Europäische Sozialdemokratie in der Krise

Wir sind dann mal weg

Teilnehmer einer Protestaktion gegen eine mögliche rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen halten auf dem Domplatz in Erfurt ein Banner mit der Aufschrift "Wer hat uns verraten...? Sozialdemokraten!" hoch.
Glaubwürdigkeitsverlust ist eines der größten Probleme der europäischen Sozialdemokratie. © dpa / Jens-Ulrich Koch
Von Ulrike Köppchen |
Totaler Absturz in Frankreich und den Niederlanden, ein historisch schlechtes Ergebnis bei der deutschen Bundestagswahl - für die europäische Sozialdemokratie war 2017 ein rabenschwarzes Jahr. Droht der endgültige Niedergang oder geht da noch was?
15. März 2017. Die Augen Europas sind auf die Niederlande gerichtet, wo an diesem Tag ein neues Parlament gewählt wird.
"Ich war an diesem Tag live im deutschen Fernsehen, bei 'heute' oder in der ARD-Sendung. Sie haben nur über Geert Wilders geredet und ich sollte erklären, warum Geert Wilders die Wahl nicht gewonnen hat."
Rene Cuperus, Wissenschaftler, Kolumnist und bis vor kurzem Direktor für Internationale Beziehungen der Wiardie-Beckman-Stiftung, einem Think Tank der Partij van de Arbeid.
"Die internationalen Medien waren aufgescheucht durch den Brexit und die Wahl Donald Trumps und dachten, jetzt würde ein populistischer Tsunami über Kontinentaleuropa hereinbrechen. Ich erinnere mich sogar, dass die Moderatorin die Fragen verändern musste, die sie mir stellen wollte, weil die sich nur um Wilders drehten. Es gab eine richtige Wilders-Hysterie."
Der rechtspopulistische Tsunami blieb aus, doch an dessen Stelle trat eine andere Welle. Sie fegte die holländischen Sozialdemokraten fast vollständig von der politischen Landkarte. Ein beispielloser Absturz: vom Juniorpartner einer Großen Koalition mit immerhin 26 Prozent Wählerstimmen an den Rand der politischen Bedeutungslosigkeit.
"Wir sind auf sechs Prozent gefallen, das ist das schlechteste Ergebnis einer sozialdemokratischen Partei in Europa."

Seit der Wahl ist die PvdA in einer Art Schockstarre

Überraschend kam die Niederlage für Rene Cuperus nicht. Juniorpartner in einer Großen Koalition, Arbeitsmarktreformen ähnlich wie die Agenda 2010 in Deutschland, dazu eine harte Sparpolitik – dass das bei einem sozialdemokratischen Wählerklientel nicht gut ankommt, lässt sich leicht ausrechnen.
"Man konnte voraussehen, dass es kein gutes Wahlergebnis sein würde. Aber dass es so verheerend sein würde, war dann doch ein Schock. Wir haben in den letzten Jahrzehnten mehrmals Wahlen verloren, und jedes Mal nach großen Niederlagen wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt – ich selbst war Autor solcher Berichte: was lief falsch? Was müssen wir verändern? Aber dieser Schock war so tief und existenziell, dass wir bis heute keine Untersuchung der tieferen Ursachen dieser Niederlage haben. Ich meine, das spricht Bände."

Kaum noch sozialdemokratische Regierungen in Europa

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Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel© Foto: WZB / David Ausserhofer
"So dünn war die Regierungsbesetzung mit sozialdemokratischen Parteien in Europa vermutlich die letzten drei Jahrzehnte nicht."
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin und parteiloses Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Allenfalls in Ländern wie Portugal, Malta oder Albanien stellen Sozialdemokraten derzeit noch den Regierungschef. Und natürlich in Schweden. Doch auch in Skandinavien sind die goldenen Zeiten für die Sozialdemokratie längst vorbei:
"Skandinavien war immer das Walhalla in der Nachkriegszeit der Sozialdemokratie. Dort konnten Sozialdemokraten besonders lange regieren. Aber diese großen sozialdemokratischen Parteien sind auf ein Mittelmaß geschrumpft, sie können nicht mehr allein die Regierung stellen, ganz selten noch in Minderheitsregierungen, sie brauchen also Koalitionen, die sozialdemokratische Politik verwässert. Also, auch in Skandinavien ist die Sozialdemokratie auf ein Mittelmaß geschrumpft und kann die Politik nicht mehr so dominieren wie in den 50er-, 60er, 70er- und 80er-Jahren noch."

"Wir wollen mehr Demokratie wagen"

Es sind vor allem diese Zeiten, an die Sozialdemokraten heute sehnsüchtig zurückdenken: die goldenen 1960er- und -70er-Jahre, als mit Willy Brandt zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Sozialdemokrat Kanzler wird.
Oft zusammen mit den Christdemokraten schufen die SPD und ihre Schwestern in jenen Jahrzehnten regelrecht sozialdemokratische Gesellschaften: mit starken sozialen Sicherungssystemen und einer sozialen Marktwirtschaft.
Rene Cuperus: "Dieses Erbe der Sozial- und Christdemokraten machte Europa zu Mittelklassegesellschaften. Das ist weltweit einmalig. Diese Mittelklassegesellschaften sind recht egalitär, recht offen, tolerant und pluralistisch. Aber alles, was wir an Trends und Entwicklungen erleben, scheint im Kontrast zu diesem Ideal der Mittelklassegesellschaft zu stehen. Das ist erschreckend und bedroht die Zukunft Europas."

FRANKREICH oder: WIR SIND DANN MAL WEG

23. April 2017: Frankreich wählt einen neuen Präsidenten. Der glücklose François Hollande ist gar nicht mehr zur Wiederwahl angetreten. An seiner Stelle haben die Sozialisten Benoît Hamon nominiert, einen Vertreter des linken Parteiflügels und 2014 für kurze Zeit Bildungsminister im Kabinett Manuel Valls’. Chancen auf einen Sieg hat Hamon nicht: In den Umfragen liegt er deutlich hinter dem neuen Shooting-Star der französischen Politik, Emmanuel Macron, der Rechtsextremen Marine Le Pen und dem Konservativen François Fillon. Auf den letzten Metern läuft ihm auch noch der Kandidat der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, den Rang ab.
Am Abend des 23. April gesteht Benoît Hamon vor seinen Anhängern die Wahlniederlage ein und übernimmt die Verantwortung für das Desaster. Nur gut sechs Prozent der Wähler haben den Sozialisten ihre Stimme gegeben.
Bei den Parlamentswahlen am 11. und 18. Juni verlieren die Sozialisten, die bis dahin die Mehrheit in der Nationalversammlung stellten, 251 ihrer 280 Sitze. 24 Abgeordnete, die zuvor für die Sozialisten im Parlament saßen, waren schon vor der Wahl zur gerade erst gegründeten Partei von Präsident Macron übergelaufen, die die absolute Mehrheit gewinnt. Zahlreiche Mitglieder verlassen die sozialistische Partei, darunter Ex-Premier Manuel Valls. Am 1. Juli erklärt auch der gescheiterte Präsidentschaftskandidat Hamon seinen Austritt aus der Sozialistischen Partei.
Wolfgang Merkel: "Na ja, wenn man es etwas bösartig formuliert, kann man sagen: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff."

Macron - ein neues Modell für die Sozialdemokratie?

Am Abend seines Siegs über Marine Le Pen schreitet der frisch gewählte Präsident Emmanuel Macron zu den Klängen der Europahymne minutenlang allein zur Bühne am Louvre, wo sich seine Anhänger versammelt haben.
Der minutenlange, einsame Marsch, die Europahymne – die Inszenierung von Macrons Siegesrede ist über weite Strecken eine Kopie des Auftritt von François Mitterand, nachdem dieser 1981 zum ersten sozialistischen Präsidenten der V. Republik gewählt wurde. Auch was die politischen Inhalte angeht, sehen einige Kommentatoren Emmanuel Macron in der sozialdemokratischen Tradition. Gern wird ihm das Etikett sozialliberal angeheftet.
"Schlechter kann man Politik nicht interpretieren", sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel.
"Wenn jemand pro-europäisch ist, gilt er heute schon als ein Linker, als ein Progressiver, Macron ist kein Linker, er ist bestenfalls in der Mitte, in wirtschaftspolitischen Fragen ist er eher ein Neoliberaler, das darf man nicht verkennen."
Wolfgang Merkel sieht den Grund für den Erfolg Macrons vor allem in dessen Frontalangriff auf das Parteiensystem:
"Der Erfolg Macrons war vor allem ein Erfolg gegen die Parteien als solche. Macron ist ein Populist der Mitte, proeuropäisch, aber doch in einer Art und Weise mit der Nominierung seiner Kandidaten umgegangen, die in einer demokratischen Organisation nicht geht. Er nennt das Bewegung, er nennt das modern – die Parteien werden dadurch weiter desavouiert."

WER HAT UNS VERRATEN… oder: WIE DIE SOZIALDEMOKRATIE IHRE GLAUBWÜRDIGKEIT VERLOR

"Wenn elf Länder in Europa sozialdemokratisch regiert werden, ist das eine Chance, sozialdemokratische Politik zu entwickeln, die sich den veränderten ökonomischen und finanziellen Tatbeständen stellt. Die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen, heißt auch, dass die Zukunft nicht einfach daraus bestehen kann, dass man Vergangenes und Grundsätze der Vergangenheit fortschreibt. Denn vieles von dem, was gestern richtig war, ist morgen nicht mehr vernünftig."
Bodo Hombach 1999, Kanzleramtschef in der Regierung Gerhard Schröder. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre eröffnen sich nach langer Durststrecke der europäischen Sozialdemokratie in vielen Ländern plötzlich wieder Chancen. Es ist eine Zeit des Aufbruchs und des Umbruchs. Und einige sozialdemokratische Parteien in Europa setzen sich an die Spitze der Bewegung – die Labour Partei in Großbritannien unter Führung von Tony Blair etwa und die SPD unter Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Tony Blair beim Verlassen seines Hauses vor der Haustür in London.
Der frühere britische Premierminister Tony Blair war der erste sozialdemokratische Regierungschef, der den "Dritten Weg" umsetzte.© picture alliance / dpa / Facundo Arrizabalaga
Wolfgang Merkel: "Die Sozialdemokratie hat sich immer auch als die Partei der Moderne verstanden, und es gab in der Selbstbetrachtung die Einschätzung, wir sind einfach in den 60er- und 70er-Jahren stehen geblieben. Wir wollen einfach immer nur mehr Steuern und mehr Ausgaben, wir wollen immer einen starken Staat, aber gegenwärtig sind die internationalen Vorzeichen der Politik ganz anders gestellt. Es gibt eine Globalisierung, Internationalisierung, Öffnung – und da müssen wir mitgehen. Und dann wurde gedacht: Gibt es denn nicht auch was sehr Positives dabei?"
Die neuen Sozialdemokraten fahren einen wirtschaftsfreundlichen Kurs: Sie senken Einkommens- und Unternehmenssteuern. Sie liberalisieren den Finanzmarkt – sie sind es, die in Deutschland erstmals Hedgefonds zulassen. Und sie schicken sich an, das Sozialsystem und die Arbeitsmarktgesetze zu reformieren.
Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung 2003. Zusammenlegen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Lockerung der Regeln für Leiharbeit, Fördern und Fordern, keine Leistung ohne Gegenleistung - die Agenda 2010 sorgt für massive Proteste. Auf der Straße, aber auch innerhalb der SPD. Und Hartz IV wird zum Synonym für unsoziale Politik und für den Verrat der Sozialdemokraten an den sogenannten "kleinen Leuten".
Ein Demonstrant nimmt am 5.9.2002 in Berlin in einem selbstgefertigten Roboterkostüm mit der Aufschrift "Kein Recht auf Faulheit" an einer Kundgebung von Arbeitslosen teil. Auch im August 2002 hat die Zahl der Arbeitslosen die Vier-Millionen-Grenze überschritten.
Ein Demonstrant nimmt am 5.9.2002 in Berlin in einem selbstgefertigten Roboterkostüm mit der Aufschrift "Kein Recht auf Faulheit" an einer Kundgebung von Arbeitslosen teil. Auch im August 2002 hat die Zahl der Arbeitslosen die Vier-Millionen-Grenze übersc© dpa / Wolfgang Kumm
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hält das für eine Fehldeutung:
"Ich würde überhaupt sagen, die Agenda war in der Substanz wahrscheinlich gar nicht sozial abträglich. Sie hat die meisten Menschen nicht schlechter gestellt, sondern besser gestellt. Es hat nur eine kleine Gruppe voll getroffen, nämlich diejenigen, die immer gearbeitet haben, ein Jahr dann arbeitslos waren, die sofort dann in ALG2 hineingerutscht war, das war eindeutig eine ungerechte Politik."

Sündenfall Steuerreform

Der große Fehler der Sozialdemokratie sei nicht die Arbeitsmarktreform gewesen, sondern die Steuerreformen, durch die sich der Staat letztlich selbst "entmächtigt" habe.
"Der eigentliche Sündenfall – sozialdemokratisch gesehen – waren nicht die Arbeitsmarktreformen, sondern war vor allem die Steuerpolitik. Das Runterschrauben der Steuersätze für hohe Einkommen und für Einkommen aus Unternehmenstätigkeiten."
Allerdings stecke dahinter weniger Verrat als die Tatsache, dass die Sozialdemokratie damals dem neoliberalen Zeitgeist auf den Leim gegangen sei:
"Viel zu positiv die Globalisierung gesehen, viel zu negativ die Wichtigkeit des Staates als Instrument der Politik und viel zu euphorisch die Zivilgesellschaft. Dafür bezahlt die Sozialdemokratie heute auch."

KERN UNTERWEGS AM STAMMTISCH - WAHLKAMPF AUF ÖSTERREICHISCH

Christian Kern: "Politik wird ja bekanntlich am Stammtisch gemacht. Deshalb gehe ich heute in das Landgasthaus Buchner in Admont und höre mir an, welche Probleme den Menschen unter den Nägeln brennen."
Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern in einem Wahlwerbespot zur Nationalratswahl am 15. Oktober 2017. Noch regiert der SPÖ-Chef in einer Großen Koalition mit der ÖVP, doch auch in Österreich stehen die Sozialdemokraten gewaltig unter Druck: Sowohl der junge Konservative Sebastian Kurz sitzt Kern im Nacken als auch die Rechtspopulisten von der FPÖ.
- "Hallo."
– "Hallo."
– "Grüß Gott."
- Kern: "Ja, ich freu mich, dass ich da heut bei euch sein kann und Danke für eure Zeit."

Genosse der Bosse und Anwalt der kleinen Leute

Kern präsentiert sich im Wahlkampf mal als Genosse der Bosse, mal als Anwalt der "kleinen Leute". Er betont seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen und verspricht, dafür zu sorgen, dass auch die unteren Schichten ihren fairen Anteil an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs bekommen. Und er spart auch das Thema nicht aus, das den österreichischen Wahlkampf nahezu komplett beherrscht: Zuwanderung, vor allem die von Muslimen.
Frau am Stammtisch: "Das hier ist mein Land! Ich bin geboren in Österreich. Meine Eltern… mein Vater ist Salzburger, meine Mutter ist... Das kann's nicht sein! Die, die zu uns kommen, die müssen sich an mich anpassen, nicht ich an die."
Kern: "Ich bin der Meinung, wir müssen helfen. Wir müssen denen helfen, die aus Krieg und Zerstörung kommen, die gefoltert wurden – im Rahmen unserer Möglichkeiten. Aber wir können nicht über die Möglichkeiten hinausgehen. Und wenn jemand aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommt, dann muss man sagen, da haben wir leider keine Möglichkeiten mehr, zusätzliche Leute aufzunehmen."
Die Spitzenkandidaten für den österreichischen Nationalrat, Heinz Christian Strache (FPÖ), Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) (v.l.)
Die Spitzenkandidaten für den österreichischen Nationalrat, Heinz Christian Strache (FPÖ), Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) (v.l.)© imago / photonews.at
Dass der SPÖ-Chef sich im Wahlkampf immer wieder nach rechts aus dem Fenster lehnt, sorgt für Diskussionen. Doch am meisten belastet die Partei letztlich ein Skandal um "Dirty Campaigning". Ein von der SPÖ angeheuerter Wahlkampfmanager hatte auf Facebook zwei fremdenfeindliche und antisemitische Fake-Fan-Seiten zum ÖVP-Spitzenkandidaten Sebastian Kurz angelegt, was wenige Wochen vor der Wahl öffentlich wurde. Damit konnte die SPÖ auch die letzten Hoffnungen auf einen Wahlsieg begraben.

Hat der Rechtskurs der SPÖ den totalen Absturz verhindert?

Bei der vorangegangenen Nationalratswahl 2013 hatte die SPÖ mit knapp 27 Prozent ihr bis dahin schlechtestes Ergebnis. Dieses Resultat hat sie 2017 zumindest nicht unterboten, sondern gehalten.
"Die Sozialdemokraten haben sich sozusagen konsolidiert, weil es doch – und jetzt sage ich etwas ungeschützt: eine Bewegung in kulturellen Fragen und in der ganz zentralen Frage des Wahlkampfs, der Flüchtlingsfrage, doch stark konservative, manchmal auch rechte Positionen eingenommen hat", sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel.
"Und hätte sie das nicht, bin ich vollkommen überzeugt, dass sie noch viel mehr Aderlass an die FPÖ gehabt hätte. Eigentlich - auch wenn man das normativ nicht übermäßig sympathisch findet - hatten die Sozialdemokraten keine andere Wahl gehabt. Hätten sie gesagt: weiter Grenzen auf für Flüchtlinge, wir müssen ein humanes sozialdemokratisches Gesicht in die Welt halten, wäre es in Richtung Niederlande gegangen, nicht ganz, aber das wäre eindeutig ein Konzept der Selbstdestruktion gewesen."

IT'S THE CULTURE, STUPID

Rene Cuperus: "Reden wir von Wien. Wien ein Paradies. Die Lebensbedingungen dort sind so ziemlich die besten in der Welt – und dennoch haben sie diese merkwürdige rechtspopulistische Revolte. Wie kann man das verstehen?"
Ob in den Niederlanden, in Österreich, Großbritannien oder in Deutschland: die Themen Migration und kulturelle Identität werden zu existenziellen Problemen für die Sozialdemokratie. Über allem schwebt die ungeklärte Frage: wer ist "wir" und auf wen bezieht sich Solidarität in einer globalisierten, kapitalistischen Welt.
Denn als sich die Sozialdemokratie nach ihrem Flirt mit der neuen Mitte wieder ihrer alten Klientel, den unteren Schichten, zuwenden will, muss sie feststellen, dass diese ihnen in Scharen weggelaufen sind – ausgerechnet zur Rechten.
Wolfgang Merkel: "Weil sie etwas ansprechen, was die Sozialdemokraten kaum ansprechen wollten oder es nicht gewagt haben, und das muss man einfach sehen in den letzten Jahren, das ist die Frage der Immigration, das ist die Frage, wie gehen wir mit Hilfe suchenden Flüchtlingen bei uns um, wie gehen wir mit der Integration unserer immer heterogener gewordenen Gesellschaften um. Also ein kultureller Wandel. Und diese Menschen, die autoritäre Neigungen in kulturellen Fragen durchaus haben, die wurden eine leichte Beute der Rechtspopulisten."
Rene Cuperus: "Sollen wir das akzeptieren oder sollen wir dagegen kämpfen? Das ist die große Frage. Sollen wir als Sozialdemokraten Grüne werden – eine Partei nur für Akademiker. Oder sollten wir gegen diese Entwicklung ankämpfen, dass Arbeiter rechts werden? Oder sollten wir erstmal verstehen, was da überhaupt passiert? Das ist derzeit der große Streit in sozialdemokratischen Parteien. In Holland zum Beispiel ist die PvdA eine grüne Partei geworden: von ihren Idealen, ihrer Weltanschauung und ihrer Moral her. Die einfachen Leute haben wir komplett verloren."

Wirtschaftlich und kulturell liberal zugleich - das geht nicht

Rene Cuperus warnt davor, dass Sozialdemokraten jetzt einfach die Positionen der Rechtspopulisten kopieren, wie es in Ansätzen die SPÖ getan hat und womit auch die dänische Sozialdemokratie durchaus erfolgreich ist. Aber die Sozialdemokratie wird sich verändern müssen:
"Du kannst als Sozialdemokrat nicht gleichzeitig kulturell und ökonomisch liberal sein. Das wäre das Ende der Sozialdemokratie. Also müssen wir hier eine neue Balance finden, um zu überleben. Weil wirtschaftlicher Liberalismus keine soziale Marktwirtschaft ist, man lässt die Globalisierung herein, man macht die Gesellschaft viel ungleicher und viel gespaltener – das ist nicht gut für die Sozialdemokratie.
Und man kann auch kulturell nicht hundertprozentig liberal sein, wenn man Mittelklassengesellschaften in Europa behalten willst. Du kannst nicht 100 Prozent Migration aus Afrika akzeptieren, wenn du den Wohlfahrtsstaat oder den Rechtsstaat behalten willst. Infofern brauchen wir einen intelligenten Weg, um Migranten und Flüchtlinge in unsere Wohlfahrts- und rechtsstaatlich geprägten Gesellschaften zu integrieren. Andernfalls geht das Ganze in die Luft."

GROSSBRITANNIEN oder: WIR HOLEN UNS ZURÜCK, WAS UNS GEHÖRT

Jeremy Corbyn auf dem Labour-Parteitag:
"So we meet here this week as a united party advancing in every part of Britain winning the confidence of millions of our fellow citizens."
Gute Nachrichten für Sozialdemokraten kommen derzeit eigentlich nur aus Großbritannien. Auf dem Parteitag in Brighton Ende September lässt sich Labour-Chef Jeremy Corbyn dafür feiern, dass es der Partei bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni gelungen ist, die regierenden Tories an den Rand einer Niederlage zu bringen.
In der Tat hätte niemand Labour ein solches Wahlergebnis zugetraut, nicht einmal in der Partei selbst. 40 Prozent der britischen Wähler gaben Labour ihre Stimme, das sind fast zehn Prozentpunkte und 30 Abgeordnetenmandate mehr als bei der vorangegangenen Wahl. Und weil es für die konservative Premierministerin Theresa May nur noch für eine Minderheitsregierung reicht, steht Labour gewissermaßen in den Startlöchern, um die Regierung zu übernehmen.
Parteichef Jeremy Corbyn hat bereits ein Schattenkabinett um den Schatten-Finanzminister John McDonnell zusammengestellt. Der erläutert auf dem Parteitag schon einmal das wirtschafts- und finanzpolitische Programm im Fall einer Regierungsübernahme:
"Eine Wirtschaft für die Vielen aufzubauen, heißt auch die Versorgungsunternehmen unter die Kontrolle des Volkes zu geben, das sie nutzt. Die Leute sollen keinen Zweifel daran haben: Eisenbahn, Wasser, Energieversorgung, die Post – wir holen uns das zurück!"
Verstaatlichungen, Steuererhöhungen für die Reichen, Bildung für alle – dafür gibt es Standing Ovations von den Rängen. Vor allem die Jungen begeistern sich für die in Ehren ergrauten Alt-Linken – sowohl Jeremy Corbyn als auch John McDonnell gehen auf die 70 zu.
Dass die beiden sich von parlamentarischen Hinterbänklern zum Führungsduo der Labour Party mausern würden, hatte bis 2015 eigentlich niemand auf der Rechnung.
"Das kam ja auch recht plötzlich, dass Jeremy Corbyn zum Parteivorsitzenden gewählt wurde."
Der Politikwissenschaftler Henning Meyer, Direktor des Londoner Thinktanks New Global Strategy und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.
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Der Politikwissenschaftler Henning Meyer© © Henning Meyer / DG Corporate
"Es gab bei den vorherigen Wahlen zum Vorsitzenden eigentlich immer jemand der Altlinkenriege, die mitkandidiert hat – und das war bei Corbyn jetzt auch wieder so. Es hat ja nie einer wirklich damit gerechnet, dass er die Wahl gewinnen kann, das war im Prinzip nur, um zu sagen, dass es jetzt keine Krönung gibt, wie es bei Gordon Brown beispielsweise war, sondern dass es tatsächlich eine innerparteiliche Diskussion gibt um die Ausrichtung während der Wahlperiode selber. Dass er dann gewinnen konnte, hat aber auch damit zu tun, dass sich die Soziologie der Partei in den letzten Jahren völlig verändert hat."
So hatte etwa Corbyns Vorgänger Ed Milliband Labour auch für Nichtmitglieder geöffnet. Für drei Pfund konnte man sich als Unterstützer registrieren lassen und bei der Wahl zum Parteivorsitzenden mitabstimmen. Und von dieser Möglichkeit haben offenbar zigtausende, vor allem junge Menschen vor der Wahl Corbyns Gebrauch gemacht.
"Also, er hat im Prinzip seine Unterstützergruppe außerhalb der Partei, die aber auch sehr stark auf die Partei einwirkt. Da sind viele dabei, die sich auch offline organisieren, da sind auch viele Ältere aus den achtziger Jahren noch mit dabei. Wohingegen viele von den neuen jüngeren Mitgliedern sich hauptsächlich auf Online-Unterstützung beziehen."
Der Vorsitzende der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn, sitzt am 25.09.2017 in Brighton (Großbritannien) anlässlich des Labour-Parteitages vor einem Bildschirm mit der Aufschrift "For the many. Not the few". Vom 24.-27.09. kommen die Labour-Parteimitglieder zum Parteitag zusammen. 
Vom Hinterbänkler zum Politstar: Labour-Chef Jeremy Corbyn auf dem Parteitag 2017 in Brighton.© dpa / picture alliance / Joel Goodman
"Momentum" nennen die Corbyn-Unterstützer ihre Organisation. Eine linke Graswurzelbewegung, die Kritiker - auch innerhalb der Partei - als trotzkistisch unterwandert ansehen. Von der auf dem Parteitag demonstrativ zur Schau getragenen Einigkeit ist Labour jedenfalls weit entfernt, meint Henning Meyer.
"Am Anfang zumindest war die Gefechtslage, wenn man es so nennen will, so, dass Corbyn als Parteivorsitzender die Unterstützung der Mitgliederbasis hatte. Aber die Abgeordneten in seiner eigenen Fraktion, die mehrheitlich keine Unterstützer von Corbyn sind, auch bis heute nicht, die waren eher auf der Linie von den meisten Labour-Wählern. Das hat sich jetzt aber nach der letzten Wahl im Prinzip so ein bisschen aufgehoben, obwohl auch nicht in diese eine Wahl zuviel hereininterpretiert werden darf. Ich glaube, die Unterstützung ist fragiler, als sich das von außen so ansieht."

"Labour hat Chancen, die nächste Regierung zu stellen"

Dennoch hält der Politikwissenschaftler Labour für einen aussichtsreichen Kandidaten auf einen Wahlsieg.
"In diesem Kontext ist es durchaus möglich, dass Labour die nächste Wahl – wenn im Frühjahr eine anstehen würde – gewinnen würde, denn der politische Wettbewerber ist dermaßen zerstritten und gibt ein dermaßen chaotisches Bild ab, dass viele denken, es kann eigentlich nicht schlimmer werden. Die Labour Party hat durchaus Chancen, die nächste Regierung zu stellen – absolut!"
Und weil das derzeit in kaum einem anderen europäischen Land so ist, schauen viele Sozialdemokraten aus Deutschland derzeit nach Großbritannien, ob sie sich von Labour etwas abgucken können – gerade was die Popularität von Labour bei Jüngeren angeht, die sich vorwiegend in der Corbyn-Unterstützer-Bewegung Momentum organisiert haben. Da rät der Politikwissenschaftler Henning Meyer allerdings zur Vorsicht:
"Nicht alles, was man dort sieht, ist positiv – im Gegenteil! Es gab hier eine ganze Reihe von Berichten, wo Abgeordnete von Momentummitgliedern unter Druck gesetzt wurden, an den Pranger gestellt worden, weil sie nicht im Sinne der Bewegung oder der Organisation abgestimmt haben. Das hat im Einzelfall auch schon zu Anzeigen geführt, dass Abgeordnete Momentum-Mitglieder angezeigt haben, also, da ist nicht alles Gold, was glänzt."

Dringend gesucht: eine neue sozialdemokratische Bewegung

Dennoch könne man von Labour lernen, wie sich die Mitgliederbasis der Sozialdemokratie verbreitern lässt und durch neue Organisations- und Partizipationsformen die Parteibasis wiederbeleben lässt. Denn das könnte die Sozialdemokratie in Deutschland und anderswo dringend gebrauchen:
(Henning Meyer:) "Wenn Sie sich die Entstehungsgeschichte der SPD im 19. Jahrhundert anschauen, dann werden Sie sehen ,dass es dort eigentlich einen sehr, sehr reichen kulturellen Raum gab, den die Sozialdemokraten gefüllt haben. Von Bildungsvereinen über Sportvereinen, dann gab es eine ganze Reihe von sozialdemokratischen Zeitungen, also, es war eine soziale Bewegung, es war mehr als eine Partei. Die Parteien haben sich dann in den letzten Jahrzehnten immer mehr professionalisiert, was dazu geführt hat, dass diese wahrgenommene Distanz dort entstanden ist. Und wie müssen uns die Frage stellen: wie kann die Sozialdemokratie wieder mehr Bewegungscharakter haben, aber im Kontext des 21. Jahrhunderts?"
John McDonnell auf dem Labour Parteitag:
"For years we have campaigned and proclaimed that another world is possible. I tell you now: That world is not just possible. It’s in sight. Let’s create it now together. Solidarity!"
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