019).
Der Internationalismus der Gewerkschaften ist zu halbherzig!
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Hoch die internationale Solidarität! Der alte Schlachtruf der Linken wird zum 1. Mai zwar zu hören sein. Die organisierte deutsche Arbeiterschaft hat aber insgesamt wenig Interesse an den Bedingungen anderswo, kritisiert der Journalist Stephan Hebel.
Morgen ist der 1. Mai. Oder, wie man früher manchmal sagte, der "Internationale Kampftag der Arbeiterklasse". In solchen Begriffen redet heute kaum noch jemand. Was vom Klassenkampf übrig ist, findet in klimatisierten Konferenzräumen bei Tarifverhandlungen statt. Wer oder was genau die Arbeiterklasse sein soll, weiß in der postindustriellen Periode auch niemand so recht. Und sehr international kommt das Ganze auch nicht daher.
Aber demonstriert wird auch jetzt noch am 1. Mai. Der Deutsche Gewerkschaftsbund ruft Jahr für Jahr dazu auf, und manchmal klingt sogar die internationale Solidarität noch an. Jedenfalls die europäische Solidarität, und jedenfalls dann, wenn Europa wählt.
Europa gilt als Elitenprojekt
"Gute Arbeit. Soziales Europa", so war der Aufruf im Jahr 2014 überschrieben, kurz vor der letzten Europawahl. Jetzt steht die nächste bevor, und zum ersten Mal taucht das Wort wieder auf: "Europa. Jetzt aber richtig!", so heißt der Slogan 2019.
Es ist sicher kein Zufall, dass deutsche Gewerkschaften den europäischen Gedanken nicht öfter in den Mittelpunkt stellen. Sie kennen ihre Klientel. "In der weniger privilegierten Bürgerschaft haftet dem Projekt der Europäischen Gemeinschaft offenbar nach wie vor das Image eines 'Elitenprojekts' an", schreibt das Institut Policy Matters, das in diesem Frühjahr die Bürgerinnen und Bürger befragt hat.
Natürlich sind auf diesen Befund zwei Antworten denkbar: Man kann das europäische Projekt verwerfen, weil es ja eh nur den Reichen dient. Das wäre der weitgehende Rückzug ins Nationale, für den vor allem die AfD regelmäßig Stimmen einfängt, auch in der deutschen Arbeitnehmerschaft. Oder man plädiert, wie der DGB, für ein anderes, ein gerechteres Europa. Das ist ja eindeutig gemeint mit dem Slogan "Jetzt aber richtig!"
Da sind die Gewerkschaftsführungen also schon auf dem richtigen Weg, allerdings: Sie gehen ihn nicht konsequent. Nicht mal in ihren Mai-Aufrufen, wenn nicht gerade das Europaparlament neu gewählt wird.
Basis denkt in nationalen Kategorien
Etwas zugespitzt ließe sich sagen: Auch in der Arbeit der Gewerkschaften spiegelt sich der wichtigste Konstruktionsfehler der Europäischen Union: Der ökonomischen Freizügigkeit über alle nationalen Grenzen hinweg steht gerade keine grenzenlose, gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik gegenüber.
Verteilungsfragen wie die Höhe von Löhnen oder Sozialleistungen werden nach wie vor im nationalen Rahmen ausgehandelt, genauso wie die Steuer-, Haushalts- und Sozialpolitik der Regierungen. Für die Lohnkämpfe der Gewerkschaften heißt das ganz praktisch: Arbeitgebern, die mit Abwanderung in Niedriglohnländer drohen, werden mühsam sogenannte sozialverträgliche Methoden beim Jobabbau abgehandelt.
Was die Firmen dann ein paar hundert Kilometer weiter mit ihren Beschäftigten treiben, interessiert sehr wohl einige Gewerkschaftsfunktionäre. Aber der Basis tritt man nicht zu nah, wenn man davon ausgeht, dass sie mehrheitlich in nationalen Kategorien denkt. Nicht viel anders als die Regierung mit ihrem Dogma der nationalen Wettbewerbsfähigkeit.
Für einen griechischen Mindestlohn demonstrieren?
Es ist volkswirtschaftlich gar nicht falsch, wenn die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland höhere Löhne durchsetzt. Das stärkt die Binnennachfrage und mildert so die viel zu großen Exportüberschüsse Deutschlands. Aber internationale Solidarität in Europa würde bedeuten, für eine wesentlich radikalere Angleichung von Lebensverhältnissen zu streiten.
Das wäre nicht einfach, sicher. Dass Tausende dem Aufruf folgen würden, für einen höheren Mindestlohn in Griechenland zu demonstrieren, ist aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich. Aber wenn die Meinungsführer, auch die in den Gewerkschaften, überzeugte und überzeugende Europäer sein wollen, müssen sie auch an der eigenen Basis Werbung machen für die soziale Einheit Europas. Auch am 1. Mai, jedes Jahr. Und nicht nur, wenn in der EU ein neues Parlament gewählt wird.