Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für DIE ZEIT, die taz und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen u.a.: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?". Greffrath lebt in Berlin.
Plädoyer für ein unfreiwilliges europäisches Jahr
Die Einheit Europas hat viele Freunde - und doch ist das Projekt insgesamt in die Sackgasse geraten. Der Autor Mathias Greffrath macht einen sehr einfachen Vorschlag zur Stärkung der europäischen Idee: ein unfreiwilliges Jahr für alle junge Frauen und Männer.
Europa ist vom Zerfall bedroht. Was Not tut, wäre eine "Neugründung Europas von unten". Eine Neugründung von unten, diese Formulierung stand über einem Manifest, das vor fünf Jahren von dem Soziologen Ulrich Beck und dem Politiker Daniel Cohn-Bendit verfasst wurde. Es fand damals hunderte von Befürwortern, darunter Politiker wie Jacques Delors und Helmut Schmidt, Intellektuelle wie Jürgen Habermas und Navid Kermani. Das Manifest propagierte die Idee eines europaweiten sozialen Jahres, die Allianz-Kulturstiftung hat dann ein Pilotprojekt dafür finanziert. An dessen Ende weiß man vor allem eines: Freiwilligendienste sind klein, finanziell mager ausgestattet, und das Brüsseler Antragswesen entmutigend.
Ein Sozialjahr für alle
Aber gerade angesichts der Krise Europas muss man vielleicht einfach ein wenig größer denken: ein Sozialjahr, in dem tendenziell alle junge Frauen und Männer in sozialen, ökologischen, medizinischen, sportlichen oder kulturellen Bereichen arbeiten und Erfahrungen sammeln - und zwar in der Regel einem anderen als ihrem Herkunftsland: ich finde das eine faszinierende Idee. Es würde Millionen jugendlicher Arbeitsloser, vor allem im Süden Europas, aber auch in den verfestigten Unterschichtsmilieus der Metropolen wenigstens temporär aus der Untätigkeit holen, ihnen Basisqualifikationen vermitteln und ihr Selbstwertgefühl stärken. Es würde den Horizont derer erweitern, die vor einer Lehre oder einem Studium ihre Fähigkeiten und Interessen erproben wollen. Es könnte kommunale und soziale Institutionen, die unter Finanzknappheit leiden, entlasten. Es würde helfen, Millionen von Migranten, zumeist junge Männer und Frauen, zu Bürgern Europas zu machen.
Taten schaffen Europäer
Und europäische Bürger, die brauchen wir, weil viele Probleme - ökologische, ökonomische, soziale - nur noch transnational zu lösen sind. Zum Bürger aber wird man, indem man sich als solcher erfährt - und das geschieht nicht im Kopf, sondern in praktischem Tun.
Deshalb ist das größte Manko der bisherigen Freiwilligendienste - gerade ihre Freiwilligkeit. Die Initiativen erreichen im Wesentlichen diejenigen Jugendlichen, die ohnehin schon europäisch denken und weltoffen sind - Beispiel: Erasmus-Studenten - aber kaum die jungen Europäer mit Haupt- oder Realschulabschluss. Wie wäre es also, wenn man ein allgemeines und obligatorisches Jahr der Bürgerarbeit als integralen Teil der Bildung zwischen Schule und Beruf ins Visier nähme, als letztes Schuljahr, europaweit und grenzübergreifend. Als letztes Schuljahr - das würde auch alle Bedenken über Zwangsdienst, verlorene Jahre etc. vorab entkräften.
Millionen Junge werden Bürger Europas
Zu Ende gedacht hieße das: Jedes Jahr würden allein in der Eurozone mehr als zwei Millionen junge Menschen grenzübergreifend tätig werden. Das würde Politik, Verwaltungen und Zivilgesellschaften vor gewaltige organisatorische und finanzielle Herausforderungen stellen. Über den Daumen gepeilt, müsste der EU-Haushalt von einem Prozent des europäischen Sozialprodukts auf anderthalb Prozent erhöht werden. Aber wäre das ein zu hoher Preis dafür, dass Millionen junger Europäer prägende soziale Erfahrungen machen, und zu wirklichen Bürgern Europas würden? Eines Europas, in dem junge Iren in Rumänien Kinder betreuen, Spanierinnen in Deutschland Schulen renovieren, Dänen in Portugal Ölbäume pflanzen, Deutsche in griechischen Bibliotheken den Nachtdienst versehen, Schotten den süditalienischen Computeranalphabeten auf die Sprünge helfen, Holländer in Albanien Solardächer montieren oder Italiener in Finnland alte Menschen betreuen - das wäre wirklich eine Neukonstitution Europas von unten.
Sicher, es wäre ein gigantisches Projekt, aber wäre es deswegen illusionär? Es wäre Geld, das fruchtbar angelegt wäre, und das in jeder Hinsicht: Ein Drittel der Erasmus-Studenten hat seinen Lebenspartner im Ausland gefunden. Stellen wir uns mal das in großem Maßstab vor. Ein Sozialdienst allein in der Eurozone könnte nach Schätzungen der EU-Statistiker jedes Jahr 400.000 transnationale Babys nach sich ziehen. Jedes Jahr eine halbe Million Europäer, und das von der Zeugung an.