Europäische Kulturhauptstadt San Sebastian

Kultur statt Terror

Am Rathaus von San Sebastian sind Plakate befestigt, die auf die Auszeichnung als Europäische Kulturhauptstadt 2016 hinweisen.
Am Rathaus von San Sebastian sind Plakate befestigt, die auf die Auszeichnung als Europäische Kulturhauptstadt 2016 hinweisen. © dpa / picture alliance / Ana Lázaro Verde
Von Marc Dugge |
San Sebastian ist neben Breslau Europäische Kulturhauptstadt 2016. Die Stadt gehört schon seit Jahren zu den Favoriten von Spanien-Reisenden. Nun soll die Kulturhauptstadt noch mehr Touristen anlocken. Das Jahr steht unter dem Leitmotiv "Kultur für das Zusammenleben".
Mari Carmen sitzt auf einem Stein, unterhalb der Strandpromenade, in ihrem nassen Badeanzug. Sie trocknet sich ab. Langsam, sorgfältig und sehr routiniert. Erst die Arme, dann die Beine. Sie schwimmt so gut wie jeden Tag im Meer, bis in den Winter hinein. Auch wenn das Wasser nur noch 16 Grad warm ist. Seit Jahrzehnten macht sie das. Mari Carmen ist 75 Jahre alt. Für ihre Stadt findet sie nur Superlative.
"Göttlich… fantastisch…Ich bin hier geboren. Ich bin in die Stadt verliebt. Ich liebe San Sebastian mehr als meinen Mann. Damit ist alles gesagt."
Sie streicht sich mit einer Hand über ihre hoch toupierten, vielleicht etwas zu schwarzen Haare. Mari Carmen ist eine elegante, ältere Dame. So wie ihre Stadt, San Sebastian. Besonders hier an der Concha, dem Stadtstrand. Hier steht auch das "Londres". Ein Hotel-Palast im Stil der Jahrhundertwende, wie man sie auch in Nizza oder Cannes findet. Ein architektonisches Schmuckstück.
Da fallen die nüchternen Apartmentkomplexe links und rechts gar nicht auf. Sie machen die Concha kein bisschen hässlicher. Die vielen Wolken übrigens auch nicht. San Sebastian steht auch die Farbe grau ganz gut. Mari Carmen lässt ihren Blick über die Bucht schweifen und kann ihre Begeisterung nicht zurückhalten.
Das Klima lockte schon die Könige an
"Es ist die Landschaft, die Lage der Stadt und die Atmosphäre hier. Auch die baskische Küche ist sehr gut. Ich mag das Meer, diese Bucht, La Concha, aber auch den anderen Stadtstrand Zurriola. Der wird von vielen jungen Männern bevölkert, vielen Surfern, weil das Meer dort wilder ist.
Jeden Morgen gehe ich aus dem Haus und wandere zwei Stunden lang durch San Sebastian, dann am Strand entlang bis hinüber zur Landzunge. Dort drüben gibt es eine Seilbahn, die auf den Hügel fährt. Die Aussicht von oben ist fantastisch. Auch der Palast dort lohnt einen Besuch mit seinen riesigen Gärten. Und die Luft ... sie ist einfach unheimlich gesund hier."
Das Klima lockte schon die Könige nach San Sebastian. Seit dem 19. Jahrhundert ist San Sebastian die Sommerresidenz des spanischen Königshauses. Ein Seebad, das mit seiner alten Eleganz ein wenig Wiesbaden erinnert, die Partnerstadt. Die Hauptstadt der autonomen spanischen Provinz Baskenland ist aber viel cooler als Wiesbaden. Was schon allein an den Surfern liegt, die hier den Strand belagern oder mit ihren Surfboards durch die Straßen der Altstadt spazieren.
Eneko Goia besitzt wohl das schönste Büro an der Concha. Von seinem Fenster aus hat er einen Blick über die ganze Bucht. Er ist erst seit einigen Monaten Bürgermeister. Er weiß, dass viele Menschen in Deutschland beim Stichwort Baskenland andere Assoziationen haben als Tapas und schöne Strände, dass viele an die Zeit denken, in denen das Baskenland vor allem mit Anschlägen der Organisation ETA von sich reden gemacht hat, einer baskischen Terrorgruppe, die nach eigenen Angaben für die Unabhängigkeit des Baskenlands kämpfte - und über Jahrzehnte mehr als 800 Menschen umbrachte, unter ihnen vor allem Sicherheitskräfte und Politiker. 2011 verkündete die ETA einen Waffenstillstand.
"Die Stadt hatte immer schon auf Tourismus gesetzt. Aber die Gewalt hat verhindert, dass wir uns als Urlaubsziel richtig entwickeln konnten. Wer will schon an einen Ort reisen, von dem es immer nur Nachrichten über Gewalt gibt? Aber mit dem Ende der Gewalt 2011 ist der Knoten geplatzt: Seitdem sind kontinuierlich immer mehr Besucher nach San Sebastian gekommen."
Die Europäische Kulturhauptstadt soll das Image von San Sebastian ein für alle Mal aufpolieren, helfen, die düstere Zeit hinter sich zu lassen. Das Motto heißt: "Cultura para convivir", "Kultur für das Zusammenleben". Oberflächlich klingt das belanglos. Doch im terrorgeplagten Baskenland ist es das nicht.
"Das ist ein sehr gut gewähltes Motto. Es zeigt, dass unsere Gesellschaft alte Zeiten überwinden will. Wir haben harte Jahre hinter uns. Deshalb wollen wir Kultur als Werkzeug benutzen, um das Zusammenleben wieder zu lernen. Uns würde es freuen, die Welt an unseren Erfahrungen teilhaben zu lassen, zu zeigen, dass die Kultur helfen kann, das Zusammenleben zu fördern. Gerade in diesen Zeiten ist das so wichtig wie nie zuvor."
Eine Anspielung auf die Attentate von Paris. Der Terror beherrscht wieder die Schlagzeilen, der islamistische Terror. Es ist ein anderer Terror als der damals im Baskenland, wo die Familien der Mörder und Opfer sich oft kennen, aus demselben Viertel kommen, dieselbe Sprache sprechen, denselben Fußballverein anfeuern. Und dieselben Bars besuchen.
Zwei Uhr mittags in der Taberna Gandarías, eine der beliebtesten Tapas-Bars von San Sebastian. Auf dem Tresen stapeln sich die Pinchos, für die San Sebastian so berühmt ist. Pinchos sind kleine Stücke Weißbrot, die dick mit Köstlichkeiten belegt sind - und die von einem kleinen Spieß, einem Pincho, vor dem Auseinanderbrechen bewahrt werden.
Essen ist wichtiger Teil der Kultur
Aufgespießt sind heute: Ziegenkäse mit Speck in Balsamico-Sauce, Kabeljau-Tomatentartar, weißer Thunfisch mit karamellisierten Zwiebeln, Gambas mit Bechamelsauce und auch Steakstreifen mit warmer Gänseleberpastete. Der Renner ist hier aber das Pilzrisotto mit baskischem Käse. Felipe Aguirre führt das Gandarías seit 13 Jahren, zusammen mit seiner Frau und seinem Bruder.
"Bei uns im Baskenland ist das Essen ein wichtiger Teil der Kultur. Wenn immer wir irgendwas zu besprechen haben oder uns nur zusammensetzen, muss etwas zu essen auf dem Tisch stehen! Heute ist es üblich, dass man erst ein paar Pinchos isst und später ein Hauptgericht. Wenn man nach San Sebastian kommt, muss man Pinchos probieren. Aber nicht unbedingt jeden Tag – es gibt ja noch so vieles anderes zu essen!"
San Sebastian ist ein Traum für Fans der guten Küche. Im französischen Gastronomie-Führer Michelin ist ein großer Abschnitt San Sebastian gewidmet. Kaum eine andere Stadt auf der Welt besitzt mehr Michelin-Sterne pro Quadratmeter als San Sebastian: insgesamt stolze 16. Nur das japanische Kyoto hat mehr.
Wenn die Basken am Freitagabend ausgehen, in den Gassen der Altstadt, dann spazieren sie nur in die vielen, vielen Bars. Sie probieren in der einen Bar ein, zwei Pinchos - und ziehen dann weiter. Ein Pincho kostet meist zwischen zwei und drei Euro. Eine Nacht in San Sebastian kann ziemlich lang werden. Und, wenn man nicht aufpasst, auch ziemlich teuer. Aber das Durchprobieren macht einen riesigen Spaß.
Die Gegend ist ein Dorado für Feinschmecker. Kaum zu glauben, dass hier einmal ein Zentrum des Terrors war. Noch bis vor wenigen Jahren gingen Politiker nur ungern ohne Bodyguards speisen. Nicht ohne Grund. Im Nachbarlokal von Felipe Aguirre wurde vor 20 Jahren der Vize-Bürgermeister der Stadt erschossen. Beim Essen. Diese düsteren Zeiten seien vorbei, sagt Felipe Aguirre. Die Macht der ETA sei in der Altstadt gebrochen.
Tatsächlich gibt es aber noch einige Bars, in denen man über die ETA kaum böse Wörter hören wird, wo früher die Unterstützer Geld für die Terrorgruppe gesammelt haben - und wo heute Fotos der Häftlinge über dem Tresen hängen. Nein, man kann nicht über San Sebastián sprechen, ohne auch über den Terror zu sprechen. Die ETA mag ein Phänomen von gestern sein. Doch sie prägt das Leben von San Sebastian auch heute noch. In der malerischen Altstadt ist das Thema immer noch präsent. Aber wo Konflikt ist, ist auch Kunst.
Baskischer Käse in einer großen Pfanne
Baskischer Käse in einer großen Pfanne: Das Essen ist ein wichtiger Teil der Kultur.© imago / ecomedia / Robert Fishman
Pablo Berástegui ist der künstlerische Leiter der Kulturhauptstadt. Er hat sein Büro in der alten Feuerwache von San Sebastian. Irgendwie passend. Schließlich musste Berástegui in den letzten Monaten immer wieder den Feuerwehrmann spielen, dem hochpolitischen Programm eine Richtung geben und Sponsoren ebenso für das Projekt begeistern wie zerstrittene Politiker, argwöhnische Journalisten und skeptische Bürger. Der 47jährige wirkt müde. Er ist ein erfahrener Kulturmanager. Aber hier in San Sebastian hängt die Latte besonders hoch.
Bürger sind an Projekten beteiligt
"Als das Projekt im Jahr 2008 angestoßen wurde, war allen klar, dass es nicht darum geht, neue Kulturzentren zu schaffen oder das kulturelle Angebot der Stadt zu verbessern, sondern darum, diese zerrissene Netz der Gesellschaft wieder zu flicken. Menschen, dazu zu bringen, dass sie sich wieder in die Augen sehen können. Anders als andere Kulturhauptstädte wollen wir kein Geld für neue Infrastruktur oder Städtebau ausgeben. Wir wollen Software schaffen, keine Hardware. Alles Geld fließt in die künstlerische Arbeit."
Es soll Musik- und Tanzveranstaltungen geben, Kunstprojekte, Diskussionen, Theaterstücke, Installationen. Bürger können sich mit eigenen Projekten einbringen und Mittel dafür bekommen. Über die Vergabe entscheidet ein Bürger-Komitee. Das ganze Programm wird an drei Leitmotiven aufgehängt, an drei thematischen Leuchttürmen. Ein Theaterstück über Konfliktszenen aus dem Baskenland steht etwa unter dem Zeichen des Leuchtturms des Friedens.
"Uns gefällt die Metapher des Leuchtturms. Er zeigt uns mit seinem Licht den Weg, den wir folgen können - oder eben nicht. Da ist zum Beispiel der Leuchtturm des Friedens. Wir gehen von einem unvollkommenen Frieden aus, einem Frieden, der jeden Tag geschaffen werden muss. Dann ist da der Leuchtturm des Lebens, der sich auf das Wohlergehen bezieht, auf unsere Beziehungen zu unserer Umgebung, wie wir uns in der Gemeinschaft präsentieren. Und dann ist da noch der Leuchtturm der Stimmen, da geht es im engeren Sinne um Kultur, um künstlerische Ausdrucksweisen"
Das klingt alles ziemlich abstrakt .Was er mit San Sebastian genau vor hat, lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen.
Dagegen ist das, was die Baskin Maixabel Lasa macht, sehr konkret. Sie ist ein Leuchtturm des Friedens aus Fleisch und Blut. Sie will dem Feind, dem Mörder, in die Augen sehen, obwohl das sehr viel Mut und Überwindung kostet. Maixabel ist Mitte 60, eine Verwaltungsbeamtin mit grauem Kurzhaarschnitt und wachen Augen. Sie macht sich gerade einen Café Cortado in ihrem Txoko (sprich; Tschoko), einer Art Dorfgemeinschaftsküche, wo die Nachbarn zusammen kochen und dadurch die Gemeinschaft stärken. Es gibt viele Txokos im Baskenland.
"Hier kommen sie alle hin: die Nationalisten, die Nicht-Nationalisten, diese und jene. Es ist ein Miteinander. Hier zeigt sich, dass man zusammenleben kann – und zwar ohne Gewalt - indem man zusammen kocht!
150 Mitglieder hat ihr Txoko. Und sie ist stolz darauf. Kein Wunder: Auf diese Küche wären viele Köche neidisch. Sie ist ausgerüstet mit modernsten Geräten aus blitzendem Stahl. Das Kochen ist ihnen eben wichtig, den Basken. Am liebsten in Gesellschaft. Für Maixabel Lasa war dieser Txoko auch ein Zufluchtsort, als es ihr schlecht ging.
Ihr Mann Juan Mari Jáuregui war lange Zivilgouverneur der Region San Sebastian, ein lokaler Verwalter der Zentralregierung in Madrid. Im Juli 2000 saß er mit einem Bekannten in einem Café, als sich zwei Männer seinem Tisch näherten – und zwei Schüsse auf Jáuregui abfeuerten. Er starb kurze Zeit später im Krankenhaus. Seither engagiert sich Maixabel Lasa für eine Versöhnungsinitiative. Und fasste einen Entschluss: Sie will die beiden Mörder ihres Mannes treffen. Im Gefängnis. Zusammen mit einer Mediatorin und Personenschützern.
"Ich dachte: Das kann ein Sandkorn auf einem langen Weg des Miteinanders sein. Irgendwann werden die Beiden aus dem Gefängnis kommen und mit uns zusammenleben müssen! Alle Menschen verdienen eine zweite Chance. Ich habe nicht gedacht, dass mich das Treffen so sehr bewegen würde. Aber da habe ich mich geirrt. Als ich aus dem Gefängnis kam fühlte ich mich befreit, wie als könnte ich schweben! Zu sehen, dass die Beiden, die meinen Mann getötet hatten, heute bereuen, war mir wichtig. Dass sie nicht aus dem Gefängnis kommen und sich als Helden fühlen – das hat mich erleichtert."
Wohnungen waren früher Theaterlogen
Drei Stunden spricht sie mit dem Häftling Ibon. Einem reuigen Mörder, der nun ganz allein dasteht. Denn in den Augen der ETA-Anhänger ist er jetzt ein Verräter.
"Soweit ich mich erinnere, endete unsere Unterhaltung mit einer Umarmung. Diese Menschen brauchen draußen oft Hilfe, um Arbeit und Wohnung zu finden. Ibon, einer der Häftlinge, sagte mir, dass er sich im Gefängnis fast wohler fühle als in Freiheit. Wie kann auch man einfach draußen auf der Straße sitzen, vor den Augen der Opfer, und einen Kaffee trinken? Ich sagte den Beiden: Ich bin lieber die Witwe von Juan Marí als Eure Mutter. Denn es muss furchtbar sein, einen Sohn wegen Mordes im Gefängnis sitzen zu haben."
Maixabel Lasa will helfen, dass sich Täter und Opfer wieder in die Augen schauen können. Sie engagiert sich für Versöhnungsinitiativen. Sie ist überzeugt davon, dass auch die Kultur beim Zusammenleben helfen kann, dass der Slogan der Europäischen Kulturhauptstadt einen Sinn hat.
Der Plaza de la Constitución ist das Herzstück der Altstadt. Ein rechteckiger, majestätischer Platz, von barocken Häuserfronten eingerahmt. Über jedes der Balkonfenster ist seit jeher eine Nummer gemalt, als wären die Wohnungen einmal Theaterlogen gewesen. Und tatsächlich waren sie das! Früher fanden auf der Plaza de Constitución Stierkämpfe statt. Die Eintrittskarten konnte man im ehemaligen Rathaus am Platz kaufen. Heute werden hier längst keine Stiere mehr über den Platz gejagt, sondern allenfalls mal Taschendiebe. Auf der Plaza lässt sich am frühen Abend wunderbar ein Aperitif trinken oder shoppen: Hinter den Torbögen verstecken sich viele Geschäfte.
Im Haus Nr. 3 war jahrelang eine Buchhandlung untergebracht: Die "Libreria Lagun". Einer der Mitinhaber ist Ignacio Latierro, ein freundlicher, älterer Herr um die 70. Er trägt Krawatte unter der Strickweste, das weiße Haar ist sorgfältig gescheitelt. Ein alter Buchhändler wie er im Buche steht. Allerdings ein sehr politischer. Früher engagierte er sich für die Kommunisten, später saß er für die Sozialisten im Regionalparlament.
"Natürlich ging es uns vor allem darum, Bücher zu verkaufen und damit Geld zu verdienen. Aber die Buchhandlung hatte immer auch eine klare demokratische Haltung, eine Haltung, die sich früher vor allem gegen die Franco-Diktatur richtete. Das machte uns natürlich damals schon Probleme – mit den Behörden, aber auch mit rechtsextremen Gruppen. Sie verübten sogar einen Bombenanschlag auf uns. Allerdings waren sie so unfähig, dass der Sprengsatz nach hinten losging und nur die Fassade des Nachbargeschäfts zerstörte."
Später geriet die liberale Buchhandlung ins Visier der ETA: weil sie ein Ort für politische Debatten war, weil sie Stellung bezog gegen den Terror. ETA-Anhänger beschmierten den Laden mit sogenannten "Pintadas", ETA-Slogans. Sie warfen Molotov-Cocktails, zerstörten die Schaufenster, schmissen Bücher auf die Straße und verbrannten sie. Ignacio Latierro weigerte sich, klein beizugeben. Selbst bei 20 Sabotageakten jährlich auf seinen Laden - bis zum September 2000.
"Damals versuchte die ETA, José Ramon Recalde umzubringen, den Ehemann meiner Geschäftspartnerin. Der war sozialistischer Politiker und Mitglied der baskischen Regierung. Glücklicherweise haben sie es nicht geschafft."
Kulturhauptstädte als touristische und kommerzielle Angelegenheit
Ein Terrorist hatte Recalde an seiner Haustür überrascht und in den Kopf geschossen. Wie durch ein Wunder überlebte er. Die Kunden der Bücherei überzeugten Ignacio Latierro, umzuziehen. Die Libreria Lagun residiert nun nicht mehr in der Altstadt, sondern eher versteckt in einer ruhigen Seitenstraße. Es ist wohl besser so.
Ignacio Latierro ist skeptisch, was das Motto der Kulturhauptstadt angeht. Er glaubt nicht daran, dass nur mit Kultur eine Gesellschaft gerechter oder toleranter werden kann.
"Die Kulturhauptstädte sind doch im Grunde eine sehr touristische, kommerzielle Angelegenheit. Die Kultur gerät da in den Hintergrund. Die Grundidee war ja, dass San Sebastian ein Symbol für den Frieden sein soll. Aber die erste Präsentation wurde von Köchen und Popmusikern gemacht. Natürlich bin ich als Baske ein Fan der guten Küche. Ich liebe die Pinchos von San Sebastian. Aber ich glaube nicht, dass Pinchos das Zentrum unserer Kultur sind."
Doch die Pinchos sind zumindest ein wichtiger Teil von San Sebastian. Gerade in der Altstadt, wo Ignacio Latierro geboren wurde, wo er zur Schule gegangen ist, wo er später seinen Buchladen hatte, an der Plaza de la Constitución. Heute gehe er nicht mehr oft dorthin, sagt er. Wegen der vielen Erinnerungen. Er will sie hinter sich lassen.
Auch San Sebastian will die Traumata der Vergangenheit überwinden, die Zeit, in der Personenschützer im Baskenland Hochkonjunktur hatten, in der manche Wörter in der Öffentlichkeit lieber nicht gesagt wurden. Die Zeit der Angst ist vorbei. Sicher hat die Kultur einen Teil dazu beigetragen: mit mutigen Debatten, mutigen Buchhändlern. Aber es waren vor allem auch mutige Politiker und Polizisten, die sich dem Terror entgegenstellten. Mutige Bürger, die auf die Straße gingen, weil sie genug vom Töten hatten. Mutige ETA-Häftlinge, die Reue zeigten. Und vor allem mutige Frauen wie Maixabel, die die Mörder ihrer Liebsten umarmten – und damit Zeichen gesetzt haben.
Jetzt kann San Sebastian das werden, was es längst ist: eine kultivierte Stadt, in die man gern reist, weil sie in einer der schönsten Gegenden Europas liegt mit traumhaften Stränden und saftig-grünen Hügeln.
Und Bergen von saftigen Pinchos natürlich.
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