Breslau-Wroclaw, Stadt der subversiven Zwerge
Breslau–Wroclaw wird "Europäische Kulturhauptstadt" des Jahres 2016. Diese besondere - deutsch, polnisch und ukrainisch - geprägte Stadt habe das Zeug, dem Titel neue Glaubwürdigkeit zu verschaffen, meint der Berliner Reiseschriftsteller Marko Martin.
Erinnern, um zu vergessen? Nicht wenige der "Europäischen Kultur-Hauptstädte" der letzten Jahre waren genau in diese Falle getappt, gestellt von Brüsseler Subventionsausschüttern und jener Armada windiger "Event"-Macher, ohne die ohnehin nichts läuft.
Bedenkt man diese deprimierende Vorgeschichte, weiß man umso mehr zu würdigen, dass Breslau, dass Wroclaw ehrlich mit sich und seiner Geschichte umgeht und eben keine böhmischen oder Potemkinschen Dörfer entstehen lässt.
Nicht in dieser Stadt, deren Gäste bereits im Mittelalter die gute Regierungsführung der Ratsherren belobigten und die Kaufleuten seit jeher als Ostwest-Drehscheibe galt. Vor allem aber: Das historische Gedächtnis, von Polen gleichermaßen wie von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen geprägt, ist ausdifferenziert genug, dem event-seligen Kult um die "Kultur" gehörig zu misstrauen.
Hier nämlich erinnert man sich noch gut an das kommunistische Getöse um "Frieden und Kultur", das umso lauter geworden war, je mehr die allgemeine Lebensqualität absackte. Das Reden vom Guten, Edlen und Schönen nützt nichts, ja macht sich beliebig dienstbar, wenn es zur Hülle wird – einst für totalitäre Ideologie, heute für oberflächliche Selbstinszenierung.
Stadtmuseum dokumentiert kollektives Gedächtnis
Nur jenseits dessen ist ein adäquates Erinnern möglich, wie etwa das Lebenswerk von Maciej Lagiewski zeigt.
Gegen den Willen der herrschenden Kommunisten hatte der Historiker bereits in den siebziger Jahren begonnen, den jüdischen Friedhof der Stadt, der von den Nazis zerstört worden war, zu restaurieren. Immerhin befindet sich hier auch das Grab des legendären sozialdemokratischen Arbeiterführers Ferdinand Lassalle.
Heute als Direktor des Städtischen Museums hat er das Deutsch-Jüdische ebenso selbstverständlich präsent gehalten wie das Polnische, dazu die antisemitische Vertreibungswelle von 1968 und der antikommunistische Widerstand ab Mitte der siebziger Jahre.
Gern weist Maciej Lagiewski uns, seine deutschen Gäste, auf die Ironie der Geschichte hin. Da es in der Bundesrepublik lange als politisch inkorrekt galt, an die deutsche Kulturprägung der heute polnischen Gebiete zu erinnern, blieb auch das Schicksal der Breslauer Juden in der Forschung eher unterbelichtet, fühlten diese sich doch vor allem als assimilierte Deutsche.
In den Memoiren der gebürtigen Breslauer Fritz Stern, Walter Laqueur und Günther Anders ist von eben dieser Ambivalenz die Rede, die mittlerweile ins kollektive Gedächtnis der Stadt eingegangen ist. Wenn man durch Wroclaw flaniert, stellt sich deshalb nirgendwo das Gefühl ein, eine aufgehübschte Kulisse zu erwandern.
Bronze-Zwerge sind mehr als Touristen-Gaudi
Dafür sorgen schon die allerorten aufgestellten Bronze-Zwerge, die weit mehr sind als Touristen-Gaudi. Als Symbol der "Orangen Alternative", einer kreativ-subversiven Bürgerrechtsbewegung, paralysierten sie in den achtziger Jahren immer wieder die tumbe Staatsmacht mit demonstrativen Slogans wie "Für Freiheit und Zwerge!" oder "Es lebe Lenin und der kulturelle Frieden!"
Und die jüngere Generation? Sie spricht in den zahlreichen Lounge-Bars und Clubs den Deutschen sogleich auf das Aktuelle an: Und was tust du gegen Putins Expansionskurs, wie siehst du die Zukunft der Ukraine?
Nicht wenige von ihnen tun etwas, besuchen Lemberg, also jenes Lwiw, aus dem einst ihre Urgroßeltern nach Breslau vertrieben worden waren - in die leerstehenden Häuser der Deutschen. Dort versuchen sie, der ukrainischen Zivilgesellschaft beizustehen, setzen das Beispiel guter Nachbarschaft der Gefahr neo-nationaler Mythen entgegen.
Nicht die viertgrößte polnische Stadt wird 2016 EU-weit geehrt, sondern es ist Breslau-Wroclaw, das dem jährlich wandernden Titel "Europäische Kulturhauptstadt" neue Glaubwürdigkeit verschafft.
Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller in Berlin. Soeben erschien "Madiba Days. Eine südafrikanische Reise" (Wehrhahn Verlag).