Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de.
Jetzt schaffen wir die Europäer!
Ist Europa ein Projekt gesellschaftlicher Eliten? Ja, sagt der Stuttgarter Publizist Markus Reiter. Und er fragt: Was ist daran schlimm? Schließlich waren auch die Nationalstaaten früher einmal Eliteprojekte.
Der italienische und der deutsche Nationalstaat teilen sich zwei herausstechende Gemeinsamkeiten: Sie sind das Ergebnis eines Einigungsprozesses von oben – und sie sind gerade einmal rund eineinhalb Jahrhunderte alt.
Das Deutsche Kaiserreich entstand 1871 nach dem deutsch-französischen Krieg durch einen Willensakt Bismarcks. Italien fand ein Jahrzehnt früher im Risorgimento unter der Führung des piemontesischen Königs zusammen.
Damals, 1861, hielt der Abgeordnete Massimo d’Azeglio in der ersten Sitzung des italienischen Parlamentes eine berühmte Rede. Sie gipfelte in dem Ausspruch: "Italien haben wir geschaffen. Jetzt müssen wir die Italiener schaffen!"
Der Satz kommt mir in den Sinn, wenn dieser Tage in Kommentaren und Talkshows wieder einmal die Rede davon ist, Europa sei ja nur ein Projekt der Eliten. In der Regel soll eine solche Behauptung die Idee eines gemeinsamen europäischen Bundesstaates desavouieren. Der sei nur das Hirngespinst einiger Intellektueller. Bei den Nationalstaaten hingegen handle es sich um die natürliche Ordnung der Völker.
Nation wurde aus dem Geist der Romantik erfunden
Wer sich die Geschichte genauer anschaut, erkennt: Auch Nationalstaaten haben einst als hochfliegende Pläne einer politischen und gesellschaftlichen Elite angefangen.
Massimo d’Azeglio, der Mann, der die Italiener erschaffen wollte, war nicht nur Politiker. Er war auch ein Schriftsteller der Romantik, der eine Reihe historischer Romane verfasst hat. Und er war der Schwiegersohn des frühromantischen Nationaldichters Alessandro Manzoni, dessen Roman "Die Verlobten" ein zentrales Werk der frühen italienischen Befreiungsbewegung ist. Ein Intellektueller also, der die italienische Identität miterfunden hat.
Auch in Deutschland waren es die Romantiker, die die Deutschen geschaffen haben. Angefangen bei Frühromantikern wie Ernst Moritz Arndt mit seinen oft hasserfüllten Schriften während der Befreiungskriege bis zu Wilhelm Hauffs Bild des deutschen Mittelalters mit seinen trutzigen Burgen und edlen Rittern.
Fast alles, was wir heute für den Urgrund der deutschen Seele halten, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Die deutsche Liebe zum Wald und zur Natur. Der Rhein als deutscher Fluss. Der deutsche Weltschmerz und die deutschen Tugenden. Ohne Zweifel gibt es dafür historische Wurzeln.
Dem Narrativ des Nationalstaats folgt das Narrativ Europas
Aber eine nationale Identität entsteht erst, wenn solche Bruchstücke von einer Bildungselite zusammengefügt werden. Die Historiker sprechen von einem Narrativ.
Was braucht es also für einen Nationalstaat? Eine gemeinsame Sprache? Nicht unbedingt. In Frankreich, Italien und bis zu einem gewissen Grade in Deutschland entstanden die Nationalsprachen erst im Zuge der Nationenbildung. Die Schweiz hat bis heute keine Nationalsprache. Österreicher und Deutsche oder Serben und Kroaten sprechen dieselbe Sprache, verstehen sich aber nicht als Nation.
Ein ethnisch homogen es Volk? Hoffentlich nicht. Die Idee ethnischer Homogenität hat nicht nur viel Unglück über die Menschheit gebracht und Genozide gerechtfertigt. Sie ist auch selbst eine Fiktion.
Zusammengehalten wird eine Nation allein durch eine einzige Kraft: durch die Überzeugung, eine Nation zu sein. Der amerikanische Politwissenschaftler Benedict Anderson nannte das "imagined communities", eingebildete Gemeinschaften.
Eliten müssen jetzt "Europäer" schaffen
Könnte demnach Europa eines Tages zur Nation werden? Selbstverständlich, wenn eine Bildungselite überzeugend die europäische Geschichte der Gemeinsamkeiten erzählt – und derer gibt es genug. Mithin stehen die Chancen besser als viele denken.
Es war einst die bürgerliche, die industrielle Moderne, die den organisatorisch zweckmäßigen Nationalstaat erzwang. Nun macht die Moderne einen weiteren großen Schritt. Je mehr die Europäer im weltweiten Wettbewerb stehen, desto stärker werden sie sich als Einheit sehen.
Die Aufgabe für die Eliten lautet also: Europa haben wir geschaffen, jetzt müssen wir die Europäer schaffen.