Europäische Flüchtlingspolitik ist "moralisch verkommen"

Karl Kopp im Gespräch im Ulrike Timm |
Knapp 1800 Menschen sind – dokumentiert – in den letzten Wochen zwischen Libyen und Italien ertrunken. Die Dunkeziffer ist höher. Karl Kopp, Europabeauftragter von Pro Asyl, sagt, dass europäische Schiffe regelmäßig an sterbenden Menschen vorbeifahren, ohne sie zu retten.
Ulrike Timm: Als vor 20 Jahren der schrottreife Frachter "Vlora" aus Albanien kommend im italienischen Hafen Bari einlief, da ging ein Foto um die Welt, das wohl bis heute wie kein zweites die Tragik von Flüchtlingsströmen versinnbildlicht: 10.000 Menschen waren auf dem Schiff zusammengepfercht, sie hingen in den Masten und über der Reling, sie hielten sich an Tauen fest und nicht wenige fielen schlicht herunter.

Man sah das Schiff nicht mehr vor lauter Menschen. Und was einte sie? Der feste Wille, das europäische Festland zu erreichen – und wenn es das Leben kosten sollte. Damals kamen sie auf der Flucht vor den kommunistischen Strukturen Albaniens, heute kommen die Flüchtlinge vor allem aus Libyen und vom Horn von Afrika, und viele kommen nicht an: 1820 Tote zählt man dieses Jahr bislang im Mittelmeer, 1820 offizielle Tote.

Wir wollen mit Karl Kopp, dem Europabeauftragten von Pro Asyl, zurückschauen auf 20 Jahre Flüchtlingsdramen im Mittelmeer und darauf, was sich möglicherweise verändert hat. Schönen guten Tag, Herr Kopp!

Karl Kopp: Guten Tag!

Timm: Dieses Bild damals – eine solche Menschenmenge auf einem Schiff, dass man im ersten Moment den Eindruck hat, das ist ein riesiger Ameisenhaufen –, das hat sich ja ganz stark eingeprägt für beides: für das Elend der Flüchtlinge wie für die Angst für den Sturm auf Europa. Wie hat man damals eigentlich konkret reagiert? Rufen Sie es uns noch mal in Erinnerung.

Kopp: Ja, das Bild war dramatisch, aber die Reaktion war vielleicht Modell und äußerst hartherzig: Die italienischen Behörden haben diese Bootsflüchtlinge aus Albanien sozusagen durch die Straßen von Bari getrieben, man hat sie in ein Stadion gesperrt und sie ziemlich schäbig behandelt, und dann postwendend zurückgeschickt.

Also das war so was wie ein Einstieg in eine europäische Flüchtlingspolitik, die es damals noch gar nicht gab, wo man sagt: Man behandelt die Menschen, die lebend ankommen, möglichst schäbig und versucht, sie mit allen Mitteln zurückzutreiben in ihr Herkunftsland. Man hatte natürlich auch Albanien finanziell unterstützt, aber vor allem auch den Grenzschutz in den albanischen Häfen ausgebaut, um diese Fluchtbewegung zu stoppen.

Timm: Welche Bedeutung hat eigentlich das Schengener Abkommen von 1995, das ja die Freizügigkeit innerhalb Europas regelt und auch die Abgrenzung seiner Grenzen? Welche Bedeutung hat dieses Abkommen in Bezug auf außereuropäische Flüchtlinge?

Kopp: Na ja, die große Errungenschaft der europäischen Einigung war eben die Freizügigkeit nach innen für uns alle. Zeitgleich ist aber auch Schengen der Einstieg in eine Entwicklung der Abwehr nach außen. Man hat das kompensiert: Also wenn man die Freizügigkeit nach innen schafft, muss man nach außen aufrüsten. Und sozusagen der hässliche Begriff – den ich selber nicht mag – der Festung Europa hat sehr viel mit dem Einstieg in diese Schengen-Freizügigkeitsdebatte zu tun.

Wir haben heute mehr Mauern um Europa rum, sichtbare und unsichtbare, in Ceuta und Melilla ganz sichtbare, hässliche, häufig tödliche Mauern, also die uns eher an die Berliner Mauer erinnern, wir haben eine Hightech-Abwehr, wir haben eine Armada von Polizeischiffen, die versuchen, Seewege zu blockieren, wir haben immer mehr Abkommen mit Drittstaaten, früher mit Herrn Gaddafi, dem Diktator und anderen Diktatoren in Nordafrika, um Schutzsuchende umzudrehen, abzuwehren und zurückzuschicken ins Elend.

Timm: Heute kommen die Flüchtlinge vor allem aus Libyen und vom Horn von Afrika. So ein Schiff wie die "Vlora" ist noch nicht wieder angelaufen – aber hat sich im Prinzip nichts verändert?

Kopp: Es hat sich an den Bildern gar nicht viel verändert, nur die Todeszahl ist ungleich viel höher. Also wir haben eine dramatische Zuspitzung an den europäischen Außengrenzen, vor allem im Mittelmeer. Wir hatten das auch phasenweise in den letzten Jahren im Atlantik zwischen Westafrika und den kanarischen Inseln, dass wir tausende von Toten zu verzeichnen haben.

Also insgesamt geht man davon aus, dass über 20.000 Menschen in den letzten zwei Jahrzehnten an den europäischen Außengrenzen gestorben sind, das sind Zahlen mit sehr vielen Dunkelziffern. Sie haben eine Zahl erwähnt: Knapp 1800 Menschen – dokumentiert – sind in den letzten Wochen zwischen Libyen und Italien ertrunken!

Man muss sich das vorstellen: In einer Situation, wo die westliche Welt eine Seeblockade macht, sozusagen den Seeweg abriegelt, überwacht, sterben 1800 Menschen, und man muss sich fragen: Wieso wurde diesen Menschen nicht geholfen? Wieso wird heute nicht jeder Seelenverkäufer, der in Libyen startet, weil der Diktator die Leute auf die Boote zum Teil drängt Richtung Europa, wieso wird nicht jeder Seelenverkäufer als ein Schiff in Seenot qualifiziert und man leitet sofort die Seenotrettung ein? Wieso ist es nicht möglich, wieso fahren Schiffe vorbei, wieso haben wir ständig Berichte von Überlebenden, dass Militär- und Zivilschiffe vorbeigefahren sind, weggeschaut haben und nicht gerettet haben?

Das ist sicherlich eine dramatische Zuspitzung, das ist eine Enthemmung, und ich muss ehrlich sagen: Ich bin jetzt schon über 20 Jahre in dem Flüchtlingsbereich tätig – ich hätte mir das vor einigen Jahren nicht vorstellen können, dass man Menschen wochenlang auf dem Mittelmeer treiben lässt, sie verdursten, sie sterben, einer nach dem anderen, und es wird nicht gerettet. Das ist der Skandal, über den wir heute reden, und das ist der größte Menschenrechtsskandal in der europäischen Flüchtlingspolitik, dass wir ein tausendfaches Sterben vor der Haustür haben, und wir könnten dieses Sterben verhindern.

Timm: Sie hören das "Radiofeuilleton", und wir sprechen mit dem Europabeauftragten von Pro Asyl, mit Karl Kopp, über das Flüchtlingselend vor den europäischen Grenzen. Herr Kopp, wenn ich Ihnen zuhöre, könnte man ja meinen, die Toten im Mittelmeer sind ein perfider Teil einer Abschreckungsstrategie.

Kopp: Es hat den Anschein, dass Europa zuschaut beim Sterben. Das ist offenkundig, da muss man nicht in einer Menschenrechtsorganisation arbeiten, wenn man das sieht. Stellen wir uns vor, wir würden über Touristen, Touristinnen reden, die man retten müsste, beispielsweise aus Libyen oder aus dem Grenzgebiet zu Tunesien: Wir wären in der Lage als europäische Staaten, ziemlich schnell diese Menschen zu evakuieren. Oder wenn eine Fähre im Mittelmeer anfängt zu brennen oder in Seenot gerät, sind wir in der Lage, diese Menschen zu retten. Das ist gut so, das ist wichtig.

Aber wir wollen, dass die Lebensrettung, die ja ein elementares Gebot der Seefahrt ist, für alle gilt, für die Nato-Schiffe, für die zivilen, und wir brauchen deshalb in Europa, das ist das Mindeste, eine Form von Solidarität. Das heißt, bei der Aufnahme von Bootsflüchtlingen müssen wir insgesamt solidarisch sein, weil es sonst dazu führt, dass kleine Staaten wie Malta beispielsweise sagen: Wenn wir diese Menschen retten, dann sitzen wir auf diesen Flüchtlingen, das wollen wir nicht. Und dementsprechend schwächelt die Seenotrettung.

Wir brauchen eine gemeinsame Flüchtlingsaufnahmepolitik und selbstverständlich auch eine gemeinsame Seenotrettungspolitik. Das ist eine Selbstverständlichkeit für 27 demokratische Staaten, aber leider setzt sich diese Selbstverständlichkeit nicht in der Praxis um, und das muss dringend geändert werden, und ganz klar: Man könnte auch verhindern, dass Menschen diesen tödlichen Weg gehen, indem man durch Flüchtlingsaufnahmeprogramme Menschen aus den Flüchtlingslagern … Beispielsweise in Schuscha, Tunesien, wo mehrere tausend eritreische, somalische, sudanesische Flüchtlinge leben, wo der UNHCR sagt, das sind Flüchtlinge, die müssen gerettet werden, die brauchen eine Perspektive: Deutschland und andere Staaten könnten diese Menschen aufnehmen, dann müssten sie nicht auf die Seelenverkäufer und ihr Leben riskieren.

Timm: Müsste man nicht viel stärker eigentlich noch ansetzen bei der Entwicklungszusammenarbeit, ehemals Entwicklungshilfe? Denn ich meine, so sinnvoll, dass Nordafrika zu uns auswandert, ist es ja für beide Seiten nicht.

Kopp: Das sind zwei Ebenen: Wir reden von Flucht und von Migration. So, im Boot sind alle gleich und alle gleich gefährdet, aber wenn wir über Tunesien reden, geht es natürlich darum, dass man einer jungen Demokratie – und wir hoffen alle, dass es gelingt –, dass man die unterstützt und dass man vor Ort Unterstützung leistet. Das ist die Grundvoraussetzung. Dass man parallel dazu auch Migrations- und Bildungsangebote macht an die junge Generation in Tunesien, ist eigentlich auch eine Selbstverständlichkeit. Das ist denke ich momentan auch unstrittig.

Aber wenn wir über Flüchtlinge reden aus Somalia, aus Sudan, aus Eritrea oder auf der anderen Seite Afghanistan, Irak, dann müssen wir ja auch, klar, über den Einfluss des Westens im Zusammenhang mit der Fluchtursachenbekämpfung reden. Wir haben mehrere Militärinterventionen in diesen Staaten gehabt, wir wissen, dass dadurch nicht die Fluchtursachen bekämpft wurden oder auch nicht die Fluchtbewegungen gemindert wurden, sondern sogar noch verstärkt wurden.

Also von daher müsste man den Aspekt Fluchtursachenbekämpfung, was auch ein zwei Jahrzehnte altes Thema ist, auch von den Konzepten heute neu thematisieren. Wir müssten die Handelspolitik verändern, wir müssten die Agrarpolitik verändern Richtung Afrika, wir bräuchten einen fairen Handel et cetera. Aber bei der Fluchtursachenbekämpfung muss ich momentan sagen: Wir haben seit zwei Jahrzehnten Flucht aus Somalia, wir wünschten, dass Somalia befriedet wird, aber wir sehen, dass in Kenia und anderswo die Flüchtlingslager immer größer werden, und mit tödlicher Sicherheit auch die Hungersnöte wiederkommen. Und von daher ist natürlich der Westen gefragt, ein anderes Konzept zu fahren.

Aber die bestehenden Konzepte sind gescheitert, und die bestehenden Konzepte Richtung Nordafrika, die Europa gewählt hat in den letzten Jahren, sind völlig gescheitert und haben auch so was wie einen moralischen Bankrott produziert. Man hat die Diktatoren unterstützt, hat ihnen viel Geld in die Hand gegeben für die Flucht- und Migrationskontrolle, und hat sich nicht um die Menschenrechte gekümmert. Man hat mit diesen Menschen, mit Herrn Gaddafi kooperiert und hat tausendfach Flüchtlinge in die Folterlager Gaddafis zurückgeschickt. Dieser Ansatz ist natürlich moralisch verkommen, und dieser Ansatz muss heute so geprüft werden, dass wir eine völlig andere Flüchtlings- und Nachbarschaftspolitik in Europa brauchen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.