Die erste Stunde des Europäischen Autorengipfels können Sie hier nachhören: Audio Player
Europa ist mehr als nur ein Wort
20 Autoren - 20 Meinungen zum Thema Europa. Janne Teller, zum Beispiel, vermisst eine Definition von Identität, Dana Grigorcea die einheitliche Flüchtlingspolitik. Und Geert Buelens wünscht sich wahre, transnationale europäische Parteien.
Europa hat gegenwärtig keine gute Presse – aber eine ziemlich gute Literatur, und unter den Schriftstellern finden sich wahrscheinlich die glühendsten Verfechter eines geeinten Europas. Nicht zufällig ist die Zahl der Schriftstellerkongresse zum Thema Europa Legion. Der bisher letzte fand am 21. Juni in Berlin in der Bertelsmann-Repräsentanz statt: der Europäische Autorengipfel, parallel zum Gipfel des Kulturerbejahres.
Auf dem Blauen Sofa von Deutschlandfunk Kultur, Bertelsmann, ZDF und 3sat, organisiert mit Hilfe von 19 Botschaften, sprachen 20 Autoren über ihre Bücher und ihr Europa: gleich fünf Sofas, verteilt auf fünf Räume.
Autoren und ihr Blick auf Europa
Die Schriftsteller sind es ja, die in Romanen, Erzählungen, Gedichten und Sachbüchern die Wirklichkeiten des Kontinents beschreiben (und nicht selten auch erfinden). Auf dem Sofa erzählten sie, warum sie sich als Europäer fühlen, was ihnen in Europa fehlt, welches europäische Buch sie schreiben würden und wo Europa für sie endet.
Deutschlandfunk Kultur sendet die Höhepunkte aus zehn Stunden zwischen 0.05 und 4 Uhr.
Die erste Stunde
In der ersten Stunde nahmen zum Auftakt die kämpferische, in den Institutionen der EU und UN bewanderte Dänin Janne Teller und der flandrische Schriftsteller und Literaturprofessor Geert Buelens Platz auf dem Blauen Sofa. Flankiert wurden sie von der in der Schweiz lebenden, in Rumänien geborenen Dana Grigorcea, dem Litauer Laurynas Katkus und der Britin Claire North.
Eine Frage an die Autoren - und einige Antworten darauf: Was fehlt Ihnen in Europa?
Janne Teller: "Das Wichtigste: Eine Definition von menschlicher Identität, die auf Werten basiert eher als auf Normen und Ethnizität, wie es heute meist der Fall ist."
Geert Buelens: "Mir fehlen in Europa wahre, transnationale europäische politische Parteien; ein tiefgründiger und ausdauernder Versuch, ein soziales Projekt daraus zu machen; ein inklusives Bildungssystem; Neusprech-freie Zonen; ein tiefer wurzelndes Gefühl dafür, dass Geschichte nicht vorbei ist und dass uns das 21. Jahrhundert abverlangt, kühn, großzügig und bescheiden zu sein."
Dana Grigorcea: "Mir fehlt in Europa eine einheitliche Flüchtlingspolitik nach ethischen Werten."
Laurynas Katkus: "Aus meinem Blickwinkel gesehen ist das, was den Leuten am meisten fehlt, Nächstenliebe und Zivilcourage."
Die zweite Stunde:
Neben Hugo Hamilton, Sohn deutsch-irischer Eltern, und dem Isländer Sjón sprachen in der zweiten Runde die Tschechin Radka Denemarkova, der Franzose Hédi Kaddour und Jacques De Decker aus der Förderation Wallonien-Brüssel über ihre Bücher und über Europa.
Frage an die Autoren - und einige Antworten: Wo endet für Sie Europa?
Hugo Hamilton: "Europa endet für mich dort, wo Migranten zurückgeschickt werden. Dort, wo Migranten, die in unseren Ländern ankommen, Arbeit verweigert wird. Dort, wo sie genötigt werden, von Direktbeihilfen ohne Recht auf Beschäftigung zu leben. Überall dort, wo Menschen auf der Straße leben – ob in Dublin oder anderswo in Europa."
Jacques de Decker: "Europa endet, wie (schon) de Gaulle sagte, am Ural, wenn ich es ganz genau nehme. Aber Europa ist nur die westlichste Spitze Eurasiens: diese Grenze sollte sich also nach Osten verschieben -im Westen trauert sie um England."
Radka Denemarkova: "Die Zollhäuser sind zwar verschwunden, die Grenze meldet sich allerdings von selbst: Mentalität und unterschiedliche Vergangenheit haben sich in die Landschaft geprägt und in das Verhalten, in die Gesichter und Gesten der Menschen."
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Die dritte Stunde:
Auf dem blauen Sofa nahmen die in Ungarn geborene, in Deutschland lebende Terézia Mora, die Portugiesin Hélia Coreia, Svetlana Žuchova aus der Slowakei, Tomasz Różycki aus Polen und Zaza Burchuladze aus Georgien Platz.
An diese Autoren die Frage: Was fehlt Ihnen in Europa?
Terézia Mora, Deutschland/Ungarn: "In Europa fehlt mir mehr Multilateralität. Meine regionale Besonderheit wird ja auch erst sichtbar, wenn ich sie nicht nur meinen eigenen Leuten zeige. Wenn einer also will, dass seine Besonderheit gewürdigt wird, ist der Weg dazu, diese – respektvoller Weise – anderen zu zeigen, mit diesen in Dialog zu treten."
Hélia Coreia, Portugal: "Mir fehlt die Idee des Kollektiven, des Zuhauses, des Teilens. Mir fehlt die Freude der Nachbarn, diese altmodische Gewohnheit sich eine Tasse Zucker auszuleihen, das Schimpfen, weil der Nachbar den Müll vor unserer Tür hat liegen lassen. Wir sind eigentlich weder Familie noch Nachbarn, weder großzügig, noch emotional. Wir sind ausgetrocknet, der Zivilisation wegen."
Svetlana Žuchova, Slowakei:"Wenn mir in Europa etwas fehlt, dann eben die Möglichkeit, mich überall als Europäerin fühlen zu dürfen. Bzw. eine Möglichkeit für alle Europäerinnen, sich als Europäerinnen fühlen zu dürfen. Und gleichzeitig ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl."
Tomasz Różycki: "Kalifornien. Und außerdem: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Frieden, Versöhnung, Offenheit."
Zaza Burchuladze: "Zuallererst fehlt mir in Europa die Sonne. Ich komme aus Georgien, wo überall Sonne ist: in der Poesie und im Wein, im Alltag bis hin zu den Knochen aller Bürger. Also, würde ich sagen, Europa fehlt die Sonne."
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Die vierte Stunde
In der Schlussrunde setzten sich aufs Sofa: die Österreicherin Sabine Gruber, Maja Lunde aus Norwegen, Guy Helminger aus Luxemburg, Hans Maarten van den Brink aus den Niederlanden und und Pierre Mejlak aus Malta.
Und auch an diese Autoren die Frage: Wo endet für Sie Europa?
Sabine Gruber: "Europa endet für mich dort, wo die sozial Schwachen ausgegrenzt werden, wo kein Platz für die Integration von Flüchtlingen ist."
Maja Lunde: "Dass etwas europäisch ist, hat ebenso viel mit einem Gefühl wie mit Geographie zu tun. So gesehen kannst du Europa überall finden."
Hans Maarten van den Brink: "Europa hat gerade erst angefangen, zeitlich sehe ich da noch gar kein Ende. Aber auch wenn es um Geographie geht, gibt es in gewisser Hinsicht keine Begrenzungen – überall auf der Welt bin ich Europa begegnet, auch wenn es nur ein Buch war aus Deutschland oder Frankreich, das man in China, in Süd-Amerika oder in Afrika gelesen hat."
Guy Helminger: "Politisch: Dort wo die Politik der Idee 'Europa' zuwiderhandelt, dort wo Demokratie abgebaut wird im Namen von Handelsverträgen, dort wo der Neoliberalismus den größten Teil der europäischen Bevölkerung übergeht - und so weiter."
Pierre Mejlak: "Es endet für mich dort, wo die Werte, die es hochhält, schwieriger zu finden sind."
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