"Plovdiv hat die Aufgabe, Menschen zu inspirieren"
Plovdiv ist in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt. Die bulgarische Stadt wurde einst wie Rom auf sieben Hügeln erbaut und ist die älteste durchgehend besiedelte Stadt Europas. Bekannt ist sie für ihre lange und reiche literarische Tradition.
Es sind diese Morgen, die Nedyalko Slavov so liebt. Wenn die frühe Sonne die Häuser der Plovdiver Altstadt ein erstes Mal aufleuchten lässt, wenn die Rauchfahnen über den Kaminen kleiner werden, wenn die Besen der Roma-Frauen über das Pflaster zischen, steigt Plovdivs bekanntester Autor den Nebet Tepe-Hügel hinauf. Denn hier beginnt die Geschichte.
"Wir sind hier an der höchsten Stelle jener drei Hügel, auf denen Plovdiv einst gegründet wurde. Um uns herum und unter unseren Füßen, liegen die Reste der ältesten antiken Zivilisation. Auf ihnen ruht seit Jahrtausenden Plovdiv. Tief unter unseren Füßen befindet sich Zyklopenmauerwerk, älter als die Mauern der Stadt Troja."
Nedyalko Slavov, 66, rückt seinen breitkrempigen Hut zurecht, streicht sich über den eleganten grauen Bart und steigt weiter den Hügel hinauf. Auf dessen Spitze wohnte er, als er einst in diese Stadt zog. Die steile Straße fand ihren Platz in seinem Roman "Faustino".
"Dieses Buch ist eine Art fantastisch-biografischer Roman. Geschrieben habe ich es da oben. In jenem Haus auf der Spitze des Hügels, wo zwei Straßen im rechten Winkel aufeinanderstoßen. Es ist ein Buch über einen fliegenden Menschen. Ich sah diese Straße immer als eine Art Startrampe. Man beginnt, bergan zu laufen, immer schneller und schneller und dann springt man ab."
"Nach einem nächtlichen Regen übermannte Sava ein übernatürliches Empfinden. Hatte er vielleicht halluziniert in dieser irrealen Welt? Oder wohnte er einem Wunder bei? Es geschah sogar einige Male, dass er dachte, er würde sie sehen: Sie eilten mit gewaltiger Geschwindigkeit an ihm vorbei und katapultierten sich über die Stadt. Nach einer solchen Nacht wachte er wegen der Stille auf. Sava schaute sich die Straße an und sah die Spuren von Füßen auf dem feuchten Pflaster. Sie trockneten langsamer als die Steine, erklommen den Weg zum kleinen Platz vor dem Haus. Dort verschwanden sie, als wäre ihr Eigentümer."
"Die Idee dieses Romans? Ich wollte ein Buch schreiben über einen Menschen, der ohne Groll auf seine Jugend zurückblickt. Der nicht das Gefühl hat, seine Jugend umsonst gelebt zu haben. Und so ist dieser Roman für mich auch eine Auseinandersetzung mit dem inhumanen Geist des Kommunismus. Und jetzt zeige ich Euch das Haus, in dem ich heute wohne."
Ein Passagier, der sieht, wie die Jahrhunderte vorbeigleiten
Nedyalko Slavow sieht sich in einer langen Reihe von Dichtern, Autoren und Philosophen. Lucian, auch Ovid, Plato, Plinius, Polybos, Herodot oder Vergil – sie alle haben über Plovdiv oder seine Umgebung geschrieben. Was macht das mit den Dichtern und Dichterinnen dieser Stadt? Was macht diese Geschichte mit den Autoren von heute?
Im Haus, in dem Nedyalko Slavov inzwischen lebt, führt eine steile hölzerne Treppe nach oben. Es sei ein altes griechisches Haus, erzählt er. Nun schaue er nicht mehr vom Nebet Tepe nach unten. Nun habe er die Spitze des Hügels vom Balkon aus den ganzen Tag vor Augen.
"Dort drüben siehst du ihn wieder. Es ist nur einer jener drei Hügel, auf denen Plovdiv gegründet wurde und weswegen die Römer die Stadt Trimontium nannten. Die ältesten Stücke, die man dort gefunden hat, stammen aus dem Jahr 8000 vor Christus. Dieser Hügel ist also der Geburtsort von Plovdiv. Die moderne Stadt ist vor allem von deutschen und österreichischen Architekten geprägt, weswegen man viel Jugendstil, Wiener Sezession und Pseudobarock findet. Auf meinem Balkon bin ich wie ein glücklicher Passagier, der sieht, wie draußen die Jahrhunderte vorbeigleiten."
"Er zog in die Hügelspitze der Altstadt ein. Ins Haus der Winde. Aus der Ebene drang das Dröhnen der Stadt. Der Klang von Millionen Jahren – das Summen einer heranfliegenden Biene – schnitt das Heulen der Automobile. Eine Elster klapperte mit Kastagnetten und übertönte eine ferne Polizeisirene. Die Welten kämpften miteinander und das verlorene Territorium wurde in einem Augenblick zum Herrschaftsgebiet des anderen. Hier waren die Lebenden tief in der Erde untergegangen, und die Toten warteten nicht, dass die Erinnerung sie zurückruft – sie spazierten körperlos auf den Straßen."
"All diese großen Philosophen und Denker der Römer und Griechen sind noch da, in den Luftkorridoren über der Stadt. Dass es hier so viele Schriftsteller gibt, hat sicher auch damit zu tun. Sie spüren, dass diese Stadt eine bestimmte Energie ausstrahlt, dass da immer noch etwas stattfindet, das unsichtbar ist."
Von der Entvölkerung Bulgariens
Von der Reling seines Balkons ist Nedyalko Slavov ein interessierter Beobachter dessen, was sich in seiner Stadt und seinem Land vollzieht. In seinem Roman "Die Glocke" wendet sich Slavov offensichtlich einem der politischen Probleme der Neuzeit zu. "Die Glocke" heißt das Buch. Es thematisiert die Folgen der Auswanderung von mehr als einer Million junger Bulgaren für die ländlichen Regionen und spielt in einem Dorf im Strandsha–Gebirge, in dem marodierende Banden die zurückgebliebenen letzten Einwohner terrorisieren.
"Wir sind in Bulgarien Zeugen eines grausamen Prozesses der Entvölkerung des Landes. Es gibt riesige menschenleere Landschaften. Dort bietet sich ein Bild wie im Mittelalter, als sich der Rest der Bevölkerung in den Großstädten konzentrierte. Ich bin einer der wenigen Schriftsteller, die das thematisieren und es bringt mir in der politischen Szene viele Feinde."
"Die Glocke" war im Jahr seines Erscheinens, 2016, das meistverkaufte Buch in Bulgarien. Zugleich schimmert darin, wie auch in seinen intellektuell verspielten Romanen, "Piafé" oder "432 Hertz", eine religiös-konservative und globalisierungskritische Betrachtung der Welt, wie sie vielen älteren Plovdiver Autoren eigen ist. Mit Interesse beobachtet Nedyalko Slavov daher auch, wie Plovdiv als europäische Kulturhauptstadt diese Prozesse reflektieren wird. Eines aber war für ihn ganz klar, dass bei einer bulgarischen Bewerbung nur diese eine Stadt infrage kommen konnte.
Die großen bulgarischen Verlage haben ihren Sitz in Plovdiv
"Plovdiv wird schon seit ewigen Zeiten als die Kulturhauptstadt Bulgariens bezeichnet. Bis heute sind hier die wichtigsten Verlage des Landes zu Hause: Hermes, Janet 45 und Lettera. Das sind die drei größten."
Alle drei Verlage haben ihren Ursprung in der Zeit des Zusammenbruchs des Sozialismus in Bulgarien. In dieser Zeit machten sich zwei Frauen auf, der international wenig bekannten bulgarischen Literatur neues Leben einzuhauchen. Beide kommen aus Plovdiv. Eine von ihnen ist die Gründerin des Verlages Lettera, Nadya Furnadshieva. Die andere, Bozhana Apostolova, gründete den Verlag Janet-45.
"Zu Zeiten des Kommunismus war ich Leiterin eines Kulturhauses der Gewerkschaft. Ich gehörte also zu denen, denen es vor der Wende sehr gut ging. Ich hatte Journalistik studiert und schon früh einen Gedichtband veröffentlicht. Seit 1977 bin ich Mitglied des Bulgarischen Schriftstellerverbandes."
"Die Zeit atmet angestrengt. Die Zeit. / Als ob sich Feuer auf uns ergösse. / Und schrecklich ins Schwerelose geschleudert / ist unser Land, das Bulgarische, / Vermutlich auf ewig / in immer neuem Gewand kommt die Mühsal. / Die Worte, schuldbewusst, entlaufen dem Sinn / und unwirtlich geworden sind unsere Seelen"
Schwere Zeiten für junge Autoren
Als die Gewerkschaftskulturhäuser schlossen, kaufte sich Bozhana Apostolova eine klapprige Druckmaschine und begann, in einem Gewerbegebiet von Plovdiv für den russischen Markt Konserven-Etiketten zu drucken. Sie gehörte bald zu den reichsten Frauen Bulgariens. Aus der klapprigen Druckmaschine wurde eine der modernsten Druckereien auf dem Balkan. Sie leistete sich den teuersten BMW und einen Fahrer. Doch anders als andere neureiche Bulgaren, gründete sie den Verlag Janet 45 und begann, zielgerichtet in die Literatur ihres Landes zu investieren.
"Jedes Jahr verlegte ich 20 junge Autoren, die höchstens 30 Jahre alt waren. Können sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl für die jungen Dichter war, als sich ihnen in dieser unsicheren Zeit, eine Hand entgegenstreckte? In einer Zeit, in der Hunderttausende junge Menschen unser Land Richtung Westen verließen? Keiner, der von mir verlegten Autoren hat bisher das Land verlassen."
Der Lettera-Verlag residiert in einer unscheinbaren Straße abseits vom Stadtzentrum. Wer das untere Stockwerk mit seinen beiden großen Schaufenstern betritt, steht sofort inmitten von Büchern – und vor dem Schreibtisch von Nadya Furnadshieva. Sie erinnert sich noch gut an die Zeit, als sie sich in den Wirren des Zerfalls des kommunistischen Bulgarien selbstständig machte.
"Zu dieser Zeit erschien meine Übersetzung der Blechtrommel von Günter Grass. Doch angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen hatten die Menschen ganz andere Probleme, als Günter Grass zu lesen. Und so blieb das Buch in Bulgarien weitgehend unbeachtet."
In den 90ern schlossen viele Verlage
Das war 1991. Viele Verlage mussten damals schließen. Der Buchhandel war zusammengebrochen. In Plovdiv hatten fast alle Buchhandlungen geschlossen.
"Es war ziemlich verrückt, in dieser Zeit seine gesicherte Arbeitsstelle zu verlassen, um einen Verlag zu gründen. Aber dieser Verlag wurde meine Lebensschule. Ich hatte erkannt, was den Lesern in Bulgarien zu dieser Zeit fehlte. Als erstes verlegte ich Lehrbücher für Englisch und entwickelte zusammen mit dem Goethe-Institut Deutschlehrbücher."
Mit deren Gewinn förderte Nadya Furnadshieva junge bulgarische Autoren. Aber wollte die damals eigentlich irgendjemand lesen?
"Nein, zu dieser Zeit bestand keinerlei Interesse an bulgarischer Literatur, insbesondere nicht an jungen Autoren. Es war ein hohes unternehmerisches Risiko."
Heute geben Lettera und Janet-45 pro Jahr mehr als 100 Neuerscheinungen heraus. Und so manche der von Bozhana Apostolova und Nadya Furnadshieva entdeckten und geförderten Autoren haben es auch auf die Bühne der internationalen Literatur geschafft - Alek Popov und Georgi Gospodinov etwa. Aber auch Christo Saprijanow mit seinem Roman "Der gehäutete Hund". Oder Jordan Iwantschev mit seiner Dystopie "Die Farben des Grauens". Sie nahm früh vorweg, was dem Verfall folgen sollte. Iwantschev erzählt darin von einer sich auflösenden Gesellschaft, aus der es scheinbar nur einen Weg gibt, um zu überleben: die Flucht in den Westen.
Wer sich vom Lettera-Verlag aus auf den Weg ins Zentrum macht, spürt, dass diese Zeit vorbei ist. Zwar gehen noch immer viele junge Bulgaren in den Westen. Doch inzwischen kehrt so mancher auch wieder zurück. Doch noch immer fliegen nach Plovdiv nur wenige Flugzeuge. Also kommen sie mit Bussen. Oder mit dem Zug.
Auf den Spuren der ehemaligen Tabakstadt
Wer nach Plovdiv kommt, den zieht es gleich ins pulsierende Zentrum der Stadt. Der Weg dorthin führt durch die ehemalige Tabakstadt, einem alten Arbeiterquartier.
"Es waren mächtige, vielstöckige Gebäude, deren Bau Millionen verschlungen hatte. Ihre modernen glatten Fassaden mit den kleinen Fenstern hatten etwas Kaltes, Seelenloses. Der Komplex glich schon von Weitem einem vorsintflutlichen Ungeheuer, das die Gebäude der benachbarten Tabakfirmen zu erdrücken schien. Nachlässig grüßte Boris den Wächter, einen Mazedonier, und betrat den lang gestreckten Hof. Hier entlang gingen die Arbeiter zu den Manipulationssälen, oder es fuhren Lastwagen, die den fermentierten Tabak abholten. Früher waren auch Kamelkarawanen griechischer Kaufleute hergekommen und hatten die Ware nach dem Süden, zu den Häfen des Ägäischen Meeres geschafft."
Das Tabakviertel von Plovdiv ist einer der Schauplätze des wichtigsten bulgarischen Nachkriegsromans "Tabak" von Dimitar Dimov. Doch das wissen heute nur noch wenige der jungen Rückkehrer, erzählt Svetlana Kuyumdzhieva. Die künstlerische Leiterin des Organisationsteams Plovdiv 2019 hätte gern die Möglichkeit genutzt, das alte Arbeiterquartier zu einem Hotspot des Kulturhauptstadtjahres zu machen. Stattdessen: Brandspuren und mit schweren Eisenträgern gesicherte Fassaden. Wenn Svetlana aus ihrem Bürofenster schaut, sieht sie auf einen geplatzten Traum.
"Der Blick auf die ausgebrannten Lagerhallen ist für mich dramatisch und schmerzhaft. Unsere erste Idee war es, mit dem Kulturhauptstadtjahr die Aufmerksamkeit auf dieses, seit 20 Jahren völlig vergessene Stadtviertel zu lenken. Wir wollten es wieder in seinen ursprünglichen architektonischen Zustand versetzen. Denn: Die Tabakindustrie und der Geruch des Tabaks ist eng verbunden mit der DNA eines jeden Plovdivers."
"Über dem Lagerviertel lag der beißende Geruch des fermentierten Tabaks. Traurig fielen die vergilbten Blätter von den Akazien der Bahnhofstraße. Es war windstill und schwül. Der Kalkstaub, der von den Lastwagen aufgewirbelt wurde, die den fertigen Tabak fortschafften, ließ die Hitze noch unangenehmer empfinden. Der Staub legte sich auf die verschwitzten Gesichter der Arbeiter, drang in den Mund, knirschte zwischen den Zähnen."
Wer legte den Brand in der Tabakstadt?
Svetlana Kuyumdzhieva und ihr Team hatten am Ende die Rechnung ohne die Wirte gemacht. Denn die Tabakhallen, die Plovdiv einst reich und wohlhabend gemacht hatten, waren in den Nachwendewirren privatisiert worden.
"Einige der Besitzer warteten nur auf den richtigen Moment, sie zu zerstören und mit dem Bau von Geschäftszentren zu beginnen. Als klar wurde, dass Plovdiv Kulturhauptstadt werden und Geld in die Stadt fließen würde, schien für einige der richtige Zeitpunkt gekommen, diesen Prozess zu starten."
Der Staatsanwaltschaft zufolge soll ein Obdachloser den Brand gelegt haben, der für das größte Feuer in Plovdiv seit dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich ist. Wen immer man heute in Plovdiv fragt, niemand glaubt an diese Version der Behörden. Auch Svetlana nicht. Und so bleibt dem alten Tabakviertel nur mehr ein Ort in der Literatur - im Roman von Dimitar Dimov.
Von den Ruinen der Tabakstadt ist man schnell in Plovdivs Zentrum. Hier steht man inmitten der tausendjährigen Geschichte dieser Stadt. Vom Minarett der ältesten Freitagsmoschee auf dem Balkan, errichtet um 1425, klingt der Ruf des Muezzins. 500 Jahre herrschten die Osmanen auf dem Balkan, nannten sie die Stadt Filibe.
Doch da hatte der Name schon zahlreiche Metamorphosen hinter sich. Plovdiv ist die älteste durchgängig besiedelte Stadt Europas. Und es gibt kaum einen anderen Platz auf dem Balkan, an dem die Schichten europäischer Geschichte so einträchtig versammelt und so gleichzeitig sichtbar sind, wie hier auf dem Platz vor der Dschumaja-Moschee.
"Lesen ist für die Plovdiver von erstrangiger Bedeutung"
Professor Vladimir Janevs Führungen durch das literarische Plovdiv beginnen stets auf diesem Platz mit seinem mediterranen Flair. Leise Musik aus Lautsprechern. Stimmengewirr aus einem Kaffeehaus. Vor der Moschee und den im Wind fächernden Palmen öffnet sich plötzlich die Erde. Sie gibt den Blick frei auf das freigelegte Ende einer römischen Kampfbahn. 180 Meter lang, gebaut für 30000 Besucher. Genau über dieser Kampfbahn verläuft heute Plovdivs beliebteste Fußgängerzone. In ihre Mitte strahlt über einem Geschäftseingang blau ein großes Logo: "Helikon" ist da zu lesen.
Drinnen: zwei Etagen Bücher. Alles was das Herz begehrt, sagt Solvina Kenderova. Seit 2008 arbeitet sie für Helikon. Seit 2010 führt sie die Plovdiver Filiale.
"Wir gehören zu den 27 Geschäften der Helikon-Buchhandelskette, die in allen größeren Städten Bulgariens präsent ist. Ich arbeite schon seit zehn Jahren für die Familie Panayotov, der die Kette gehört und kenne noch die Zeiten, in der sich nicht alle Kunden ein Buch leisten konnten. Aber ich kann sagen: Lesen ist für die Plovdiver Bürger von erstrangiger Bedeutung."
Mit ihren hellen und freundlichen Buchhandlungen und ihren kompetenten Buchhändlerinnen haben die Panayotovs der bulgarischen Literatur wieder ein Zuhause gegeben. Vielleicht sogar mehr als das.
"Natürlich hat sich inzwischen der Geschmack der Leser geändert. Natürlich wird auch bei uns viel amerikanische Literatur gelesen. Das wird auch so bleiben. Aber die Qualität der bulgarischen Gegenwartsliteratur ist meiner Meinung nach von Jahr zu Jahr gestiegen. Und ich glaube, dass Helikon dazu beiträgt. Seit einigen Jahren gibt es zum Beispiel den Helikon-Buchpreis für moderne bulgarische Prosa. Auf die Shortlist schaffen es jedes Jahr zwölf Bücher, von denen eines am Ende den Preis erhält."
Weiter geht es, die Fußgängerzone abwärts. Liebespaare flanieren. Großmütter bleiben mit ihren Enkelinnen vor einer jungen Künstlerin stehen. Sie lässt an einer Stange befestigte Puppen zu bulgarischer Volksmusik tanzen.
"In Plovdiv ist die Zeit gemeinschaftlich und ewig"
Da kleckert schon mal ein halbes Eis unbeachtet aufs geblümte Kleidchen, bevor es weitergeht. Vorbei an den Wasserkaskaden mit dem bunten Kulturhauptstadt-Slogan "Plovdiv together". Bis hin zum Ende, wo sich die Fußgängerzone zu einer großen Piazza öffnet und die Mama am großen Springbrunnen wartet.
Ringsherum sitzt halb Plovdiv an kleinen Café-Tischen und diskutiert die Themen des Tages. Auch die Schriftstellerin und Dichterin Galina Valtsheva trinkt hier gern ihren Kaffee, sinniert und schaut ihrer Stadt beim Leben zu. Erst vor Kurzem erschien ihr neuer Gedichtband "Wolfswinter". Fünf Bücher hat sie bisher veröffentlicht. Ab und zu schreibt sie auch Essays. In einem mit dem Titel "Plovdiver Impressionen" heißt es:
"In Plovdiv ist die Zeit gemeinschaftlich und ewig. Mit unsterblichen Steingebeinen. Schicht über Schicht: Reste von Basiliken und Mosaiken. Hohe Tore mit Bögen. Dunkle Festungsmauern. Glatte Mamorplatten von Winden abgenagt und von Schritten und Regen geschliffen. Kopf- und Steinpflaster, die sich wie die unfassbaren Fäden der Jahrhunderte und Epochen überlappen. Und die Menschen? Unermüdlich kriechen sie wie Ameisen über die Fugen der Zeiten und löschen die Grenzen dazwischen aus."
"Plovdiv hat die Aufgabe, Menschen zu inspirieren. Die meisten Plovdiver kommen nicht von hier. Diese Stadt lebt durch die Zuwanderer. Sie sind es, die das Bild der Stadt prägen. Das Kulturhauptstadtjahr wird sicher ein ganz besonderes multiethnisches Fest. Den Slogan Plovdiv together finde ich sehr gut. Nur wenn man eng zusammenrückt, kann man etwas gewinnen. Nur so macht man Kultur."
Der Abend dämmert. Über den Café-Tischen beginnt ein violettes Farbenspiel. Und während Galina Valtsheva noch immer an ihrem Kaffee nippt, treffen in der U-Park-Gallery immer mehr Menschen ein. Fast jeden zweiten Tag findet in dieser Stadt eine Buchpremiere statt. In der U-Park-Gallery liest heute die Dichtern Iva Ivanova.
Eine Treppe führt in einen Keller. An der Decke dicke Entlüftungsrohre, an weißen Wänden große bunte Gemälde, ein Sofa mit Couchtisch und Sesseln. Davor das Publikum auf Klappstühlen. Kein Platz ist mehr frei.
Literatur to go
"die Tasse mit den Vergißmeinicht / der feine Riss im Porzellan / das harte grüne Kleid der Großmutter / aus der Schachtel mit den alten Knöpfen / steigt ein Geruch / von feuchtem Velour / dick die Staubschicht am Boden / der blinden Schnapsgläser / und unerreichbar im Bufett / die Salzkrümel eines Lebens / die Gegenstände sind ein Gedächtnis / in dieses Museum wagst du keinen Schritt / solange unter ihrem Gewicht / im obersten Regal / die Welt in sich zusammenfällt"
Iva Ivanova hat sich mit ihren feinen und präzisen Beobachtungen des Alltags und seiner Gegenstände schnell eine wachsende Fan-Gemeinde erschrieben.
"Bis jetzt habe ich vier Bücher herausgegeben. Zwei Romane, eine Erzählung und den Gedichtband, den ich heute vorgestellt habe. Mein Thema sind die Untiefen im Menschen, das, was ihn so verletzbar macht. Aber immer wieder auch die Alltagsgegenstände, denen wir oft nur wenig Beachtung schenken. Ich betrachte sie tatsächlich als Museum des menschlichen Gedächtnisses. Sie machen, dass wir uns erinnern. Und die Erinnerungen funktionieren wie eine Collage. Nur dank ihr kann ich mir die Welt neu denken."
Mit 17 kam Iva Ivanova aus einer Kleinstadt zum Studium nach Plovdiv. Heute ist sie 37. Sie ist geblieben. Konnte nicht mehr weg. Warum?
"Schwierige Frage. Vielleicht sind es die Menschen hier. Dieser Mix verschiedener Kulturen. Seit Jahrhunderten leben hier Menschen aus vielen Ländern: Armenier, Griechen, Juden, Roma – diese Mischung macht die Atmosphäre und den Geist der Stadt aus. Ganz persönlich aber ist die Stadt für mich eben auch ein Museum – ein Museum meiner Lieben, meines Lebens und der Bücher, die ich hier gelesen habe."
Nur 20 Minuten dauern die Lesungen. Literatur to go – dank dieses innovativen Konzepts wurde die U-Park-Gallery in kürzester Zeit zu einem wichtigen literarischen Hotspot der Stadt. Wer von Arbeit kommt, kann kurz hereinschauen, danach wieder gehen. Oder bleiben. Erfunden hat dieses literarische Highspeed-Format die Schriftstellerin Sylvia Dimitrova.
"Im 19. Jahrhundert gab es diese literarischen Damen-Salons. Nun sind wir am Anfang des 21. Jahrhunderts. Da braucht es neue, modernere Formen des Literatur-Salons. Zwar ist die Lesung nur kurz. Aber die Begegnung mit der Autorin ist jetzt erst in vollem Gange. Die Besucher haben sich inzwischen ein Glas Wein geholt, unterhalten sich, haben ein Buch in der Hand, reden mit der Autorin Die Idee ist, dass die Besucher miteinander kommunizieren. Es ist die Idee dieser Stadt. In ihr gibt es keine Bühne, keine Distanz zwischen Autor und dem Publikum."