Europapolitik

"Nicht wünschenswert, aber möglich"

Der ehemalige französische Präsident Valerie Giscard d'Estaing
Der ehemalige französische Präsident Valerie Giscard d'Estaing © picture alliance / dpa
Moderation: Burkhardt Birke |
Die Briten wünschten keine weitere europäische Integration, sagte der französische Ex-Präsident Valery Giscard d’Estaing. Diese würde jedoch dringend gebraucht, "weil wir eine gemeinsame Währung haben. Eine gemeinsame Währung funktioniert jedoch nicht ohne Integration".
Burkhard Birke: Es wurde gerade eine Umfrage veröffentlicht, wonach 68 % der Franzosen und 66 % der Deutschen sich eine Europäische Union ohne Großbritannien vorstellen könnten. Sie auch?
Valery Giscard d’Estaing: Das ist nicht wünschenswert, aber möglich. Großbritannien wünscht keine europäische Integration. Wir brauchen aber weitere europäische Integration, weil wir eine gemeinsame Währung haben. Eine gemeinsame Währung funktioniert jedoch nicht ohne Integration. Wir müssen also weitere Integrationsschritte vollziehen: Die Steuern angleichen, die Schulden der Staaten nach und nach vergemeinschaften etc., um ein homogenes Ganzes in Europa aufzubauen. Das ist für die Briten unakzeptabel. Das heißt: Die Briten könnten im Binnenmarkt bleiben, und das ist absolut wünschenswert, dahingehende Forderungen sind absolut vernünftig und akzeptabel. Bei einer von Frankreich und Deutschland angestoßen weiteren Integration wären sie jedoch nicht dabei.
Birke: Wenn man den Erfolg der Front National bei den Europawahlen betrachtet, dann gewinnt man den Eindruck, das französisch Volk wolle ebenfalls nicht mehr dieses Europa!?
"Stimmen für die Front National sind Stimmen des Protestes"
d’Estaing: Glauben Sie nicht den Deutungen der Journalisten. Die Stimmen für die Front National sind Stimmen des Protestes, des Protestes gegen die Art und Weise wie Frankreich regiert wird. Rekordarbeitslosigkeit, Rekordhöhe bei der Steuerbelastung, die höchste Einkommensbesteuerung in Europa: Das war eine Protestwahl. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Wähler hinter den Ideen der Front National stehen. Als ich Präsident war, existierte die Front National schon. Und 1980 hat es Le Pen nicht gewagt, gegen mich zu kandidieren, weil er wusste, dass er keinen Erfolg haben würde.
Man darf sich nicht täuschen: Das sind Stimmen des Protestes aus dem Arbeitermilieu in Ost- und Nordfrankreich, den am härtesten von der Krise betroffenen Regionen, von Leuten, die denken, dass die Regierung und Europa unfähig waren, die Krise ernsthaft zu lösen. Man darf dem keine falsche Bedeutung beimessen: Das ist kein Votum gegen Europa.
Birke: Es ist jedoch ein Signal: Wie interpretieren Sie es? Muss Europa weiter reformiert werden? Und ist der Mann, den der Europäische Rat für den Posten des Kommissionspräsidenten nominiert hat, der Reformer, den Sie dafür ausgesucht hätten?
d’Estaing: Es gibt zwei Seiten dieser Medaille, solange man nicht verstanden hat, dass es zwei Europa gibt: Das Europa der 28 und die Eurozone. Das Europa der 28 wird vermutlich noch weiter wachsen. Das heißt, es kann nicht weiter integriert werden. Dazu sind die Unterschiede auf kulturellem, sozialem Gebiet oder etwa bei der Gesetzgebung zu groß. Die Europawahl betraf das Europa der 28!
Jetzt muss man aber das Europa der Eurozone organisieren. Dieses Europa umfasst weniger Länder und ist homogener, verfügt über eine gemeinsame Währung und über eine mit Blick auf die Zukunft vielversprechende Schuldenpolitik. Das alles muss ergänzt und die Öffentlichkeit über das Ziel informiert werden, dass es - sagen wir in 15 Jahren - eine große moderne Wirtschaftsmacht in Europa gibt. Diese wird sich um die die Gründerstaaten herum bilden: Deutschland, Frankreich, die Benelux Staaten und Italien.
Jean-Claude Juncker am Abend der Europawahl in Brüssel. Hinter ihm stehen eine Frau und ein winkender Mann.
Jean-Claude Juncker rechnet mit seiner Wahl zum Kommissionspräsidenten.© picture alliance / dpa / Julien Warnand
Birke: Beneluxstaaten. Luxemburg – da kommt Jean Claude Juncker her, der jetzt für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert worden ist. Ist das eine gute Wahl?
"Hätte jemand Neues aussuchen müssen"
d’Estaing: Ich kommentiere keine Personalentscheidungen. Meiner Meinung nach hätte man jedoch jemand Neues aussuchen müssen, weil bei dieser Wahl der Wunsch nach etwas Neuem zum Ausdruck kam, einem Neuen mit großer Reformkraft. Man hätte solche Persönlichkeiten finden können, auch in Deutschland oder sogar in Frankreich. Mir wären da ein paar Namen eingefallen, wenn man jemand Neues, einen Reformer gesucht hätte.
Birke: Der 100. Jahrestag des Beginns des 1. Weltkrieges wird gerade in diesen Tagen begangen, Präsident Giscard d’Estaing, die bereits erwähnte Umfrage zeigt auch, dass eine beträchtliche Zahl Menschen in Frankreich und Deutschland auch mit Blick auf die Situation in der Ukraine Angst vor einem Krieg haben. Was sollte man tun? Braucht die EU endlich eine homogene Außenpolitik, um die Kriegsgefahr an den Pforten der EU zu bannen?
d’Estaing: Es gibt keine Kriegsgefahr. Das sind Gespinste. Die EU ist eine friedfertige Gemeinschaft. Außer Deutschland, Frankreich und England besitzen die Länder der EU praktisch keine Streitkräfte mehr, verfügen also nicht mehr über Kriegswerkzeug, haben keine Rüstungsindustrie. Deshalb entbehrt die Angst einer reellen Grundlage. Das sind Hirngespinste. Vielleicht kommen durch die Erinnerung an den Weltkrieg Ängste wieder hoch. Man muss allerdings klar sehen: Es gibt keine Kriegsgefahr in Europa!
Birke: Auch nicht durch Russland? Sehen Sie nicht in der Annektierung der Krim durch Russland einen Akt der Aggression, eine kriegerische Handlung?
d’Estaing: Nein – Das ist keine kriegerische Handlung. Das ist ein schwer lösbares Problem. Die Ukraine existiert nicht als Einheit. Sie besteht aus verschiedenen Elementen: Russischen, die Ukraine wurde ja auch zwei Jahrhunderte lang von den Russen beherrscht, der andere Teil war ein Stück des Habsburger Reiches Österreich Ungarn. Nach dem Krieg hat man der Ukraine ein Stück von Polen gegeben. Die Ukraine besteht also aus vielen Komponenten. Das führt aber nicht zum Krieg. Wer kämpft da gegen wen? Es gibt keine Kriegsgefahr. Allerdings müsste man eine politische Lösung vorschlagen, angepasst an die Verhältnisse: Eine Konföderation, bestehend aus den pro-russischen, den eher an Polen orientierten Landesteilen und dem Rest, nach dem Vorbild der Schweizer Konföderation.
Birke: Leider kann ich Ihnen, Herr Präsident Giscard d’Estaing, eine Frage nicht ersparen, die die Würde des Präsidentenamtes in Frankreich betrifft. Gegen einen Ihrer Nachfolger im Amt, Nicolas Sarkozy, laufen Ermittlungen, er wurde zur Vernehmung in Haft genommen. Wird die Würde des Präsidentenamtes beschädigt?
d’Estaing: Man muss das Ganze unter zwei Aspekten betrachten: Es ist normal, dass die Justiz ihre Arbeit erledigt. Ich kenne keine Details der Akte, aber es ist Sache der Justiz, diese zu ermitteln und sich an die Verfahrensprozeduren zu halten. Frankreich kannte jedoch stets eine Kultur der Höflichkeit, des Respekts für die Person, der Würde und man muss diese Kultur respektieren, vor allem gegenüber einer Person, die von ihren Landsleuten mit Millionenstimmen zum Präsidenten gewählt worden war. Man muss akzeptieren, dass die Justiz ihre Arbeit verrichtet, gleichzeitig sollte aber diese Kultur des Respekts und der Würde für die Person erhalten bleiben.
Birke: Vielen Dank, Herr Präsident!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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