Europäische Kulturhauptstadt 2016

Wie aus Breslau Wroclaw wurde

Stadtansichten von Breslau
Breslau - Europäische Kulturhauptstadt 2016 © picture alliance / dpa
Von Martin Sander |
Breslau hat eine bewegte Geschichte - auch eine deutsche Geschichte. Die war lange Zeit eine unliebsame Erinnerung und wurde verdrängt, als aus Breslau Wroclaw wurde. Doch heute besinnen sich Stadthistoriker wieder darauf – und zeigen Besuchern die deutschen Spuren in der Stadt, die nun zu Polen gehört.
Das Odertorviertel ist ein Teil der nördlichen Innenstadt von Breslau. Mit seinen Bürgerhäusern, Arbeitermietskasernen und Industrieanlagen aus dem 19. Jahrundert erinnert das Viertel an Berlin-Moabit oder Kreuzberg. Mittendrin steht heute ein Heizkraftwerk mit hohen Betonschornsteinen. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es hier einen Vergnügungspark mit Speise-, Ball- und Billardsälen, das Schießwerder. Im Krieg diente das Schießwerder den Deutschen als Sammellager für die jüdischen Bürger Breslaus.

Programmtipp: Alle Sendungen an unserem Thementag Breslau am Freitag, 17. Juni 2016

"Die Juden mussten zu Fuß 500 oder 600 Meter bis zum Bahnhof Odertor laufen. Von dort wurden sei nach Osten deportiert. Auf demselben Bahnhof am Odertor kamen 1945 auch die ersten polnischen Siedler an, Menschen, die nun hier in Wrocław ihr Leben einrichten wollten",
sagt Joanna Hytrek-Hryciuk, Historikerin, geboren 1977 in Breslau. Die ein halbes Jahrhundert zuvor in Posen geborene Schriftstellerin Joanna Konopinska kam 1945, gleich nach der deutschen Kapitulation, als junge Frau nach Breslau und notierte:
Zitat:
Sitze am Tisch in einem fremden Haus in einer fremden Stadt. Ich gebe mir Mühe, unsere Reise und die ersten Eindrücke genau zu schildern. Einen Kilometer vor dem Bahnhof kam der Zug zum Stehen. Die Weiterfahrt war nicht möglich, weil die Brücke über den Fluss zerstört war.Nur mit Schwierigkeiten kamen wir aus dem Waggon heraus. Über der Stadt hing eine riesige Staubwolke, die Luft war von Brandgeruch durchdrungen.
Vor einem zerstörten runden Kiosk lag eine gelbe Straßenbahn mit zwei Anhängern auf den Schienen. Überall lagen Scherben herum, Lumpen, Müll, Papier, mitten drin eine geöffnete Damenhandtasche, neben Kinderfotos und eine Aufnahme eines Offiziers in deutscher Uniform.

Die ersten Briefträger waren noch Deutsche

Breslau war bei Kriegsende zu 70 Prozent zerstört, das Odertorviertel aber kaum betroffen. Der Bahnhof Odertor war als erster in der Breslauer Innenstadt wieder in Betrieb, die Gleise repariert. Auch deshalb diente das Odertorviertel als Anlaufstelle für die neuen polnischen Siedler, zunächst als Enklave in der noch mehrheitlich deutschen Stadt.
"Das ist die Straße der Nationalen Einheit, die frühere Matthias-Straße. Hier wurde das erste polnische Postamt eröffnet."
Der Stadthistoriker Tomasz Kulik führt durch die Straßen des Odertorviertels.
"Die ersten Briefträger waren noch Deutsche. Sie trugen ihre alte Uniform aus der Vorkriegs- und Kriegszeit. Hier wurde auch die erste polnische Telefonzentrale eingerichtet mit 20 Anschlüssen. Das deutsche Netz war ja auch kaputt."
Vier Monate wurde um Breslau gekämpft, nachdem Hitler die Stadt im Herbst 1944 zur Festung erklärt hatte. Die Rote Armee erreichte Breslau im Januar 1945. Der NS-Gauleiter Karl Hanke ließ Männer zwischen 16 und 60 dienstverpflichten. Sie sprengten Kirchen, Villen und Bibliotheken für ihre Verteidigungsstellungen, zerstörten fast mehr als die Kriegsgegner. Sie legten sogar einen Flugplatz mitten in der Stadt an. Es hieß, der einzige, der von dort wegflog, war Gauleiter Hanke.
Altstadt von Breslau
Altstadt von Breslau© dpa-Zentralbild
Kurz darauf, am 6. Mai, kapitulierte Breslau. Schon vorher hatten die polnischen Machthaber einen neuen Bürgermeister ernannt, den Krakauer Wissenschaftler und Sozialisten Boleslaw Drobner. Drobner residierte nun im Odertorviertel, zunächst noch Tür an Tür mit einem deutschen Bürgermeister, einem Antifaschisten, den die Sowjets ernannt hatten.
"Sie hatten beide das Sagen, abgesehen von den sowjetischen Armeeführern, die formell und faktisch über alles entschieden: Wer das Recht besaß, sich der Lebensmittelvorräte zu bedienen, des Mehls und so weiter…"
erklärt Tomasz Kulik die Machtverhältnisse, eine stets angespannte Dreiecksbeziehung in jenen ersten Wochen und Monaten nach Kriegsende.
"Drobner hatte vor, in Breslau ein eigenes System aufzubauen. Er wollte dabei völlig auf den Bargeldverkehr verzichten und Arbeitsleistungen in Waren umtauschen lassen. Er war ein Visionär, aber die Menschen waren darauf nicht vorbereitet."
Zwar erinnert bis heute die "ulica Drobnera" im Odertorviertel an den ersten polnischen Bürgermeister. Doch mit seinen radikalen Ideen eckte er überall an – und musste sich bereits im Juni 1945 wieder in seine Heimatstadt Krakau zurückziehen.

Ein deutsch-polnisches Breslau war nicht das Ziel

Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, was mit den rund 200.000 Deutschen in der Stadt geschehen sollte. Ihr Schicksal wurde erst am 2. August 1945 besiegelt. An diesem Tag gaben die Westmächte nicht nur der von Stalin geforderten Oder-Neiße-Grenze als künftige Westgrenze Polens unter dem Vorbehalt eines späteren Friedensvertrags ihre Zustimmung. Im Potsdamer Abkommen billigten die USA und Großbritannien auch die Vertreibung der Deutschen aus dem eroberten Territorium, um Platz für Polen zu schaffen.
Doch der Austausch der Bevölkerung nahm Monate und Jahre in Anspruch. Auch im Sommer 1946 gab es in Breslau mehr Deutsche als Polen. Erst im Laufe des Jahres 1947 verschwanden die Deutschen allmählich und 1948 fast ganz. Rund zwei Jahre hatte man zusammen in der Stadt gelebt.
Tomasz Kulik:
"Die Deutschen arbeiteten hier und halfen den Polen dabei, die Arbeitsbetriebe wieder in Gang zu bringen. Nur: Als Lohn oder auch Proviant erhielten sie nur ein Drittel dessen, was die Polen bekamen. Die polnische Verwaltung begründete das mit der historischen Verantwortung der Deutschen."
"Die Deutschen waren jetzt die Unterlegenen. An ihnen entluden die Polen all das, was sich bei ihnen während der deutschen Okkupation aufgestaut hatte. Dennoch gab es auch ein nachbarschaftliches, auch familiäres Miteinander. Die Stadtverwaltung notierte für 1946/47 die Schließung von gemischten Ehen. Das war gar nicht so selten",
betont die Breslauer Historikerin und Umsiedlungsexpertin Malgorzata Ruchniewicz.
Dennoch: Ein deutsch-polnisches Wroclaw sollte und konnte es nicht geben. Das war allen Beteiligten klar.
Das Alte Rathaus am Marktplatz in Breslau
Das Alte Rathaus am Marktplatz in Breslau.© dpa
Robert Żurek:
"Die Polen haben den Zweiten Weltkrieg so interpretiert, dass sie beinah der Vernichtung entgangen sind. Es war eine absolut traumatische Erfahrung. Es war die Massenerfahrung einer Nation, die einfach behauptet hat, den Eindruck hatte nach dem Zweiten Weltkrieg: Unsre Nachbarn im Westen, das ist ein böswilliges Volk, das uns vernichten möchte. Und mit diesem Volk möchten wir nichts zu tun haben."
Robert Zurek, Historiker mit deutsch-polnischem Schwerpunkt, leitet die Zweigstelle des polnischen Instituts für nationale Erinnerung in Breslau.
"Aber auch aus deutscher Sicht waren die Voraussetzungen ganz schlecht für ein Zusammenleben. Wir denken in heutigen Kategorien, und es scheint uns möglich zu sein, dass Leute im Dialog irgendeine Kompromisslösung finden können. Wenn man die Quellen der deutschen Zeugen liest, dann merkt man, dass sie auch an keinem Kompromiss mit Polen interessiert waren."

Zankapfel in der Beziehung beider Länder

Die Oder-Neiße-Linie als neue Grenze zwischen Deutschen und Polen und die damit verbundene ethnische Flurbereinigung treffen auf breite Zustimmung in der polnischen Nachkriegsgesellschaft. Nicht nur die Kommunisten waren dafür. Auch die Vertreter der Katholischen Kirche, die sich dem neuen kommunistischen Staat sonst in vielerlei Hinsicht widersetzten, dachten so – und die extreme nationalistische Rechte Polens ohnehin. Einzig die Vertreter der polnischen Exilregierung in London sahen es anders.
Die Exilregierung hatte im Krieg mit ihrem verlängerten Arm in Polen, der Heimatarmee, gegen die Deutschen gekämpft. Zugleich aber hatte sie sich gegen sowjetische Expansionspläne auf Kosten Polens zur Wehr gesetzt. In der Oder-Neiße-Grenze witterte die Exilregierung eine Falle, die Stalin für Polen aufgestellt hatte.
"Man wusste, dass es ein Zankapfel in den deutsch-polnischen Beziehungen werden wird. Und man wollte es auch deshalb nicht, weil man auf die polnischen Ostgebiete nicht verzichten wollte. Also weitgehende Westausdehnung hätte natürlich ein Argument für die Sowjets dargestellt: Da braucht ihr die Ostgebiete nicht. Und letztlich war es auch ein Vorwand, diese Westausdehnung, für die radikale Westverschiebung des polnischen Staats."
Doch die Westverschiebung, in Potsdam abgesegnet, war spätestens seit Sommer 1945 Realität. Westverschiebung bedeutete: Polen musste im Osten auf die Hälfte seines Vorkriegsterritoriums verzichten, darunter die historisch bedeutenden Zentren von Wilna und Lemberg. Diese Gebiete annektierte die Sowjetunion. Als Gegenleistung durfte der polnische Staat die Deutschen aus seinen neuen Westgebieten vertreiben.
"Hier und dort gab es diesen furchtbaren Schmerz des Heimatverlustes, dass man das aufgeben musste, was man liebte und wo man aufgewachsen war. Hier und dort trafen die Umsiedler auf wenig Zuneigung, um nicht zu sagen auf Feindschaft."
erklärt der an der Universität Breslau lehrende Historiker und Umsiedlungsexperte Grzegorz Hryciuk. Hyrciuk beleuchtet Gemeinsamkeit und Unterschiede bei der Zwangsumsiedlung von Polen und von Deutschen.
"Die Deutschen trafen auf eine starke Feindschaft, nicht nur von Seiten der Obrigkeit, sondern auch der neuen polnischen Bevölkerung. Im Falle der Polen in den Ostgebieten – ich spreche hier über das polnisch-ukrainische Grenzland – da war die Lage insofern kompliziert, da diese polnischen Umsiedler in der Sowjetukraine nun die Vertreter eines befreundeten, mit der Sowjetunion verbündeten Landes waren. Die Polen reisten also als Vertreter eines verbündeten Volkes aus. Die Deutschen hat man dagegen als völlig feindliche Gruppe vertrieben, obendrein als Verlierer des Krieges.
Es gab Unterschiede: Die Deutschen durften nur Handgepäck mitnehmen, die Polen immerhin ihren beweglichen Besitz. Im Falle von Dorfbewohnern waren das zwei Tonnen. Das konnte eine Kuh sein, ein Pferd. Auch wenn die Sowjetbehörden alles taten, damit die Polen so schnell wie möglich gingen und so viel wie möglich zurückließen: Etwas Inventar durften sie mitnehmen."

Viele Neu-Bürger kamen aus dem Osten des Landes

Die neuen polnischen Bürger Breslaus kamen nur zu einem Viertel aus dem Osten des Landes, vor allem aus dem alten Ostgalizien, das nun Teil der Sowjetukraine geworden war. Weitaus mehr Neubreslauer stammten aus Zentralpolen, aus der Gegend um Posen, aus Krakau oder aus Oberschlesien. Dennoch waren es gerade die Zuwanderer aus Ostgalizien, zumal aus der alten Metropole Lemberg, die dem polnischen Breslau ihren Stempel aufdrückten.
Es waren die Lemberger, die nach der Vertreibung der Deutschen in viele für das Großstadtgefüge bedeutende und sichtbare Rollen schlüpfen, als Briefträger, Straßenbahnschaffner, Beamte und Wissenschaftler.
Adolf Juzwenko:
"Man hatte die polnischen Eliten gezwungen, ihre Arbeitsplätze, ihre Universitäten im Osten aufzugeben. Nun schufen sie neue Zentren der polnischen Wissenschaft in den neuen Westgebieten."
Nachtansicht der alten Bibliothek Ossolineum in Breslau.Breslau ist Europäische Kulturhauptstadt 2016.
Nachtansicht der alten Bibliothek Ossolineum in Breslau.© picture alliance/dpa/Maciej Kulczynski
Der Historiker Adolf Juzwenko kam 1939 bei Zaleszczyki zur Welt, im damaligen polnischen Südosten, der 1945 an die Sowjetukraine fiel. Seine Familie wurde nach Niederschlesien umgesiedelt. Er kam in den 50er Jahren zum Studium nach Breslau.
"Die Geisteswissenschaftler hatten in Breslau allerdings ein Problem: die Quellen, die Literatur. Es gab nur deutschsprachige Arbeiten. Bücher sind universal, aber wenn wir die Geschichte Polens schreiben wollen, müssen wir Zugang zu polnischen Quellen haben, zur polnischen Literatur. Ohne das geht es nicht."
Im Zuge der Westverschiebung wurden nicht nur Menschen umgesiedelt, sondern auch Kulturgüter, darunter eine der größten polnischen Bibliotheken – das Ossolineum, seit 1990 geleitet von Adolf Juzwenko.
"Das Ossolineum ist ungefähr so in Breslau gelandet wie ich."
Will heißen, das Ossolineum geriet auf Umwegen und unter großen Mühen aus Lemberg in den neuen Westen. Einige Bestände hatten noch die deutschen Besatzer gen Westen verschleppt. Andere mussten die Polen den neuen Sowjetbehörden abringen. Ihre Mühe galt einem Heiligtum der polnischen Nationalkultur. 1817 hatte der Aristokrat, Schriftsteller, Politiker und Sammler Jozef Maksymilian Ossolinski die Bibliothek in einem ehemaligen Lemberger Karmeliterkloster gegründet. Damals war Polen eine Nation ohne Staat, einverleibt von seinen Nachbarn Österreich, Preußen und Russland. Ossolinski wollte das kulturelle Gedächtnis des untergegangenen polnischen Reichs für eine bessere Zukunft aufbewahren.
"Die Bestände stammten aus der ganzen Welt. Denn die Polen waren ja damals über die ganze Welt verstreut. Das Ossolineum war eine Frucht des polnischen Altruismus. Wie hätte man es denn in Lemberg zurücklassen können? Es war doch ein Teil unserer Seele, unseres Inneren. So entstand die Kampagne, es hierher zu bringen."
Das Lemberger Ossolineum fand seinen Platz 1947 im ehemaligen deutschen Matthiasstift-Gymnasium im Zentrum von Breslau. Das Herz der polnischen Kultur war in einen neuen Körper verpflanzt worden. Die kommunistischen Machthaber wandelten die herausragende Privatsammlung in ein Staatsinstitut um. Um die polnische Identität von Breslau zu begründen, entwarfen sie zudem ein eigene Ideologie, das Piasten-Konzept von den wiedergewonnenen urpolnischen Gebieten.
"Die Deutschen, jedenfalls die Deutschen in den westlichen Besatzungszonen, durften nach dem Zweiten Weltkrieg sagen: Wir wurden vertrieben. Wir durften nicht sagen: Wir wurden vertrieben. Wir waren – so die Propaganda – freiwillig in unsere uralten Piasten-Gebiete zurückgekehrt."

Der Beginn als slawische Marktstadt

Die Piasten waren ein mittelosteuropäisches Herrschergeschlecht gewesen, das um die erste Jahrtausendwende erstmals einen polnischen Staat errichtete. Piasten-Fürst Mieszko hatte 966 das Christentum angenommen. Sein Sohn Boleslaw der Tapfere hatte als erster die polnische Königskrone getragen.
Wratislawia oder Wortizlawa, wie Breslau damals hieß, war eine slawische Markstadt im Besitz der Piasten. Dorthin strömten im Laufe des Mittelalters immer mehr deutschsprachige Bürger. Als das Piastenreich im 14. Jahrhundert unterging, kam Breslau in die Hände ungarischer, böhmischer und habsburgischer Regenten - bis 1742 Preußen die Macht eroberte. Von nun an dominierte das Deutsche in Sprache, Kultur und bald auch in der Architektur. In Breslau, der größten Stadt Ostdeutschlands, lebten vor 1945 nur ein paar tausend Polen.
Robert Zurek:
"Kulturell waren es weitgehend fremde Gebiete, mit denen die Polen seit Jahrhunderten nichts zu tun hatten, und jetzt galt es für die Kommunisten plötzlich, das so zu verkaufen, als ob es ein Vorteil wäre für die Bevölkerung. Und das haben sie konsequent getan."
Und zwar mit Hilfe der Piasten-Ideologie, in der die neuen polnischen Siedler im Westen kein fremdes Land betraten, sondern in urpolnisches Gebiet zurückkehrten, über das einst die Piasten geboten hatten, bevor sich die Deutschen hineindrängten. Diese Ideologie borgten sich die Kommunisten nach 1945 bei der nationalistischen Rechten der Vorkriegszeit aus, erläutert Robert Żurek:
"Sie haben die alte Ideologie der polnischen Nationaldemokraten genutzt, nämlich die Idee des piastischen Polens der ehemals polnischen Gebiete, die von den Deutschen germanisiert und die nun im Zuge der historischen Gerechtigkeit wiedergewonnen wurden. Also durch diese massive kommunistische Propaganda wurde sie tatsächlich immer populärer."
Tomasz Kulik:
"Wir stehen hier in der Straße der nationalen Einheit vor der alten Schultheißbrauerei. Nach dem Krieg hieß sie Brauerei Piast – entsprechend der Legende, dass Breslau immer eine Stadt der Piasten war. Auch in allen Details, in der Architektur, an ganz unterschiedlichen Häusern hat man das Polnische herausgestellt."
Am Wiederaufbau des zerstörten deutschen Breslau wirkten Fachleute aus allen Teilen Polens mit. Einige von ihnen wurden erst an der nun polnischen Universität der Stadt ausgebildet.
Das Nationale Musikforum Breslau
Moderne Architektur in Breslau: Das Nationale Musikforum Breslau © Łukasz Rajchert
Olgierd Czerner:
"Ich kam 1947 nach Breslau – und bestand die Aufnahmeprüfung am Fachbereich Architektur. Für uns Studenten hatte man zwei Straßenzüge im Stadtteil Bischofswalde, Biskupin, reserviert – Arbeiter und Beamtensiedlungen mit den immer gleichen Reihenhäusern, die noch heute dort stehen."
Olgierd Czerner, geboren 1929 im polnischen Ostoberschlesien, arbeitete seit 1951 an der Technischen Hochschule von Wroclaw. 1955 bis 1965 war er Chefkonservator der Stadt und so am Wiederaufbau der zerstörten Altstadt beteiligt.
"Das Programm für die Rekonstruktion der Breslauer Altstadt war eigentlich in und für Warschau ausgearbeitet worden. Es hieß darin, dass wir den Wiederaufbau so gestalten sollten, wie uns die Stadt aus der Zeit vor der deutschen Besatzung in Erinnerung geblieben war. Aber in Breslau gab es niemanden mehr, der uns sagen konnte, wie die Stadt einmal ausgesehen hatte.
Das schöne, alte Breslauer Rathaus aus dem Mittelalter stand. Deshalb plante man nun, die zerstörte Umgebung dieses Rathauses am Ringplatz wiederherzustellen. Nur – anders als in Warschau – wusste niemand genau, wie das ausgesehen hatte. Da entdeckten wir bei den Wiederaufbauarbeiten tief in den Kellern Überreste von Steinhäusern aus dem 13. und 14. Jahrhundert, der Zeit der polnischen Piasten. Solche Häuser, mit romanischen Säulen, habe ich freigelegt. Die Deutschen hatten vor dem Krieg gar nichts von ihrer Existenz gewusst."

Preußische Spuren: Blüchers Schnurrbart

Romanische und gotische Elemente aus dem Mittelalter galten beim Wiederaufbau als Hinweis auf die polnischen Ursprünge Breslaus. Olgierd Czerner relativiert zurückblickend:
"Natürlich kann man nicht genau sagen, ob die Leute, die hier vor langer Zeit einmal den Boden parzelliert haben, Polen oder Deutsche waren. Sie verwirklichten einfach die Wünsche ihrer Fürsten und Bauherren. Also kann man auch nur schwer von einem polnischen Wiederaufbau der Stadt sprechen."
Dennoch: Der Wiederaufbau des alten Breslau mit wunderschönen Beispielen der Gotik und Renaissance wäre wohl im kommunistischen Nachkriegspolen so kaum möglich gewesen, hätte man ihn nicht als Wiederaufbau einer ganz und gar polnischen Stadt der Piasten-Zeit dargestellt.
Das Interesse am Erhalt von Denkmälern und historischer Bausubstanz aus dem 18. und 19. Jahrhundert, der preußisch geprägten Epoche, war demgegenüber denkbar gering. Standbilder von Königen, Feldherren und Künstlern aus dieser Zeit hatten keine Daseinsberechtigung mehr. Sie wurden, sofern sie den Krieg überstanden, bald danach beseitigt – als Baustoff benutzt, eingeschmolzen, als Ware auf den Schwarzmärkten feilgeboten.
Nur manchmal wurde etwas übersehen.
Tomasz Kulik:
"Wir stehen hier neben einer Piroggen-Bar, in deutscher Zeit war das die Kneipe "Zum Marschall Blücher". Nach diesem preußischen und antipolnischen Feldherrn war die ganze Straße benannt."
Tomasz Kulik deutet auf ein wilhelminisches Mietshaus in schlechtem Zustand.
"Und Sie sehen hier seine Figur über dem Eingang, mit dem hochgebürsteten Schnurrbart, streng auf die Straße blickend. Das ist niemand anderes als Blücher. Die Menschen hier würden sich aber die Hand dafür abschlagen lassen, dass es sich um den polnischen Fürsten Jozef Poniatowski handelt. Stellen Sie sich mal vor, hier wo der polnische Stadtpräsident Boleslaw Drobner residierte, die sowjetischen Offiziere und so weiter. Niemanden hat es gestört, dass der preußische Feldherr Blücher die ganze Zeit auf sie herunterschaute."
Die Deutschen sollten aus dem Stadtbild des polnischen Breslau so weit wie möglich verschwinden. In den 60er-und 70er- Jahren schien dieses Konzept allmählich aufzugehen.

"Wir haben uns damals überhaupt nicht die Fragen gestellt, in der Familie wurden diese Fragen nicht gestellt: Wie hat die Stadt vor 1945 ausgesehen? Im Unterricht wurde über die regionale Geschichte nicht viel gesagt. Im Vordergrund stand Polen, und wir wohnten in Polen. Man stellte keine Fragen nach regionaler Zugehörigkeit, nicht mal zu der Stadt selbst."

Eine alte Tante liest deutsche Bücher

Krzysztof Ruchniewicz, Leiter des Breslauer Willy-Brandt-Zentrums, Erforscher der deutsch-polnischen Beziehungen, geboren 1967 in Wroclaw.
"Ich muss allerdings eine Einschränkung machen. In meiner Familie gab es eine alte Tante. Diese alte Tante ist etwas früher nach Breslau gekommen und hat eine Wohnung übernommen, und in dieser Wohnung gab es sehr viele deutsche Bücher. Sie konnte ganz gut Deutsch. Sie hat diese Bücher nicht weggeworfen.
Was mir aufgefallen ist: Wir saßen an einem ganz tollen Tisch, auf ganz tollen Sesseln, umgeben von diesen Büchern. Mein Bruder und ich fragten damals, wie es zu erklären ist, dass es in der polnischen Wohnung so viele deutsche Bücher, einen deutschen Tisch, Sessel und so weiter gibt. Dann kamen wir langsam ins Gespräch. In den 70er Jahren gab es keine großen Erklärungen dafür. Naja, das war deutsch, aber wir haben uns darüber keine Gedanken gemacht."
"Ich heiße Renate Zaleczkowska, bin 1931 geboren und lebe die ganze Zeit hier in Schlesien. Ich hab nach Breslau geheiratet. 1956 hab ich einen polnischen Ehemann geheiratet…"
Auch ein paar tausend Deutsche lebten im polnischen Breslau – nach der Vertreibung der deutschen Bewohner in den ersten Nachkriegsjahren. Renate Zalaczkowska leitet heute die Deutsche Sozial-Kulturelle Gesellschaft in der Stadt, die es bereits seit über einem halben Jahrhundert gibt. Seit etlichen Jahren residiert sie in der ehemaligen Villa eines deutschen Seidenhändlers in Krzyki, dem früheren Villenviertel Krietern. Renate Zalaczkowska erinnert sich an die 50er- und 60er-Jahre.
"Es gab viele Veranstaltungen. Es gab einen großen Chor, es gab ein Laientheater. Es war eine große Bibliothek. Also es war schon eine rege Arbeit. Dann war hier in Breslau eine Grundschule. Es wurde in Breslau die "Arbeiterstimme" herausgegeben, die Zeitung. Wir hatten hier ganz viele Mitglieder aus der Vorkriegszeit der deutschen Minderheit aus Lemberg, der deutschen Minderheit aus Warschau, wir hatten ganz viele Deutsche aus Lodz."
Dennoch, auch wenn es ein deutsches Leben im Nachkriegsbreslau der 50er- und 60er-Jahre gab, einfach sei es für sie damals nicht gewesen, sagt Renate Zaleczkowska:
"Ich hatte keine Bekannten, wurde nirgends eingeladen mit meinem Mann, denn es wurde immer gesagt, warum hat er eine Deutsche geheiratet, und Niemra, das ist ein Schimpfwort ganz einfach. Und dann wurden wir auch immer als Schwaben beschimpft, sogar meine Kinder.
Blick über Breslau
Blick über Breslau.© dpa/picture alliance/Forum Marek Maruszak
Aber dann konnte ich mich wehren. Dann hatte ich Bekannte, die auch polnische Männer geheiratet hatten, da hatte ich so meinen Bekanntenkreis. Aber es ist nicht so, das alles vergessen wurde. Also ich lebe unter den Polen 70 Jahre und noch heute wird manchmal gesagt: Die Deutsche, die dort in der 20 wohnt."

Das Verhältnis zur deutschen Vergangenheit hat sich gewandelt

Trotz mancher Ressentiments bis heute hat sich das Verhältnis der polnischen Bewohner zur deutschen Vergangenheit ihrer Stadt in den vergangenen 25 Jahren grundlegend gewandelt. Nach 1989 hat sich Breslau oder Wroclaw noch einmal neu erfunden, als Stadt fast ohne Deutsche, aber mit reicher deutscher Geschichte. Kein Fremdenführer würde heute mehr, wie in der kommunistischen Nachkriegszeit üblich, die Geschichte der Stadt vom Spätmittelalter bis 1945 einfach auslassen. Die Aussöhnung mit dem deutschen Erbe Breslaus ist in Wroclaw auf Schritt und Tritt spürbar. Dieses Erbe ist Thema in allen Schulen, beschäftigt die polnischen Gegenwartsautoren und inspiriert das Stadtmarketing.
Auch im Hof des ehemaligen St. Matthias-Gymnasiums, wo nach dem Zweiten Weltkrieg das polnische Nationalinstitut Ossolineum einzog, ist man stolz – auch auf das polnische und auf das deutsche Erbe. Direktor Adolf Juzwenko präsentiert zwei Denkmäler im Innenhof.
"Hier haben wir die Büste von Graf Ossolinski, der das Nationalinstitut 1817 in Lemberg gegründet hat. Das Ossolineum fühlte sich gut in Lemberg – und ausgezeichnet in Breslau. Wir wollen aber auch der Geschichte dieses Hauses gerecht werden. Hier gingen deutsche Breslauer zur Schule. Einer der Absolventen des St. Matthias-Gymnasiums war Michael Graf von Matuschka, der am 14. September 1944 in Berlin gehenkt wurde, weil der sich am Widerstand des Kreisauer Kreises gegen Hitler beteiligte. Wir haben beschlossen, auch daran zu erinnern."
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