Claudia Neu ist Inhaberin des Lehrstuhls "Soziologie ländlicher Räume" an den Universitäten Göttingen und Kassel und von 2016 bis 2019 stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats "ländliche Entwicklung" des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zusammen mit Jens Kersten und Berthold Vogel hat sie jüngst das Buch "Politik des Zusammenhalts – Über Demokratie und Bürokratie" geschrieben. Erschienen ist das Buch in der Hamburger Edition.
Lob der Bürokratie
29:50 Minuten
Ein bürokratisches Monster, das ist die EU für viele Menschen. Dabei ist Bürokratie oft besser als ihr Ruf. Die Soziologin Claudia Neu sagt, in Deutschland sei sie "die demokratische Infrastruktur, die unsere Gesellschaft zusammenhält".
"Was bedeutet die Europäische Union für Sie?" – Auf diese Frage wählten im vergangenen Jahr 57 Prozent der Deutschen bei einer Umfrage des Allensbach Instituts die Antwortmöglichkeit: "Wuchernde Bürokratie, ein großer, schwer zu durchschauender Beamtenapparat". Es sei für Bürger und Politiker gleichermaßen leicht, auf Partys und im Parlament zu behaupten, dass die Bürokratie dieses "sanfte Monster" sei, wie Hans Magnus Enzensberger es genannt habe, betont die in Kassel und Göttingen lehrende Soziologin Claudia Neu. "Und jedem fällt gleich eine Anekdote ein über den Irrwitz der Bürokratie, langsame Verwaltungsbeamte, die einen eigentlich am Tagesgeschehen hindern."
Tatsächlich ist die EU-Bürokratie mit ihren rund 50.000 Angestellten eine ziemlich schlanke, sehr effizient arbeitende Verwaltung. Jedenfalls wenn man bedenkt, dass eine Stadt wie Hamburg etwa 61.000 Menschen im öffentlichen Dienst beschäftigt.
"Rationalste Form der Herrschaftsausübung"
Abgesehen davon, dass die Bürokratie Bürgerinnen und Bürgern angesichts unverständlicher Regeln und stapeldicker Formulare wie die kafkaeske Seite der Moderne erscheint, ist sie – wie es der Soziologe Max Weber formulierte – die "formal rationalste Form der Herrschaftsausübung", die "für die Bedürfnisse der Massenverwaltung heute schlechthin unentrinnbar ist".
Für Claudia Neu gerät bei aller Bürokratiekritik schnell in Vergessenheit, "dass wir es doch mit einer Bürokratie zu tun haben, die im Vergleich zu vielen anderen Ländern, die nicht in der EU sind, doch letztlich wenig korrupt ist. Wenn man einmal in der Ukraine gewesen ist, dann weiß man zu schätzen, was die Verwaltung in Europa und auch vor allem in Deutschland leistet."
Bürokratie als "demokratische Infrastruktur"
Mehr noch, gerade im Blick auf die öffentlichen staatlichen Leistungen in Deutschland, auf Kindergärten, Schulen, Krankhäuser, Wasserwerke oder die Polizei erweist sich die Verwaltung und die Bürokratie als "die demokratische Infrastruktur, die unsere Gesellschaft zusammenhält".
Und hier ist es für die Soziologin Claudia Neu ganz wichtig, die Bediensteten auch der kommunalen Bürokratie in den Blick zu bekommen, denn "diese Menschen sind auch ein Teil des Gesichtes des Staates". Daher sei es wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger einerseits ihre Verwaltung und deren oft undurchsichtigen Regeln verstehen, um zu gute und schlechte Verwaltungen unterscheiden zu können. Und andererseits gelte es, die Bürgerinnen und Bürger stärker in behördliche Entscheidungen einzubinden.