Sophie Pornschlegel ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Analystin beim European Policy Centre, einem Brüsseler Thinktank. Dort beschäftigt sie sich mit Europapolitik, Zivilgesellschaft, politischer Teilhabe und Demokratie in Europa. Sie ist ebenfalls Policy Fellow bei der Denkfabrik "Das Progressive Zentrum".
Ein Phänomen der deutschen Oberschicht
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Besonders in Deutschland definiert man sich lieber als europäisch. Das ist zwar verständlich, aber falsch und elitär, meint Sophie Pornschlegel. Sie plädiert dafür, stattdessen die Vorstellung davon zu weiten, wer oder was "deutsch" ist.
Wer sich in unserem Land als europäisch identifiziert, hat meistens einen Hochschulabschluss, spricht mindestens eine Fremdsprache und hat bereits im Ausland gelebt – vielleicht sogar dank des Erasmus-Programms, also des europäischen Austauschprogramms für Studierende und Auszubildende.
Europäische Identität ist exklusiv
Genau diese Kriterien machen aus der europäischen Identität eine exklusive Zugehörigkeit. Sie vertiefen die Kluft zwischen denen, die sich als Deutsche verstehen, und denen, die den Geldbeutel haben, um sich zusätzlich europäisch zu fühlen.
Interessanterweise identifizieren sich gerade die als europäisch, die sich um die Polarisierung der Gesellschaft sorgen. Doch gerade diese künstlichen Zuschreibungen – 'Ich bin Europäer, du bist einfach nur Deutsch' – verstärken die Spaltungen in unserem Land.
Ein Zusammenschluss europäischer Völker
So schwer es den Deutschen auch fällt: Wir sind und bleiben vorrangig deutsche Bürgerinnen und Bürger, die einer nationalen politischen Gemeinschaft angehören. Über den Reichstag steht nicht "dem europäischen Volke".
Das steht nicht mal in den EU-Verträgen: Dort heißt es, dass wir ein "Zusammenschluss der europäischen Völker" sind. Das spiegelt sich auch in der mangelnden Solidarität zwischen Europäerinnen und Europäern: Es gibt kaum politische Bestreben von Bürgerinnen und Bürgern, die über nationale Grenzen hinausgehen.
Was ist dann mit der gemeinsamen europäischen Geschichte, den gemeinsamen Grundwerten, der gemeinsamen EU-Staatsbürgerschaft? Natürlich gibt es diese gemeinschaftlichen Merkmale, aber sie bleiben der nationalen Zugehörigkeit weiterhin untergeordnet.
Deutschland und Frankreich haben es nur mit großer Mühe geschafft, ein gemeinsames Geschichtsbuch herauszugeben. Wir schauen seit einem Jahrzehnt dabei zu, wie zunächst in Ungarn und nun auch in Polen, Slowenien und Bulgarien die angeblich so wichtigen Grundwerte mit Füßen getreten werden, und unternehmen nichts.
Schließlich ist die EU-Staatsbürgerschaft zwar in den EU-Verträgen verankert, aber in der Praxis bedeutet sie außer Freizügigkeit wenig. Sogar das proeuropäische Deutschland beschränkte 2016 den Zugang zu Sozialleistungen für EU-Ausländerinnen und -Ausländer – so viel zu europäischer Solidarität.
Europäische Identität als Flucht aus dem deutschen Unbehagen
Trotz der mangelnden Grundlage für eine gemeinsame Identitätsbildung gibt es keine andere Nation, die sich so sehr mit Europa identifiziert wie die deutsche. Meine Vermutung ist folgende: Viele möchten sich nicht länger mit ihrer historisch stark belasteten Identität auseinandersetzen. Sie zeigen ihre Ablehnung eines ethnisch-völkischen Nationalismus durch ihre europäische Identität.
Doch dieser verständliche Widerstand gegenüber dem Nationalen ist problematischer, als man es zunächst vermuten möchte. Denn diese vermeintliche europäische Identität ist vor allem eins nicht: europäisch. Vielmehr ist damit eine weltoffene deutsche Identität gemeint.
Dabei übersehen wir auch gerne, dass jede neue Identitätsbildung auch die Gefahr des Nationalismus birgt. Bei einer regionalen Identität verhält es sich nicht anders als mit der nationalen Identität.
Ist die europäische Identität nicht viel eher ein Ziel? Sollten wir nicht für einen europäischen Verfassungspatriotismus einstehen? Oder noch besser: eine europäische Identität über die EU und ihre technokratische Bürokratie hinaus? Warum nicht gleich eine globale Weltbürgerschaft?
Deutsche Identität offener gestalten
So attraktiv diese Konzepte in deutschen Ohren auch klingen mögen, sie sind nicht nur realitätsferne Fiktionen, sondern blenden das eigentliche Problem aus: die apolitische, rein kulturnationale Konzeption der deutschen Identität, die weiterhin bestehen bleibt.
Bis zum Jahr 2000 galt in Deutschland das "Abstammungsprinzip", deutsch sein konnten nur Personen mit deutschen Eltern. Auch heute ist in Deutschland Mehrstaatigkeit prinzipiell nicht erlaubt – man kann ja keinen zwei Gemeinschaften "treu" sein. Exklusiver kann eine politische Identität kaum werden, und diese Auslegung ist mit einer umfassenderen EU-Staatsbürgerschaft nicht kompatibel.
Statt sich in performativen Identitätszuschreibungen zu verlieren, sollten proeuropäische Kräfte daran arbeiten, die deutsche Identität inklusiver und offener zu gestalten. Nur so können wir langfristig eine europäische Solidargemeinschaft aufbauen.