Europäische Schriftsteller

"Mehr Mut, mehr Fantasie!"

Im Oktober 2012 erinnerte der ungarische Schriftsteller György Dalos in der Nikolaikirche Leipzig an die friedliche Revolution vom Herbst 1989.
Im Oktober 2012 erinnerte der ungarische Schriftsteller György Dalos in der Nikolaikirche Leipzig an die friedliche Revolution vom Herbst 1989. © picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Moderation: Stephan Karkowsky |
Europa, Quo Vadis? Die Europäische Schriftstellerkonferenz debattiert derzeit über die Zukunft Europas. Der ungarische Autor György Dalos fordert von seinen Kollegen, weniger Angst zu haben.
Erste Eindrücke von der Europäischen Schriftstellerkonferenz
Stephan Karkowsky: Einer, der beide Treffen erlebt hat, also die historische Europäische Schriftstellerkonferenz 1988 und die, die gerade läuft, ist der Mann, der gestern Abend die Eröffnungsrede halten durfte, der ungarische Schriftsteller György Dalos. Herr Dalos, guten Tag!
György Dalos: Guten Tag!
Karkowsky: Danke, dass Sie bei uns sind! Das Berliner Autorentreffen schließt an an eine Konferenz im Mai 88, damals noch in Westberlin. Die Jüngeren können sich das gar nicht mehr vorstellen. Titel: "Ein Traum von Europa". Politisch war das ein sehr beengtes Europa, dem EU-Vorläufer gehörten erst zwölf Mitglieder an, Osteuropa war durch den Eisernen Vorhang vom Westen getrennt. Wie sind denn Sie eigentlich nach Westberlin gekommen?
Dalos: Ich war damals in Wien mit einem merkwürdigen, für die Zeiten typischen Pass. Ich durfte einmal Ungarn verlassen, einmal zurückkommen in einem Jahr. Und ich war so ein bisschen, fast halb legal in Wien.
Und dann habe ich aufgrund meiner früheren Arbeit mit Gruppen wie Ost-West-Dialog plötzlich die Einladung erhalten. Ich musste natürlich mit Flugzeug fahren über die Bundesrepublik, brauchte noch ein Visum für die Bundesrepublik, aber ich bin dann glücklich angekommen.
"Nicht alle konnten reisen"
Karkowsky: Die meisten wären wahrscheinlich direkt über Schönefeld geflogen, über die DDR. Das konnten Sie aber nicht?
Dalos: Das konnte ich nicht, weil ich aus der DDR aufgrund meiner Kontakte mit der dortigen Opposition oder mit Kollegen ausgewiesen wurde. Das war sehr für die damaligen Zustände typisch, wie ich dann nach Westberlin kam.
Karkowsky: Das war auch eine bewegte Zeit, ich weiß, dass Sie kurz vorher noch ein Interview gegeben haben im österreichischen Fernsehen. Denn man darf nicht vergessen, 88 herrschte in Ungarn noch der sogenannte Gulaschkommunismus unter János Kádár, der war gerade zurückgetreten und Sie mussten dazu sprechen, weil Sie ja bereits seit einem Jahr im Exil lebten.
Dalos: Ja, das haben alle meine Freunde auf der Konferenz, hat mich sozusagen auch mit nach Wien geschickt, damit jemand von der demokratischen Opposition auch dabei ist. An dieser Konferenz waren übrigens nur Polen und Ungarn mit einem gültigen Reisepass angekommen, alle anderen Ostblockländer wurden entweder durch Emigranten vertreten, also die Russen zum Beispiel oder die DDR, da ist Jürgen Fuchs, der auch in einem deutsch-deutschen Exil lebte, als Vertreter aufgetreten ... Also, nicht alle konnten reisen.
"Keinen anderen Ausweg als Europa"
Karkowsky: Wie sah er damals aus, der Traum von Europa? Wagte jemand bereits, die Maueröffnung zu träumen?
Dalos: Ja. Wir haben einen unglaublichen Vorteil gegenüber den offiziellen Politikern, wir hatten keine Hemmungen, das zu sagen, was wir wollen. Und obwohl selbst in diesem zuversichtlichen Denken ... György Konrád war doch ein Vordenker und er war auch schneller, er hat direkt den Abbau der Mauer nicht einfach gefordert, sondern in Aussicht gestellt.
Man dachte auch in diesen damals schon sehr krisenhaften osteuropäischen Ländern, dass es ohnehin keinen anderen Ausweg gibt als Europa.
Karkowsky: Sie wollten quasi die Ergebnisse der Konferenz von Jalta rückgängig machen, die ja wiederum auch – das muss man heute sagen – unter diesen Umständen auf der Krim stattfand, was auch wiederum viele nicht mehr wissen.
Dalos: Ja, Jalta war für uns ein Symbol der Unmöglichkeit. Das heißt, wir können zwar einige Sachen angenehmer gestalten im Rahmen des Systems, aber wir sind abhängig von der Sowjetunion. Und heute bedeutet Jalta leider etwas anderes, etwas Tragisches, Russland als sozusagen historischer Nachfolger der Sowjetunion hat jetzt versucht, eine ähnliche Rolle zu spielen.
Das heißt, sie wollen etwas wiederherstellen, was in meinen Augen nicht mehr wiederherzustellen ist, alte Grenzen. Und Grenzen wollten wir nie, wir wollten die Grenzen nicht verändern, wir wollten sie überflüssig machen. Und das ist natürlich ein völlig anderes Projekt.
"Es gab schon damals Euro-Skeptiker"
Karkowsky: Gab es denn damals in Westberlin überhaupt gar keine Hardliner, die also den Eisernen Vorhang verteidigten? Waren ausschließlich Menschen unter sich, die sagten, wir müssen ein Europa schaffen, in dem es keinen Ost- und Westblock mehr gibt?
Dalos: Es gab schon damals Euro-Skeptiker, aber das war nicht die wirkliche Trennlinie. Sondern die wirkliche Trennlinie war zwischen uns und den Realpolitikern, die all diese Träume zumindest als übereilt betrachteten. Also, die offizielle Bundesrepublik war weit entfernt davon, das zu wollen, was in anderthalb Jahren dann wirklich eingetreten war.
Karkowsky: Sie haben in Ihrer Eröffnungsrede darauf hingewiesen, dass auch heute die verschiedenen Länder Europas natürlich ganz unterschiedliche Länder geblieben sind, obwohl sie Mitglieder der EU sind. Außenminister Frank-Walter Steinmeier wies auf der Konferenz gestern darauf hin, die geografischen Grenzen sind nicht immer die kulturellen. Gab es denn 1988, obwohl Europa geteilt war, ein ungeteiltes Kultureuropa?
Dalos: Gab es sowieso nicht und wird es auch nie geben. Aber 1988 war zumindest ein Teil Europas, und das war der östliche Teil, der eindeutig und sehr stark an diesem Traum von ganz Europa festhielt. Dieser Traum war nicht nur mit dem Ostblock verhindert, sondern mit zwei Weltkriegen.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es auch europäische, paneuropäische Bewegungen zum Beispiel. Aber dass es nach zwei Weltkriegen und dem Zusammenbruch der Diktaturen im Osten möglich wurde, das war doch eine der größten und wichtigsten Ereignisse des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
"Es entscheiden immer mehr die, die nicht an die Urnen gehen
Karkowsky: Wie hat das den Traum von Europa, den Sie damals geträumt haben, verändert? Also, wie wird heute auf der Konferenz über Europa diskutiert?
Dalos: Ich glaube, dass diese Diskussion, die damals noch sehr lebendig war, die ist heute ein bisschen, nicht nur ein bisschen, sondern überhaupt müde geworden. Es hängt überhaupt mit einer Müdigkeit zusammen, und das lässt sich bei den Europawahlen auch messen.
2009 sind in Ungarn zum Beispiel 35 Prozent der Wähler an die Urnen gegangen und in anderen Ländern war das auch nicht unbedingt viel besser. Ich habe überhaupt das Problem, dass das Interesse an diesem Projekt nachlässt, und andererseits entscheiden die Europawahlen und die nationalen Wahlen immer mehr diejenigen, die nicht an die Urnen gehen. In Ungarn waren das 40 Prozent jetzt.
Karkowsky: Sie haben gehört, wir haben in dem Bericht von der Konferenz Michail Schischin zitiert, der russische Autor, der in der Schweiz lebt, und er sagt, er glaube nicht, dass ein Schriftsteller ein Europa-Projekt unterstützen müsse. Sehen Sie das anders?
Dalos: Müssen muss man nicht. Man kann schon. Also, der Schriftsteller ist auch ein Staatsbürger. Er denkt vielleicht nicht nur an die Literatur. Ich bin mit Schischkin einverstanden, in meinen Romanen kommt Putin auch nicht vor. Also, er muss noch darauf warten, dass er vorkommt. Aber ich glaube nicht, das ist immer eine Frage von Temperament, von Interesse, ich bin zum Beispiel viel mehr politisch geprägt als diejenigen Autoren, die nach der Wende aufgewachsen sind.
"Bei meiner Generation gab es ein Phänomen"
Karkowsky: Können denn die europäischen Schriftsteller einen Beitrag leisten zur Integration Europas, dass wir also enger zusammenwachsen zwischen Ost und West?
Dalos: Vielleicht nicht nur die Schriftsteller, aber bei meiner Generation gab es ein Phänomen, wir hatten damals, 88, ich würde sagen, mutiger gedacht als geredet, und heute reden wir mutiger, als wir denken. Und dieser Trend müsste bei den Intellektuellen vielleicht verwendet werden, ein bisschen mehr Mut, mehr Fantasie, mehr Traum und weniger Angst!
Karkowsky: Zur Europäischen Schriftstellerkonferenz unter dem Titel "Europa – Traum und Wirklichkeit" hörten Sie den ungarischen Schriftsteller György Dalos. Ihnen besten Dank!
Dalos: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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