Europäisches Jugendorchester

Klassik zu spielen ist nicht kreativ

Gruppenbild mit Königin: Das Europäische Jugendorchester bei einem Konzert im Amsterdamer Concertgebouw im August 2012, zusammen mit der damaligen Königin Beatrix.
Gruppenbild mit Königin: Das Europäische Jugendorchester, welches von der EU als "Institution" klassifiziert wird. © dpa / ANP ROYAL IMAGES
Von Klaus-J. Rathjens · 05.08.2016
Das Europäische Jugendorchester soll weiterhin von der EU finanziert werden, wenn auch nicht als "kreatives Projekt", sondern regelwidrig als "Institution". Der Musiker Klaus-Joachim Rathjens versucht, solche Art von Kulturpolitik zu verstehen.
Sir Simon Rattle liebt das Szenische in seinen Konzerten. Kürzlich ließ er in der Münchner Residenz einen Ausschnitt aus Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie spielen und dazu "Freude schöner Götterfunken" singen. Nur um kurz darauf das Sinfonieorchester und den Chor des Bayerischen Rundfunks abrupt mit dem Dirigentenstab zu stoppen.
Er wollte dem Publikum demonstrieren, wie schrecklich es sei, seine künstlerische Arbeit mittendrin abbrechen zu müssen – und das am Beispiel der europäischen Hymne. Der kreative Wutbürger protestierte dagegen, dass die EU-Administration drauf und dran war, das Europäische Jugendorchester nicht mehr zu finanzieren.
Mittlerweile fand Jean-Claude Juncker zwar eine "kreative" Notlösung. Gleichwohl monierten die Spitzenbeamten, die Nachwuchsmusiker seien nicht kreativ genug gewesen, um weiterhin finanzielle Mittel aus dem Programm "Kreatives Europa" zu erhalten.

EU stellt Kulturförderung auf "Kreatives Europa" um

Denn dieser Fördertopf unterstützt nicht länger Klangkörper oder Institutionen per se, sondern nur noch kulturelle Projekte. Es sei nämlich das Ziel, so heißt es, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Kultur- und Kreativbranche zu stärken – und zwar im Hinblick auf ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum.
Diese klare Kernbotschaft muss den jungen Orchestermusikern wohl entgangen sein. Vorbei sind Zeiten, in denen egozentrierte Selbstverwirklicher Steuergelder missbrauchten.
Brüsseler Evaluation erbrachte, dass wertvolle Kreativität, wird sie über Jahrhunderte sich selbst überlassen, auf unproduktive Bahnen gerät. Davon zeugen Exponate, welche den Fundus unserer Museen und das Archiv unser Bibliotheken randvoll gefüllt haben. Und Kulturvermögen, das brach daliegt und sich nicht erneuert, bindet und verschwendet wertvolle Ressourcen.
Darin liegt auch das Problem des 40-jährigen Jugendorchesters. Es lässt kreativen Schwung vermissen, gemessen am hohen Durchschnittsalter der gespielten Werke. Produkte mit einer Laufzeit von rund 200 Jahren, wie die Kompositionen von Mozart, Beethoven oder Brahms, können wohl kaum als zeitgemäß, innovativ oder gar wettbewerbsfähig angesehen werden.

Beethoven und Brahms konkurrieren mit innovativen Projekten

Diese Altmeister stehen außerdem für einen völlig unmodernen Arbeitsansatz. Ihr individueller Schaffensprozess ist dem neuzeitlichen Teamwork hoffnungslos unterlegen. Auch die traditionelle Führung eines Orchesters durch einen autoritär agierenden Dirigenten kann gegenüber einer flachen Hierarchie als nicht mehr zeitgemäß angesehen werden.
Das Programm "Kreatives Europa" hat sich zudem vorgenommen, die – Zitat: - "Kapitalkraft von Kleinstunternehmen sowie von mittelgroßen Klein- und Kleinstorganisationen der Kultur- und Kreativbranche in nachhaltiger Weise zu stärken".
Man stelle sich vor, schon Johann Sebastian Bach hätte einen Familienbetrieb gründen können, in dem Frau und Söhne, unterstützt von angestellten Schreibkräften, das Geschäftsfeld des Noten-Kopierens langfristig ausgebaut hätten – falls ihnen zuvor eine Nachhaltigkeit attestiert worden wäre.
Und hätte sich nicht selbst Franz Schubert eine Mietwohnung leisten können, wäre es ihm möglich gewesen, als Ich-AG seine Wettbewerbsfähigkeit nachzuweisen.

Jugendorchester zur Pflege von Musikkultur ist wohl nicht zeitgemäß

Das Europäische Jugendorchester vermag nicht mehr mitzuhalten. Denn es pflegt lediglich die europäische Musikkultur und bietet dem künstlerischen Nachwuchs aus allen Mitgliedsländern eine Ausbildungsstätte. In dieser Situation hatte Jean-Claude Juncker nichts Besseres zu tun, als plötzlich zurück zu rudern und 140 begabten Jungmusikern eine finanzielle Bestandsgarantie zu geben.
Aber nachhaltig und kreativ lässt sich doch nur arbeiten, das weiß jeder effizient und ökonomisch Denkende, wenn ein Repertoire jährlich und separat für jede Instrumentengattung als Projekt beantragt werden muss. Am besten überall dort, wo auch der Kostengünstigste belohnt werden kann. - Freude, Freude schöner Götterfunken.

Klaus-J. Rathjens studierte Kirchenmusik an der Hamburger Musikhochschule und war Leiter der Schauspielmusik am Schleswig-Holsteinischen Landestheater.
Es folgten Engagements als Korrepetitor und Kapellmeister an Opernhäusern, Theatern, auf Tourneen und Festivals (Rossini-Festspiele, Ludwigsburger Schlossfestspiele).
Parallel dazu arbeitet er als Arrangeur und Komponist, schrieb Bühnenmusiken, u.a. zur deutschsprachigen Bühnenfassung des Disney-Films "Das Dschungelbuch", sowie weihnachtliche Klarinettentrios. Interessiert am "Crossover" arrangierte er für sein Pop-Rock-Trio und das Hamburger Sinfonieorchester den Genre-Klassiker "Pictures at an Exhibition".

Klaus Joachim Rathjens, Kirchenmusiker
© picture alliance / dpa / Foto: Achim Harbeck
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