Europäische Flüchtlingspolitik

Solidarität ist gefragt

Menschen hinter einem Maschendrahtzaun auf der griechischen Insel Lesbos.
Zusammengepfercht auf engstem Raum: Flüchtlinge auf Lesbos. © Getty Images / Milos Bicanski
Ein Kommentar von Martin Gerner |
Seit Jahren vermissen die Mittelmeer-Anrainer Italien, Spanien und Griechenland die Solidarität ihrer EU-Kollegen, wenn es um Flüchtlinge geht. Die Länder dürfen die Last nicht alleine tragen. Schnelle, faire Verteilungsmechanismen sind nötig, meint Martin Gerner.
Auf Lesbos herrscht auch drei Jahre nach dem Abkommen der EU mit der Türkei humanitärer Notstand. Passiert nichts, droht auf dieser größten Insel der Nord-Ägäis, dem Tor der EU nach Osten, mehr Gewalt als bisher schon.
Die humanitäre Katastrophe auf Lesbos hat einen Namen: Moria. Ein Lager von hohen Mauern umgeben. Rund 8000 Flüchtlinge leben hier zusammengepfercht auf engem Raum. Oft mit 14 Personen in einem Container. Ausgerichtet ist Moria für 2000 bis 3000 Menschen.
Krankheiten, Hautausschläge, Krätze sind Alltag. Es fehlt an medizinischer und psycho-sozialer Versorgung. Die Folge sind immer schwerere Depressionen, Selbstmordversuche, auch Gewaltausbrüche unter den Menschen. Für Kinder wie Erwachsene fehlt eine Teilhabe an Bildung. Das Lager liegt zehn Kilometer von der Hauptstadt. "Aus dem Auge, aus dem Sinn", so die Kritiker.
Wer zwei Mal abgelehnt wird mit einem Asylantrag, kommt in Sonderverwahrung, eingekerkert zwischen Wachtürmen und Stacheldrahtzaun. Moria und die EU-Hotspots sind auf Abschreckung ausgerichtet: Es sollen keine weiteren Menschen kommen. Was auf Lesbos passiert, ist aber auch ein Verstoß gegen unsere Werte, die EU-Verfassung.

Lesbos - der Flaschenhals Europas

Auf Lesbos stecken Tausende Menschen fest in wie in einem Flaschenhals: ohne klare Perspektive weiterzukommen, auch nicht integriert zu werden. Die Migranten wollen hier weg – und auch die lokale Bevölkerung ist inzwischen erschöpft, reagiert zunehmend ablehnend.
Wer trägt die Schuld? Seit dem EU-Türkei-Deal kommen Flüchtlinge nur noch vereinzelt auf das Athener Festland. Das geschieht, damit die Wanderung von Flüchtlingen entlang der Balkanroute nicht neu ausbricht.
Deutschland hält sich so die Migranten auf Distanz. Aber ist es auch fair im EU-Maßstab? Versprochen hatte man den Griechen und Mittelmeer-Anrainern eine Entlastung. Auf Lesbos scheint das Gegenteil eingetreten zu sein. Man lässt die Menschen mit den Flüchtlingen allein. Auf Lesbos fehlt es aktuell chronisch an Übersetzern und Sozialarbeitern mit Erfahrung. Europa hat sich hier selbst ein Problem geschaffen, könnte es aber besser.

Faire Aufteilung ist notwendig

Bürgermeister und Behörden auf Lesbos fordern seit Langem eine rasche und faire Aufteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas. Seit Jahren kommt die EU an dem Punkt nicht voran. Angela Merkel ist hier Getriebene, aber auch in der Pflicht. Denn der Gedanke, dass nach Griechenland zurück muss, wer dort seinen Fingerabdruck geleistet hat, funktioniert nicht. Dublin III, das für Einreise und Aufenthalt von Flüchtlingen in erster Linie und bislang ohne flexible Handhabe die Mittelmeerländer in die Pflicht nimmt, ist faktisch seit Jahren tot.
Hinzu kommt: Griechenland, der südliche Balkan sind selbst relative Armenhäuser Europas. Viele Griechen auf Lesbos versuchen selbst, in den Westen zu migrieren: Die Wirtschaftskrise trifft sie unverändert hart. Dazu kommen Gerüchte über angeblichen Missbrauch der Hilfsgelder auf Lesbos – Populisten in Griechenland bekommen so Aufwind.

Europa muss das schaffen

Deutschlands Mitverantwortung muss es deshalb sein, gegenüber Griechenland und den Mittelmeer-Anrainern die versprochene Lastenteilung einzulösen. Die Menschen auf Lesbos und an den EU-Hotspots müssen das Gefühl haben, dass sie nicht allein die Last der Flüchtlinge tragen. Schnelle, faire Verteilungsmechanismen sind jetzt gefragt. Europa muss das schaffen. Sonst wird Europa, wie wir es bisher kannten, zerfallen.

Martin Gerner ist freier Journalist und Regisseur. Er berichtet als Korrespondent und Autor aus Konflikt- und Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens, der arabischen Welt und aus Afghanistan. Zuletzt war er häufiger auf der Balkanroute der Flüchtlinge nach Europa auf Recherche. Sein Dokumentarfilm Generation Kunduz wurde weltweit ausgezeichnet.

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