Europäische Kulturhauptstadt 2019 in Italien

Matera – literarisch betrachtet

29:41 Minuten
Matera, die Hauptstadt der italienischen Provinz Basilikata, ist seit dem 1. Januar "Kulturhauptstadt Europas 2019". Das Bild zeigt die historische Altstadt des Ortes, der von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt wurde
In der Nachkriegszeit galt Matera als Inbegriff von Rückständigkeit. © dpa / picture alliance / Christian Fürst
Von Maike Albath |
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Die süditalienische Stadt Matera ist neben dem bulgarischen Plovdiv die zweite Europäische Kulturhauptstadt in diesem Jahr. Zu sehen ist dort ein steinernes Labyrinth, in dem die Zeit aufgehoben zu sein scheint.
Ein Auf und Ab von Gassen und Treppen, ineinander verschachtelte Häuser und Höhlen, dazwischen ein paar Kirchen und winzige Plätze - so bieten sich die Sassi (Siedlungen) von Matera dem Besucher dar. Ein steinernes Labyrinth, das sich seine Urtümlichkeit bewahrt hat.
Der Schriftsteller, Maler und Arzt Carlo Levi, als Regimekritiker während des Faschismus an einen Ort unweit von Matera verbannt, sprach von einem Meer aus Felsen und lauter Städtchen, die allesamt wie Jerusalem aussähen. Er prangerte die Armut der vergessenen Region an.

Dreharbeiten für "Das 1. Evangelium – Matthäus" in Matera

In seinem international berühmt gewordenen autobiografischen Zeugnis "Christus kam nur bis Eboli" (1945) erforschte er mit einem anthropologischen Blick Landstrich und Bewohner. In der Nachkriegszeit wurde Matera zum Inbegriff von Rückständigkeit, und 1954 verbot der italienische Staat das Wohnen in den malariaverseuchten Sassi.
Matera wirkte noch 1964 so biblisch, dass der Regisseur Pier Paolo Pasolini hier seinen Film "Das 1. Evangelium - Matthäus" drehte. "Tausend Jahre, die ich hier bin" (2007) lautete der Titel des preisgekrönten Romans der Schriftstellerin Mariolina Venezia, 1961 in Matera geboren. Und immer noch passiert inmitten der Sassi genau dies: die Aufhebung der Zeit.

"In den Höhlen der Sassi verbirgt sich die Hauptstadt der Bauern, verstecktes Herz ihrer uralten Zivilisation. Wer Matera erblickt, kann nicht unberührt bleiben, so erschütternd ist es in seiner schmerzhaften Schönheit", schrieb der Schriftsteller, Maler und Arzt Carlo Levi.
Elizabeth Jennings: "Es ist ein Garten aus Steinen."
Sinan Gudžewić: "Es ist eine Stadt, eine ganz seltsame Stadt, eine Stadt, ich würde sagen, in mehreren Stockwerken." Wir sind in Matera, im Süden Italiens, im Landesinneren der Basilikata. Eine wilde Berggegend, bis in die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts von der Welt vergessen.
Mariolina Venezia: "Als ich in den Siebzigerjahren nach Matera zurückkehrte und die damals komplett verlassenen Sassi, die Altstadt aus den Höhlenbauten, gesehen habe, war ich vollkommen fasziniert. Ein Labyrinth, wie Eingeweide."
Carlo Levi aus: "Christus kam nur bis Eboli" (übersetzt von Helly Hohenemser-Steglich): "Um mich herum gleitet in großen Kreisen unbestimmtes Geflüster, und jenseits davon herrscht tiefes Schweigen. Mir ist, als sei ich vom Himmel gefallen wie ein Stein in einen Teich."
Serafino Paternoster: "Als ich klein war, verboten mir meine Eltern, in die Sassi zu gehen, weil man sich dort leicht verlaufen konnte. Wir gingen natürlich trotzdem hin. Für uns waren die Sassi ein riesiger Spielplatz aus der Urzeit, ein Ort voller Geheimnisse, wo wir uns verloren, mit unseren Freunden unterwegs waren und die waghalsigsten Dinge trieben."
Die Sassi bestehen aus Tuffstein. Innen drin ist alles rund. Gewölbte, dicke Wände, die sich anfühlen wie Reptilienhaut, weich und porös, mit lauter kleinen Kratern. Ein Schneckenhaus.

"Matera ist eine Art Mutter-Stadt"

Mariateresa Cascino: "Matera ist eine Art Mutter-Stadt, mit einem tiefen und sehr fruchtbaren Schoß. Materas Magnetismus hängt damit zusammen, dass es eine sehr ursprüngliche Stadt ist, eine der ältesten der Welt. Ein Labor des Lebens unter freiem Himmel, so als spräche das Leben, das schon immer zu diesem Ort gehörte, direkt zu uns."
Aus Carlo Levi: "Der Himmel in den bezaubernden Farben des Malarialandes, rosa, grün und lila, wirkte unendlich fern."
Matera, Kulturhauptstadt 2019, hat heute rund 60.000 Einwohner, etwa 1000 leben in den Sassi. Es geht treppauf und treppab und plötzlich um Ecken herum, über kleine Plätze und durch enge Seitengassen hindurch. Immer wieder verliert man seinen Weg.
Giovanni Ricciardi: "Es ist eine besondere Stadt, anders als viele andere Städte, die wir sonst kennen. Denn das Zentrum liegt am Hang der Schlucht des Flusses Gravina. Diese Schlucht ist sehr tief und besteht aus Felswänden."
Giovanni Ricciardi, Mitte 40, ein vierschrötiger Typ, gebürtiger Materaner, Verfasser etlicher Bücher über die Besonderheiten dieser Gegend, Bergführer, leitet uns weiter. Zwischen den Häusern, die im Abendlicht weiß zu schimmern beginnen, liegt tatsächlich etwas Uranfängliches. Es ist still, nur der Wind fegt um die Ecken.
"In die stark abfallenden Wände der Schlucht wurde die Stadt hineingebaut. Der hintere Teil der Häuser sind Grotten, die von den Menschen ausgehoben wurden, und aus den Steinen mauerten sie den vorderen Teil. Es sind Felsbauten."


Es gibt Tausende ineinander verschachtelte Behausungen, mittendrin liegen 155 kleine Felsenkirchen, etliche mit Fresken aus dem 13. Jahrhundert. Während Priester, Adlige und Honoratioren oberhalb der Sassi auf der Ebene in wuchtigen Palazzi wohnten, lebten Bauern und Handwerker im Sasso Baresano oder im Sasso Caveoso. 1882 landete hier ein hochgebildeter Herr, der Gedichte auf Italienisch und Lateinisch schrieb: Giovanni Pascoli, später der wichtigste Lyriker der Jahrhundertwende. Auf Anweisung der Schulbehörde trat er seine erste Stelle als Lateinlehrer am Gymnasium von Matera an. Verzweifelt schrieb er im November 1882 an seinen Freund Giosuè Carducci:
"Es gibt hier kein einziges Buch! Seit 20 Jahren haben sie ein Gymnasium, und niemand scheint hinreichend gebildet daraus hervorgegangen zu sein, um das Bedürfnis nach Büchern zu verspüren. Die Lehrer haben sich offenkundig ausreichend mit Wissenschaft vollgesogen und kaufen deshalb keine. Die Armut ist so groß, dass Kultur im besten Fall als Luxus gilt und im schlechtesten Fall als Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klassen."
Sinan Gudžewić: "Und, ja, der hat sich in Matera nicht glücklich gefühlt. Er hat diese Stadt in seinen Briefen als "africa ostile" bezeichnet, "ein feindliches Afrika". Seit seinem Ankommen in der Stadt, vom ersten Tag an, hat er gelitten. Es gibt in seinen Tagebüchern darüber schon Berichte, wie er seine erste Nacht in einer Höhle in den Sassi, in den Steinen dort, verbracht hat zwischen Ratten und unerträglichem Gestank."
Vor dem Palazzo Lanfranchi, dem früheren Sitz des Gymnasiums, steht der Schriftsteller, Dichter und Übersetzer Sinan Gudžewić aus Zagreb. Der Mittsechziger ist in seiner Heimat ein Kult-Kolumnist, stammt aus einem serbisch-muslimischen Bergdorf und hat in seinen Kolumnen schon häufig von der Basilikata erzählt.
"Mich haben eigentlich zwei Schriftsteller nach Matera getrieben sozusagen. Der erste war Giovanni Pascoli und der zweite natürlich Carlo Levi."
Die Altstadt von Matera im Abendlicht. 
Als sie in 70er-Jahren nach Matera zurückkehrte, war sie vollkommen fasziniert, sagt Mariolina Venezia.© imago images / Westend61 / William Perugini

"Christus kam nur bis Eboli" – Levis berühmtestes Buch

Der jüdische Maler, Schriftsteller und Arzt aus Turin war im Widerstand gegen Mussolini aktiv und wurde 1935 in die Basilikata verbannt. Die Verbannung war unter den Faschisten eine übliche Praxis, um missliebige Gegner zu isolieren. "Christus kam nur bis Eboli" heißt Levis berühmtes Buch, das er wenige Wochen nach Kriegsende veröffentlichte. Weiter als bis nach Eboli, ein Städtchen unweit von Salerno, sei Christus nie vorgedrungen, ganz bestimmt nicht in diese Berge.
Das Buch, das sofort großes Aufsehen erregte und ein internationaler Erfolg wurde, ist eine Mischung aus Roman, autobiografischem Zeugnis, anthropologischer Studie und Tagebuch, geschrieben mit großem Respekt vor der magischen Weltsicht der Bauern. Als Levi in dem Dorf Aliano ein eigenes Haus bezog, gab es nur eine Frau im ganzen Ort, die bei einem alleinstehenden Mann verkehren durfte: Giulia, Anfang 40, Mutter mehrerer Kinder von verschiedenen Männern.
"Sie schien eine uralte Frau, als hätte sie Hunderte von Jahren gelebt und es könnte deshalb vor ihr nichts geheim bleiben; ihre Weisheit war nicht die gutmütige und sprichwörtliche der alten Weiber, die mit einer unpersönlichen Tradition verknüpft ist, und ebenso wenig die geschwätzige einer Betriebsamen, sondern eine Art von kaltem, passivem Wissen, in dem sich das Leben mitleidlos und ohne moralisches Urteil spiegelte: In ihrem zweideutigen Lächeln lag niemals Mitgefühl oder Tadel.
Sie war wie die Tiere ein Erdgeist. Sie hatte keine Furcht, weder vor der Zeit noch vor schwerer Arbeit noch vor Männern. Sie ging zum Brunnen mit einem 30-Liter-Fass und brachte es voll auf dem Kopf zurück, ohne es mit den Händen, die das Kind hielten, zu stützen, und sie kletterte über die Steine der steilen Gassen mit dem diabolischen Gleichgewicht einer Ziege. Sie kannte die Kräuter und die Macht der magischen Dinge. Sie konnte Krankheiten durch Zauber heilen und, wenn sie wollte, durch die Kraft furchtbarer Formeln sogar den Tod herbeirufen."

"Levi hat mich mit diesem Buch wirklich erschüttert"

Sinan Gudžewić: "Und diese Rituale, dass man nicht am Abend oder bei der Dämmerung das Wasser über die Schwelle gießen kann oder Abfälle wegwerfen darf, weil, es können damit die Schutzengel getroffen werden. Das kenne ich aus meiner Kindheit. Obwohl ich in einer muslimischen Gemeinschaft geboren bin. Das ist etwas ganz Menschliches, Europäisches und Überreligiöses, sage ich mal. Und Carlo Levi hat mich mit diesem Buch wirklich erschüttert."

"Christus kam nur bis Eboli" ist zugleich eine bittere Anklage. Eingewoben in den Roman sind Schilderungen von Levis Schwester Luisa, die auf dem Weg zu ihrem Bruder einen Tag in Matera Halt macht.
"Die Türen standen wegen der Hitze offen, und ich sah in das Innere der Höhlen, die Licht und Luft nur durch die Tür empfangen. In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im Allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle, und darin schlafen alle zusammen. Männer, Frauen, Kinder und Tiere. So leben 20.000 Menschen. Kinder gab es unzählige."
Sinan Gudžewić: "Also seine Schwester, die eine Ärztin war, kommt nach Matera und will ihm ein Stethoskop kaufen, weil sie es vergessen hat, mitzubringen aus Turin. Das ist im Jahr 1935, und dort gibt es nur zwei Apotheken. Und sie, eine Ärztin, geht zu dem einen Apotheker, dann zu dem anderen und fragt, ob sie ein Stethoskop haben, das sie kaufen will. Und keiner hat eine Ahnung davon, was ein Stethoskop ist."


Luisa Levi: "Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt, und dabei bin ich doch in meinem Beruf gewöhnt, täglich sehr viele arme, kranke und schlecht gepflegte Kinder zu sehen. Aber ein Schauspiel wie das gestrige hätte ich mir nicht vorstellen können. Ich sah Kinder auf der Türschwelle im Schmutz unter der glühenden Sonne sitzen mit halbgeschlossenen Augen unter roten geschwollenen Lidern; die Fliegen krochen ihnen über die Augen, aber sie rührten sich gar nicht, sie verjagten sie nicht einmal mit den Händen. Es war Trachom."
Sinan Gudžewić: "Und die Einwohner, die sind total apolitisch. Und das ist das Geniale in dem Buch. Das hat Carlo Levi entdeckt. Ihnen ist es egal, ob jemand ein Faschist oder ein Anarchist ist, sie zeigen mit dem Zeigefinger nur auf Rom. 'Für diese aus Rom müssen wir sterben in Eritrea oder an unserer Malaria.' Sie haben keinen Glauben an den Staat als solchen."
"Die mageren Weiber mit unterernährten, schmutzigen Säuglingen an den welken Brüsten, grüßten mich freundlich und trostlos; es wirkte auf mich, als wäre ich in der blendenden Sonne in eine von der Pest heimgesuchte Stadt geraten."
Aufgerüttelt von den Schilderungen Levis besuchte Ministerpräsident Alcide De Gasperi 1952 die Sassi.
Giovanni Ricciardi: "Weil es so heruntergekommen war, wurde Matera Anfang der Fünfzigerjahre als 'nationale Schande' bezeichnet. Ein Höhepunkt dessen, was man 'die süditalienische Frage' nennt, die den gesamten Süden betraf, vor allem in der Nachkriegszeit. Es war aber auch eine Stigmatisierung Materas, denke ich. Denn tatsächlich gab es ein Krankenhaus mit 300 Betten, es gab Schulen und Kindergärten, es gab vier Mühlen und vier Nudelfabriken, die bis in die USA exportierten. Wegen der Höhlen haben die Politiker diese Sache mit der 'nationalen Schande' überbetont. Die Folge war die Räumung der Sassi, der Staat sperrte das alte Zentrum und baute Wohnungen für 17.000 Menschen."
Auf diese Weise floss viel Geld nach Matera, die wichtigsten italienischen Architekten zogen innerhalb weniger Jahre ganze Wohnquartiere hoch. Erst viel später würdigte man die Sassi auch als einzigartige, ökologisch nachhaltige Baudenkmäler. Als die Sassi 1993 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, siedelte die Stadt dort wieder Handwerksbetriebe und Einwohner an.

Über den Initiator der Berwerbung als Kulturhauptstadt

Serafino Paternoster: "Meine Eltern sind noch in den Sassi geboren und haben mich immer daran erinnert, was für ein Glück es war, dort wegzuziehen. Es war kein gutes Leben gewesen. Die Kindersterblichkeit war bis in die fünfziger Jahre hinein extrem hoch, man hatte einfach auch Angst, seine Kinder zu verlieren und wollte nur weg von dort."
Der quirlige Serafino Paternoster, Jazzgitarrist, Musikkritiker, großer Cineast und Journalist, außerdem Pressechef von Matera 2019, gehörte zu den Initiatoren der Bewerbung als Kulturhauptstadt. Wir sind in dem ehemaligen Benediktinerkloster an der Piazza Vittorio Veneto auf der Hochebene der Stadt, ein Barockbau, heute die Schaltzentrale sämtlicher Aktivitäten des Jahres.
"Wir haben uns in der Schule mit Carlo Levi beschäftigt, aber er war vielleicht fast zu beherrschend - Carlo Levi ist ein außerordentlicher Schriftsteller und großer Maler, der viel für unsere Stadt getan hat und sie mit enormen Emotionen und großer Wahrhaftigkeit erzählt hat. Doch er wurde beinahe zu bestimmend für das Leben der Materaner.
Und zwar in dem Sinne, dass wir uns daran gewöhnt hatten, mit Carlo Levi den Blick auf die Vergangenheit zu richten, statt nach vorne zu schauen, in Richtung Zukunft. Mit Matera 2019 haben wir zum allerersten Mal die Herausforderung angenommen, auch über das, was kommt, nachzudenken und zu diskutieren. Das ist extrem wichtig, denn wer immer nur auf die Vergangenheit schaut, wird unbeweglich."
Mit einer Serie von Veranstaltungen zur Zukunft der Demokratie, mit Kunstprojekten und gemeinsamen Inszenierungen mit den Theatern von Ravenna und Neapel geht es in vielen Variationen um neue Visionen. "Open future" lautet deshalb das Motto der Kulturhauptstadt.
Serafino Paternoster: "Wir wollen auch das Paradigma eines Süditaliens umdrehen, das sich immer nur beklagt und Forderungen stellt. Die Zukunft in den Blick zu nehmen, heißt für uns, nicht um etwas zu bitten, sondern etwas vorzuschlagen. Die Bürger der Stadt müssen selbst die Gestaltung übernehmen. Auch deshalb beziehen wir sie in unser gesamtes Kulturprogramm mit ein."
Die Cavalleria rusticana soll in den Sassi aufgeführt werden, und die Einwohner werden als Statisten in Aktion treten. Wir steigen ein paar Stockwerke höher, wo Mariateresa Cascino mit dem Marketing der Kulturhauptstadt befasst ist. Vor 15 Jahren, als Matera noch im toten Winkel der Welt lag, hatte sie eine Idee.
"Ich habe damals die amerikanische Autorin Elizabeth Jennings kennengelernt und gemeinsam mit ihr, der Literaturagentin Maria Paola Romeo und einem Buchhändler 2004 das Women’s fiction festival gegründet. Wir wollten einen kreativen Rückzugsraum bieten. Nach und nach wurde das Festival zu einem Treffpunkt für Schriftsteller, Agenten und Lektoren, Stoffe wurden entwickelt, es boten sich Möglichkeiten zum Brückenschlag."
Blick auf die Felsenstadt Matera
Blick auf die gesamte Felsenstadt Matera© Tilmann Kleinjung
Von Alessandro Baricco und Daniel Pennac bis zu Margaret Mazzantini kamen viele bekannte Schriftsteller und ließen sich von Matera inspirieren.
Mariateresa Cascino: "Matera hat auf jeden Künstler eine ungeheure Wirkung, es besitzt eine magnetische Kraft, ein bisschen wie Afrika. Es löst große Kreativität aus, bringt einen zum Nachdenken, vermittelt einem Tiefe, weil es ein bisschen eine Mutter-Stadt ist, ein fruchtbarer Schoß. Man kann hier eine Reise in die Unendlichkeit machen, eine Reise an einen Ort ohne Zeit."
Gerade weil Matera unberührt die Zeit überdauerte, faszinierte es immer wieder Filmregisseure. Pier Paolo Pasolini drehte sein Matthäusevangelium in den Sassi, Francesco Rosi "Christus kam nur bis Eboli", Mel Gibson wählte den Ort als Schauplatz seiner Passion Christi. Auch deshalb stapfen mittlerweile ganze Kreuzfahrtschiffsladungen von Amerikanern durch die Gassen.

James Bond soll hier gedreht werden

In ein paar Wochen werden die Dreharbeiten für den neuen James Bond die Stadt lahmlegen. Es bleibt eine Gratwanderung – die Regisseure bescheren den örtlichen Handwerksbetrieben viele Aufträge, aber die Vermarktung könnte auch eine Disneyfizierung mit sich bringen. Es droht der Venedig-Effekt.
Mariateresa Cascino: "Es ist klar, dass wir die Orte, an denen gedreht wird, schützen müssen, denn wir haben hier ein sehr empfindliches Ökosystem."

Die literarischen Initiativen bringen andere Besucher nach Matera. Mariateresa Cascino wird wegen des umfangreichen Kulturhauptstadtprogramms in diesem Jahr eine schlankere Version ihres Festivals veranstalten. Es soll eine Preisverleihung geben, und vor allem finden in den Schulen Erzählwerkstätten statt.
Ich verabschiede mich aus dem pulsierenden Herzen von Matera open future und trete den Fußweg zu Elizabeth Jennings an, der Miterfinderin des Women’s fiction festival. Die Amerikanerin ist seit über 30 Jahren in Matera verheiratet. Sie hat einige Thriller und Unterhaltungsromane geschrieben. Eine bestens gelaunte, rundliche Person Ende sechzig voller Ideen. Sie wohnt am Rand der Stadt in einem soliden Häuserblock aus den siebziger Jahren.
"Vor 30 Jahren war es hier eher primitiv. Es gab kaum ein Bürgertum, das Milieu war bäuerlich. Keine Cafés, gerade mal drei Frühstückbars, wo lauter kleine Männer herumstanden, Kaffee tranken und rauchten. Sie spuckten nicht auf den Boden, aber fast. Frauen bekam man auf der Piazza nie zu Gesicht! Und ich war Florenz und Brüssel gewöhnt! Frauen gingen in Matera gar nicht vor die Tür."
Auch deshalb floh Elizabeth Jennings viele Jahre lang jeden Monat ein paar Tage nach Brüssel, wo sie ihrem Beruf als Simultandolmetscherin nachging. Dass sie gleichzeitig ihren Sohn großziehen konnte, gelang mithilfe der Familie.
"150 Jahre Geschichte haben sich hier innerhalb von dreißig vollzogen. Obwohl die Modernisierung so rasant war, haben die Menschen nicht ihre Seele verloren, was sonst ja häufig passiert. Hier nicht. Die Leute sind schon sehr materialistisch - man wird nach seiner Kleidung, seinem Schmuck beurteilt. Aber es gibt einen starken Sinn für die Familie und große Solidarität. Mein Mann ist Arzt in der Geriatrie, es wimmelt dort von Angehörigen, die ihren Verwandten helfen. Diese Dinge sind intakt, was sehr positiv ist."

Kultureller Impuls für Matera

Irgendwann beschloss Elizabeth Jennings, dass Matera auch kulturell ein paar Impulse vertragen könnte und mischte mit Mariateresa Cascino und dem Women’s fiction festival die Stadt auf.
"Bei unserem Festival gab es für unveröffentlichte Schriftsteller die Möglichkeit, das eigene Buch zu pitchen, wir konnten die Entdeckung neuer Talente befördern. Mittlerweile beschäftige ich mich vor allem mit Selfpublishing, ich halte es für eine Revolution. In den USA erscheinen 40 Prozent der Genreliteratur nicht in Verlagen: Science Fiction, Romantik, Thriller. Noch hat man das hier nicht richtig verstanden. Ich veranstalte deshalb jetzt eine un-conference über diese Entwicklung. Wir haben keine Tagesordnung. Es geht um Informationsaustausch."
Auf einmal scheint Matera also ganz vorne dran zu sein an den Entwicklungen. Ich trinke noch einen Tee mit der umtriebigen Wahl-Materanerin. Auf dem Rückweg durch die Sassi, wo sich mittlerweile unzählige Bars, Restaurants und Hotels niedergelassen haben, aber auch Töpfereien und Bäckereien, die das typische doppellaibige Brot backen, treffe ich die Schriftstellerin Mariolina Venezia. Sie wurde 1961 in Matera geboren, ist mittlerweile in Rom zu Hause, aber kehrt regelmäßig zurück. Für ihre Familiengeschichte über die Basilikata "Tausend Jahre, die ich hier bin" bekam sie 2007 den Premio Campiello und landete einen Bestseller.
"Meine Schreibweise ähnelt den Sassi. Ich bin keine Architektin, die einen genauen Plan für ihre Geschichten macht, zuerst passiert das, dann das, usw., nein, ich schreibe so, wie die Bewohner der Sassi ihre Behausungen bauten."
Mariolina Venezia, die auch einige Filme drehte, dachte sich vor ein paar Jahren dann eine Heldin aus, die in Matera beheimatet ist. Eine kämpferische Staatsanwältin namens Imma Tataranni, eine Art Calamity Jane – ihre Waffe ist das Gesetzbuch.
"Imma Tataranni stammt aus einfachen Verhältnissen und hat sich dank ihrer Zähigkeit hochgearbeitet. Sie ist keine typische strahlende Heldin, sondern klein, gedrungen, mit einem Riesenbusen, sie färbt sich ihre Haare auf unmögliche Weise rot, trägt am liebsten Kleider mit Tigerstreifen oder im Zebralook, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr das steht. Aber sie ist auch eine fröhliche Person, optimistisch, kämpft dauernd wie ein Don Quichote gegen den ganzen Schlendrian, der Süditalien seit jeher charakterisiert."
In der letzten Folge der Serie "Rione Serra Venerdi" fahndet Imma Tataranni mitten in den Sassi nach Beweisstücken für einen Mordfall. Ein kleiner Junge muss ihr den Weg zeigen:
"Der Kleine hat einiges zu bieten. "Eines Tages kam Ministerpräsident De Gasperi zu meiner Großmutter nach Hause, da drehte sich der Esel um und kackte direkt aufs Bett. De Gasperi raufte sich die Haare – Madonna, wie leben denn diese Leute! Er erließ ein Gesetz zur Räumung der Sassi, welche Ziffer es trägt, weiß ich nicht." "Wo wohnst du denn?" Es schien, als zögere er. "Oberhalb der Kathedrale". "Und wie heißt du?" "Samuel".
Sie gelangten in eine ausgestorbene Nachbarschaft rings um einen Brunnen. Imma dachte an ihre Mutter, die vor ihrer Hochzeit in genau so einem verschachtelten Häuserwirrwarr gewohnt hatte. Sie erzählte noch heute von Frauen, die auf der Türschwelle Korn verlasen, alten Leuten, die Strümpfe strickten, Kindern, die sich dauernd stritten und nur zum Schlafen zurückkehrten, denn die Behausungen war eng, feucht und überfüllt, je weniger man sich dort aufhielt, desto besser für alle. Jetzt war die Stille nur von Vogelgezwitscher unterbrochen und vom Wind, der durch die leeren Fensterhöhlen pfiff."

Es gab das Literaturfest "Matera erzählen"

Venezia: "Ich habe vor einigen Jahren in Matera ein Literaturfest unter dem Motto "Matera erzählen" veranstaltet. Etliche ältere Männer, die noch in den Sassi aufgewachsen waren, schilderten den starken sozialen Zusammenhalt. Weil man immer aufeinander hockte, gab es aber auch viel Neid, was dazu führte, dass man nie die Wahrheit sagte. Es ging darum, alles immer ein bisschen anders auszudrücken, auch um keine Eifersucht anzufachen, die in der süditalienischen Kultur eine große Rolle spielt. Malocchio, der böse Blick."
Die Vergangenheit ist der Untergrund der Gegenwart und bleibt spürbar, und sei es in den Menschen und ihren Gefühlen. Dass Christus nur bis Eboli kam, wie Carlo Levi es beschrieb, hat vielleicht auch sein Gutes. Denn die alte Welt barg viele Reichtümer.
"Für die Bauern hat alles einen doppelten Sinn. Jede Person, jeder Baum, jedes Tier, jeder Gegenstand, jedes Wort haben an dieser Zweideutigkeit teil. Nur die Vernunft ist eindeutig, ebenso wie die Religion und die Geschichte. Aber der Sinn für das Dasein, für Kunst, Sprache und Liebe ist vielfältig, unendlich. In der Welt der Bauern ist kein Platz für Vernunft, eben weil alles an der Gottheit teilhat, weil alles wirklich und nicht nur im symbolischen Sinn göttlich ist, der Himmel ebenso wie die Tiere, Christus ebenso wie die Ziege. Alles ist natürliche Magie."
Als ich ein paar Stunden später von der anderen Schluchtseite nach Matera hinüberblicke, sehe ich, was Carlo Levi damals sah.
"Ein großer, bleicher, durchsichtiger und unwirklicher Mond stand in der rosigen Luft über den grauen Ölbäumen und den Häusern wie ein vom Salzwasser zerfressenes Kalkblatt eines Tintenfisches am Meeresufer."
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