Ballhausschwur oder Bastillesturm?

Ganz Frankreich denkt am Nationalfeiertag an den Sturm auf die Bastille, diesen Schlüsselmoment der Revolution. Auch ganz Europa sollte es tun, meint der Politologe und Geschichtswissenschaftler Peter Reichel. Denn ganz Europa steht heute wieder vor einem Schlüsselmoment.
Diese Tage erinnern an eine welthistorische Stunde der Demokratie: an den Beginn der Französischen Revolution, wenige Wochen vor dem Sturm auf die Bastille. Genauer: an den Ballhausschwur. Jener gewaltfreie Augenblick, in dem ein friedlicher Übergang zu einem demokratischen Frankreich möglich schien.
Der 20. Juni 1789: An diesem Tag beschließen die Mitglieder des Dritten Standes, nicht eher auseinanderzugehen, bis Frankreich eine Verfassung hat, bis aus der Gottesgnadenmonarchie eine konstitutionelle beziehungsweise parlamentarische Monarchie geworden ist, bis die Regierung nicht mehr dem König verantwortlich ist, sondern der Legislative. Dieses zivilcouragierte Selbstbewusstsein speist sich aus zwei revolutionären Gedanken. Der erste lautet: Nicht die Krone repräsentiert die französische Nation, sondern die Gesamtheit aller Franzosen. Der zweite revolutionäre Gedanke ist das Mehrheitsprinzip. Nur so kann sich die überwältigende Mehrheit des Volkes gewaltfrei durchsetzen.
Friedlicher Wandel oder gewaltsamer Umsturz
Für diese Ideen steht der Ballhausschwur. Und kurz sieht es so aus, als lasse sich der König darauf ein, um dann doch mit der Reaktion zu marschieren. Der flüchtige gewaltfreie Augenblick ist vorüber. Verrat, Flucht, Guillotine und Napoleon sind die Folgen.
Ballhausschwur oder Bastillesturm, friedlicher Wandel oder gewaltsamer Umsturz sind die beiden Alternativen des politischen Systemwandels. An die gewaltsame Variante, die Erstürmung und Zerstörung des verhassten Staatsgefängnisses, erinnert alljährlich am 14. Juli der französische Nationalfeiertag. An den friedlichen Ballhausschwur sollte sich heute ganz Europa erinnern.
Denn das Europäische Parlament hat zwar nicht den Ballhausschwur wiederholt. Aber seit der Parlamentswahl dasselbe neue Selbstbewusstsein gezeigt und den nationalen Regierungschefs erklärt: Wir repräsentieren das europäische Volk und wir wählen den künftigen Kommissionspräsidenten!
Politischer Systemwandel notwendig
Die Mehrheit der europäischen Regierungschefs beugt sich diesem demokratischen Selbstbewusstsein nur widerwillig. Dabei schwächt die strukturelle, demokratische Legitimationskrise der EU diesen starken Kontinent seit Jahrzehnten. Nötig ist ein politischer Systemwandel hin zu einer wirklich parlamentarischen EU-Verfassung:
Die Kommission als europäische Regierung muss allein dem Parlament verantwortlich sein. Der Rat als ständige Konferenz der europäischen Regierungschefs muss sich parlamentarisch verwandeln: in eine zweite europäische Kammer, dem US-amerikanischen Senat und dem deutschen Bundesrat vergleichbar.
Beides würde die Macht der Regierungschefs empfindlich beschneiden. Dass sie nur bremsen und blockieren ist trotzdem unverständlich. Haben sie nichts aus den verfassungshistorischen Konflikten Europas gelernt? Erkennen sie nicht, wohin ihre Verweigerung führt? Die anti-europäischen Kräfte würden gestärkt und mit ihnen die antidemokratischen, nationalistischen und separatistischen Bewegungen. Europa wäre, mit einem Wort von Jürgen Habermas, "direkt ins Herz getroffen". Die Folgen so unabsehbar wie nach dem Bastillesturm.
Peter Reichel, 1942 in Rendsburg/SH geboren, war zunächst Buchhändler und studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Von 1985 bis 2007 war Reichel Professor für Historische Grundlagen der Politik an der Universität Hamburg. Seitdem lebt er in Berlin als freier Autor. Zahlreiche Buchveröffentlichungen zur NS-Zeitgeschichte, Demokratiegeschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Bekanntestes Werk: "Der schöne Schein des Dritten Reiches. Gewalt und Faszination des deutschen Faschismus" (NA 2006). Jüngstes Werk: "Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung. Nationalsymbole in Reich und Republik" (2012).