Wie aus Touristen "Mitbewohner auf Zeit" werden sollen
Wegen seiner Rückständigkeit galt Matera nach dem Zweiten Weltkrieg als "Schande Italiens". Heute gehört der Ort zu den Perlen Süditaliens - und will im Kulturstadtjahr 2019 durch ein neuartiges Tourismuskonzept auf sich aufmerksam machen.
Das Jahr, in dem Matera Europäische Kulturhauptstadt ist, wird offiziell erst am 19. Januar eingeläutet. Mit einem großen Fest.
Deshalb wird jetzt auch immer noch gearbeitet in der Cava del Sole. Dort, in einem alten Tuffsteinbruch, entsteht ein Veranstaltungszentrum, der einzige große Bau, den sich Matera für dieses Jahr leistet. Jeden Tag sollen Besucher fünf verschiedene Veranstaltungen erleben können. Ausstellungen, kleine und große Events. Viele Bürger Materas machen mit, zum Beispiel, wenn Dantes Göttliche Komödie auf die Bühne gebracht wird.
Von der "Schande Italiens" zum Touristenmagnet
Matera, das war nach dem Zweiten Weltkrieg die Schande Italiens. Carlo Levi beschrieb in "Christus kam nur bis Eboli", wie die Menschen hier in Höhlen lebten, ohne Strom, ohne fließend Wasser.
Anna Maria d’Erole ist 92 Jahre alt und hat erlebt, wie es früher war. Das Haus ihrer Eltern stand im alten Matera, sie hat 14 Geschwister und musste schon mit zwölf Jahren anfangen, mit ihrem Vater auf dem Feld zu arbeiten:
"Es gab kein Wasser, kein Bad, nichts. Hinter der Tür war ein Brunnen. Da war das große Zimmer mit dem Lehmboden, keine Steine. Und dann gab es da den Stall mit den Pferden. Da haben wir ein Schwein gemästet. Es gab Hühner, alles im Haus."
Die Sassi, das alte Matera aus Höhlen, einfachen Gebäuden und kleinen Gassen hat man dann lange fast vergessen. Inzwischen werden sie nach und nach saniert, heute sind sie der Stolz eines ganzen Landes geworden – der Beginn einer neuen Geschichte, sagt der Architekt Mattia Antonio Acito:
"Wir können euch in erster Linie in unseren Häusern in den Sassi empfangen – indem wir sie zu Orten der Gastfreundschaft machen. Ich glaube, dass das ein gutes Beispiel ist für einen Neuanfang, eines kleinen Ortes im Süden, wo man endlich verstanden hat, dass Gäste zu empfangen bedeutet, eine neue Wirtschaft aufzubauen."
Und so soll Matera, im strukturschwachen Süden Italiens voller Probleme, zu einem Zeichen des Aufschwungs werden.
Auch das Umland hofft auf einen Aufschwung
Hier, an einem der ältesten, dauerhaft besiedelten Orte der Welt sind in den letzten Jahren schon die Restaurants und B&Bs wie Pilze aus dem Boden geschossen. Schon vor dem Jahr der europäischen Kulturhauptstadt standen die Zeichen auf Erfolg. Serafino Paternoster, Sprecher von "Matera 2019":
"Die Touristenzahlen sind ja schon gestiegen. Seit 2010, als wir uns beworben haben, bis 2017 sind wir von 200.000 Besuchern auf 470.000 angewachsen. 2019 denken wir, dass 700.000 bis 800.000 kommen werden. Früher gab es 2000 Betten, inzwischen 5000."
Und weil auch das vorne und hinten nicht reichen wird, hofft auch das Umland auf den Aufschwung. Die ganze Region Basilicata ist am Jahr der Kulturhauptstadt beteiligt – jede der über 130 Gemeinden soll für einen Tag im Fokus stehen.
Der Aufstieg von Matera ist letztendlich auch großes Kino. Immer wieder wurden hier große Filme gedreht – die Szenerie mit den kleinen Gassen, den gedrungenen Häusern und auch der Blick von der anderen Seite des Flusses Gravina eignen sich besonders gut für Bibelfilme. Pier Paolo Pasolini zum Beispiel drehte hier 1964 seine Version des Matthäus–Evangeliums. Alles änderte sich aber mit Mel Gibsons "Passion Christi". Rafaele Stifano muss es wissen. Er arbeitet als Location Scout, sucht gute Orte für neue Filme:
"Die Passion Christi hat das wirtschaftliche Leben der Stadt verändert. Denn der Film hat auf grandiose Weise den Impuls zum Tourismus gegeben, zu der Präsenz der ganzen Welt, die Tag für Tag nach Matera kommt. Passion war der Film, der die Stadt Matera, die Sassi der ganzen Welt vorgestellt hat."
Zu viel Tourismus bedroht die Authentizität
Seitdem darf Matera auf der Route vieler Süditalien-Touristen nicht mehr fehlen. Natürlich werden im Jahr der Europäischen Kulturhauptstadt noch einmal viel mehr Besucher kommen. Und natürlich gibt es auch die Sorge, dass die Stadt mit ihren 60.000 Einwohnern, von denen nur ein paar Tausend im historischen Zentrum wohnen, überrannt wird. 800.000 Besucher in einem Jahr könnten zu viel sein für Matera, weiß auch Paolo Verri, der Generaldirektor von Matera 2019:
"Zu viel Tourismus ist ein Problem für die Authentizität der kleineren und mittleren Städte in Italien. Man muss das managen. Man braucht keine Auflagen, man muss nachdenken. Ich glaube, als Bürger und als Touristen können wir alle verstehen, dass es schlecht ist, wenn wir zu viele sind. Schlecht für unseren Aufenthalt und schlecht auch für die Orte, die irreal, künstlich werden."
Deshalb hofft man in Matera auf einen anderen Weg, will genau das verhindern. Dadurch, dass möglichst viele Materani mitmachen in diesem Jahr. Aber auch die Gäste, die kommen, sollen sich Zeit nehmen, Matera nicht abhaken wie viele andere Sehenswürdigkeiten. Deshalb sprechen sie hier nicht gern von "Touristen", deshalb bekommt jeder der Besucher eine Art Ausweis, sagt Serafino Paternoster, einer der Organisatoren:
"Wir sprechen immer von Mitbewohnern auf Zeit. Denn wir glauben, dass sich die Idee vom Tourismus verändern muss. Wir möchten, dass Bürger aus der ganzen Welt nach Matera kommen, die Stadt leben, nicht nur kurz anhalten um zu schauen, und dass dadurch etwas Nützliches entsteht. Für sie selber und für die anderen. Das ist das Konzept."
Dass dieses Konzept aufgeht, ist Matera zu wünschen. Diese Perle Süditaliens wird ein Jahr im Scheinwerferlicht stehen. Und hoffentlich ist der Aufschwung Materas nicht nur ein Beispiel für Süditalien, sondern auch dafür, dass ein Ort seinen Charakter behalten und sich trotzdem vielen Besuchern öffnen kann.