Europa

Warnung vor Nationalismus

Von Jürgen Schmidt |
2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal. Es gibt gute Gründe, in die Vergangenheit zu blicken, meint der Politologe Jürgen Schmidt - und erinnert an August Bebel: Dessen Warnungen werden heute wieder wichtig.
Wie die Schlafwandler seien die europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg geraten. So lautet die zentrale These des Historikers Christopher Clark. Als am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger in Sarajewo ermordet wurde, hatte keiner der europäischen Staaten einen fertigen Plan für einen Angriffskrieg in der Tasche.
Doch in einer Spirale der Angst, des Misstrauens, der aufgepeitschten Massenpresse und der verengten diplomatischen Spielräume befand sich Europa fünf Wochen später im Krieg. Die blutigen Konsequenzen wurden beiseite gewischt, die Menschen einer nationalen Hysterie geopfert. Dabei hätten die Entscheidungsträger wissen können, was auf die Soldaten zukommt.
August Bebel, Parteivorsitzender der Sozialdemokratie und die Führungsfigur der europäischen Arbeiterbewegungen, hatte bereits 1911 in einer fulminanten Rede vor dem Reichstag die Folgen vor Augen geführt: "Als dann werde in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rückten."
Ein Jahr später schrieb Bebel, es sei "zu viel Zündstoff vorhanden" – "voriges Jahr mit Marokko, dies Jahr mit dem Balkan" – man werde "wider Willen weitergetrieben". Er sollte Recht behalten. Im August 1914 gingen die europäischen Mächte den Weg in den Krieg, statt ihn zu verhindern.
Freilich war Bebel keineswegs ein Pazifist. Im Fall eines Angriffs auf Deutschland, noch dazu falls er vom despotisch-rückständigen Zarenreich ausginge, sei er und die deutsche Arbeiterbewegung "bis zum letzten Mann … bereit, die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu verteidigen".
Errungenschaft der Europäischen Union bewusst machen
Dennoch: Bebel hatte bereits früh eines der Grundprobleme des europäischen Miteinanders erkannt. Als im deutsch-französischen Krieg 1870 Elsass-Lothringen von Deutschland annektiert wurde, machte er auf den "Nationalitätenhass", wie er den übersteigerten Nationalismus nannte, aufmerksam.
Bebel ging vom Selbstbestimmungsrecht der Völker aus und erklärte, die Elsässer und Lothringer hätten "nicht im Mindesten Lust, in diesen deutschen Staat einzutreten". Außerdem werde die Annexion "sehr viel dazu beitragen, die Feindseligkeit zwischen zwei der edelsten Nationen zu verlängern". Würde man das "reaktionäre Nationalitätsprinzip in Europa wirklich unverfälscht zur Geltung bringen, … wäre des Krieges kein Ende abzusehen."
Von "Hinaus mit ihm!"-Rufen wurde seine Rede begleitet. Sein Auftritt stellt eine Sternstunde parlamentarischen Engagements dar. Er stand einer geschlossenen Front gegenüber. Dennoch hielt er an seiner Haltung fest. Er sah die künftigen Probleme im deutsch-französischen Verhältnis voraus, forderte völkerrechtliche Standards ein und entwarf die Vision eines friedlichen Europas jenseits von Nationalitätenhass.
Sein Nein zur Annexion umgab – aus der Rückschau betrachtet – eine ähnliche Aura wie das "I am not convinced" des deutschen Außenministers Joschka Fischer, als er 2003 vom Sinn des Irakkrieges nicht überzeugt war.
Derzeit nehmen in der Eurokrise wirtschaftlich-soziale Ungleichgewichte zu und mit ihnen wachsen nationale Egoismen und nationalistische Vorurteile. Da lohnt es sich, an Bebels Plädoyer für die Überwindung des Nationalismus zu erinnern. Es gilt, sich die Errungenschaft der Europäischen Union bewusst zu machen.
Was damals vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges fehlte, sollte heute Basiswissen des europäischen Miteinanders sein: sich darüber klar zu sein, welche Reaktionen die eigenen nationalen Interessen bei den Nachbarn auslösen. Staaten haben vielleicht keine Freunde, aber ohne ein gewisses Maß an Empathie ist eine funktionierende Union nur schwer möglich.
Jürgen Schmidt, Jahrgang 1963, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg, Innsbruck und Berlin. Er arbeitet zurzeit am Internationalen geisteswissenschaftlichen Kolleg "Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive" der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Juli 2013 erschien seine Biografie "August Bebel. Kaiser der Arbeiter" im Züricher Rotpunktverlag.
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