Europas Nadelöhr

Von Luise Sammann |
Es ist noch nicht lange her, da waren Spanien, Frankreich und Italien beliebte Ziele der Menschenschmuggler. Das ist vorbei: Neun von zehn Flüchtlingen, die nach Europa wollen, kommen über die Türkei nach Griechenland. Die Zustände in griechischen Lagern sind katastrophal und unmenschlich. Die Athener Regierung hat jetzt angekündigt, an der Grenze einen unüberwindbaren Zaun bauen zu wollen. Das entspannt nicht gerade das wechselvolle Verhältnis zur Türkei.
"Markenware, zwei Lira pro Stück, alles Original ...”"

Der Straßenhändler, der in einem meterhohen Haufen eingeschweißter T-Shirts wühlt, müsste längst heiser sein. Ununterbrochen schreit er gegen den Verkehr an, der vorbeirauscht, gegen die Menschen die sich auf dem überfüllten Bürgersteig drängeln. Nur ein paar Meter entfernt stehen andere Schreihälse, verkaufen Uhren, Sesamkringel oder Gucci-Taschen made in China. Willkommen im Istanbuler Stadtteil Aksaray.

Seit Jahrzehnten ist das Viertel vor allem bei Großhändlern für seine Textil- und Ledergeschäfte bekannt. Doch seit einigen Monaten floriert noch etwas anderes in Aksaray: Wer in eine der Seitenstraßen abbiegt, ist plötzlich umgeben von unzähligen internationalen Call-Shops. "Call Africa” oder "Cheap Nigeria” steht auf handgemalten Schildern in den Fenstern.

Mehmets Shop besteht aus einem kleinen schmuddeligen Tresen und fünf hölzernen Telefonkabinen. Früher, sagt der 28-Jährige kaugummikauend, da kamen türkische Jugendliche, um bei ihm im Internet zu surfen. Inzwischen haben sie ihre eigenen PCs zuhause, das Geschäft hat sich verändert: 90 Prozent seiner Kunden wollen jetzt nach Afrika telefonieren:

""Die ganze Nachbarschaft ist jetzt voll von ihnen. Sie kommen aus Nigeria, Afrika, der Dominikanischen Republik. Alles Schwarze. Weiße siehst du hier bald überhaupt nicht mehr. Wenn du rumläufst, fühlst du dich wie in Afrika."

Mehmet verzieht abfällig das Gesicht, deutet mit dem Kinn zu drei Schwarzen, die draußen am Fenster vorbei schlendern. "Alles Drogendealer, die Neger", flüstert er, zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. Jeder in Aksaray hat seine eigene Geschichte über die afrikanischen Flüchtlinge zu erzählen, die hier auf ihrem Weg nach Europa stranden. Meist handeln sie von Drogen. Trotzdem: Ganz unglücklich ist Mehmet über die neuen Nachbarn nicht:

"Sie rufen zum Beispiel in Nigeria an, oder auch in Europa. Das ist unser Geschäft – billiges Telefonieren. Wenn ein Anruf vom normalen Handy aus 20 Lira kosten würde, dann kostet er bei uns vielleicht 5. In den letzten zwei oder drei Jahren haben hier deswegen überall Call-Shops eröffnet."

Ein paar Straßen weiter sitzen zwei Afrikaner in einem schmuddeligen Börek-Imbiss, vor sich ein Gläschen lauwarmen Tee. Seit mehr als vier Jahren sind sie auf dem Weg nach Europa, erzählen sie. Eigentlich, wirft der eine ein, war er längst da: in Dänemark, in Frankreich, in Rumänien. Jedes Mal schickten sie ihn zurück – jedes Mal versucht er es erneut. "Wo soll ich denn sonst hin", fragt er und blickt kurz von seinem Glas auf:

"Ich komme aus dem Kongo, mein Name ist Shakaf Yenga, ich lebe hier in Istanbul. Warum ich nicht zurück in mein Land kann? Ich bin vor den Kämpfen geflohen, all diese Kämpfe haben mich vertrieben. Ich kann nie mehr zurück! Sie haben meinen Vater umgebracht, und meine Mutter. Andere sind geflohen."

Shakaf nimmt einen Schluck von seinem Tee. Seine Bewegungen sind langsam, müde. "Früher", sagt er, "kamen wir über Libyen und Italien. Jetzt führt der Weg eben über die Türkei." Doch Istanbul ist nur Durchgangsstation, hier bleiben möchte niemand. So europäisch manche Stadtviertel am Bosporus auch wirken, einen großen Unterschied gibt es doch: Die Türkei hat kein Asylrecht für Nichteuropäer. Flüchtlinge wie Shakaf und sein Freund haben hier keine Chance auf Unterstützung. Mit Dutzenden anderen Flüchtlingen schlafen die beiden in einem Keller in Aksaray.

"Istanbul ist schrecklich. Es gibt keine Arbeit, sie geben uns hier keine Jobs. Seit ich hier bin, habe ich nie auch nur eine Lira bekommen. Einmal hatten wir keinen Strom mehr, sie haben uns nichts gegeben. Jetzt bin ich krank, aber ich kriege keine Medizin, nichts. So geht es vielen. Sie kommen hierher, aber hier können sie nicht leben, also ziehen sie weiter nach Griechenland. Viele sterben im Wasser auf dem Weg dorthin. Zu viele sind schon gestorben"

Das Wasser, von dem Shakaf spricht, ist der Fluss Meric im äußersten Norden der Türkei. Eine der letzten Hürden, die die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa überwinden müssen. Die Meric trennt die Türkei von Griechenland – und damit von der EU.

Die Autofahrt von Istanbul Richtung Norden an die griechische Grenze dauert keine drei Stunden. Auch Shakaf und sein Freund werden dieses Stück bald zurücklegen, dann, wenn sie das Geld zusammenhaben. Hineingequetscht in kleine Transporter bringen Schlepper die Flüchtlinge nachts in die Grenzstadt Edirne.

Die kleine Stadt wirkt verschlafen an diesem Nachmittag. Nur die zahlreichen Moscheen – die Kuppeln und Minarette, die das Stadtzentrum von allen Seiten umgeben – zeugen von der einst großen Bedeutung, als Edirne sich Hauptstadt des Osmanischen Reichs nennen durfte. Mehr als 600 Jahre sind seitdem vergangen. 600 Jahre, seit hier die großen Entscheidungen der Region getroffen wurden.

Doch plötzlich spielt die Stadt wieder eine besondere Rolle: Sie ist zum Eintrittstor illegaler Flüchtlinge auf dem Weg in die EU geworden. 200 Kilometer misst die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. An vielen Stellen macht sie der Grenzfluss Meric – oder Evros, wie ihn die Griechen nennen – schwer passierbar. Nur hier, wenige Minuten von Edirnes Stadtzentrum entfernt, verlaufen zwölf Kilometer der Grenze auf dem Land.

Wer es bis hierher geschafft hat, ist nur noch einen Steinwurf vom vermeintlichen Paradies entfernt. Auch die drei einzigen offiziellen Grenzübergänge nach Griechenland befinden sich hier – doch auf legalem Wege passieren hier die Wenigsten:

"Das Flüchtlingsproblem ist nicht nur ein Problem für Edirne, sondern für das ganze Land. Als Land und als Stadt kämpfen wir hart gegen den Schmuggel und den illegalen Grenzverkehr. Im Jahr 2010 haben wir allein in Edirne 11.400 illegale Einwanderer."

Der Provinz-Gouverneur von Edirne, Gökhan Sözer, sitzt auf einem roten Ledersofa in seinem geräumigen Büro, malt die Zahl mit dem Finger in die Luft: 11.400 – er triumphiert. Seit Monaten werfen die Griechen der Türkei vor, ihre Grenze nicht gut genug zu schützen. Sözer schüttelt entrüstet den Kopf. Patrouillierende Soldaten, Wärmebildkameras, Ferngläser.

Er spult die Maßnahmen herunter, die er in den letzten Monaten und Jahren eingeführt hat. Den Schwarzen Peter schiebt er dem Nachbarn Griechenland zu:

"Die Grenze zu Griechenland ist mehr als 200 Kilometer lang. Diejenigen, die da der Türkei vorwerfen, dass sie ihre Grenze nicht ordentlich schützt, haben doch die gleiche Grenze und sind verpflichtet, sie mit uns gemeinsam zu schützen. Es ist nicht richtig, dass sie nur uns beschuldigen. Grenzen sind Orte, an denen man zusammenarbeiten muss und Maßnahmen gemeinsam anwenden muss."

Da ist es plötzlich raus. Das eigentliche Problem heißt Kooperation. Seit Jahrzehnten herrscht zwischen Griechenland und der Türkei mal Eiszeit, mal Säbelrasseln – selten Harmonie. Doch ausgerechnet diese beiden Nachbarn sind für die Sicherung einer Grenze verantwortlich, die längst nicht mehr nur für sie, sondern für die gesamte Europäische Union von strategischer Bedeutung ist. Jeder Schritt des anderen wird dabei argwöhnisch beäugt. Den Zaun zum Beispiel, den die Griechen nun zur Flüchtlingsabwehr planen, wertet Gouverneur Sözer als Affront.

"Es ist inakzeptabel, dass dieser Zaun wie eine psychologische Grenze zwischen der Türkei und der EU aufgestellt wird. Natürlich ist das die Grenze Griechenlands und die können an ihren Grenzen machen, was sie wollen. Aber wir können es nicht akzeptieren, wenn es jetzt heißt: Das ist die Grenze der Europäischen Union. So ein Zaun steht eben nicht gerade für Freundschaft, gute Nachbarschaft oder Frieden."

Der kleine Mann im grünen Parker muss lachen, wenn er von der Diskussion um den Zaun hört. "Manchmal", sagt er, "tun mir die Europäer schon fast leid." Der Mann – der seinen Namen lieber für sich behält – sitzt nicht weit vom Büro des Gouverneurs entfernt. Er ist ein Schlepper! Nachts bringt er Flüchtlinge über die Grenze nach Europa. Hunderte in den letzten Jahren:

"Sogar, wenn sie die gesamte NATO an diese Grenze bringen, wenn sie überall Soldaten aufstellen, dieses Geschäft wird nicht aufhören. Da steckt warmes Geld drin, süßes Geld! Wenn du einem Grenzsoldaten drei- oder fünfhundert Dollar gibst, dann macht er die Augen zu. Am Ende ist er eben auch nur ein Mensch."

Der Schlepper grinst spöttisch – ein Grinsen, das nie ganz aus seinem bärtigen Gesicht weicht. Wachsam sitzt er in der hintersten Ecke eines leeren Cafés im Zentrum von Edirne, die Musik ist so laut, dass man ihn nur aus nächster Nähe versteht. Trotzdem lässt er die Tür nicht aus den Augen. Seit das Flüchtlingsproblem an der griechischen Grenze zum Politikum geworden ist, sind die Kontrollen verschärft. Der Schlepper ist immer auf der Hut, alle zwei Tage wechselt er die Handynummer, immer wieder auch die Frisur, das Outfit. Doch zum Aufhören läuft das Geschäft zu gut, gerade jetzt, wo aus der Arabischen Welt so viel neue "Kundschaft" kommt, sagt er – grinst sein spöttisches Grinsen:

"Stell dir einen Großmarkt vor, mit Obst und Gemüse. Die Ware kommt von den unterschiedlichen Feldern auf dem Markt zusammen. Die Flüchtlinge kommen genauso aus den unterschiedlichsten Ländern – und der Großmarkt auf dem sie sich sammeln, ist Istanbul. Der Kontaktmann in Edirne entscheidet und sagt: Sende heute Nacht eine Gruppe. Der Mann in Istanbul packt dann einen Wagen mit 20 Flüchtlingen voll und sendet ihn hierher. Zwischen zwei und drei Uhr morgens ist die schläfrigste Zeit des Menschen, egal ob Soldat oder Offizier. Um diese Zeit schaffen wir sie über die Grenze."

Das ist der Job des Schleppers. Um den Kontaktmännern in Istanbul später zu beweisen, dass alle in der EU gelandet sind, geben ihm die Flüchtlinge ihre Pässe, sobald er sie im Schlauchboot über den Grenzfluss gerudert hat. Für jeden Pass gibt es Geld, zwischen zwei- und sechshundert Euro allein für den Schlepper. Da ist es wieder, das Grinsen. In seiner besten Nacht – im Sommer, als der Wasserstand niedrig war – hat er 600 Pässe eingesammelt:

"Stell dir eine Schafherde vor. Diese Leute haben oft keine Ahnung, sie denken, der Fluss wäre das Meer. Aber sobald ein Schäfer vorneweg geht, folgen sie dir, Hand in Hand, das können auch Hunderte sein. Die Polizisten können nur ein paar von ihnen schnappen. Sie müssen Handschellen anlegen, sie zum Auto führen und Verstärkung rufen. Vielleicht kriegen sie so 200 von 600 – aber die anderen 400 fliehen."

Der Schlepper zündet sich eine Zigarette an, bläst gelangweilt Rauch in die Luft. Er macht sich längst keine Gedanken mehr um Einzelschicksale. Für ihn sind die Afrikaner, die Afghanen, Iraker, Palästinenser oder Burmesen Ware. Eine Ware, die nur immer mehr Geld einbringt, je mehr Sicherheitsvorkehrungen die EU trifft. Und vor allem eine Ware, von der immer mehr kommt:

"Wir nennen das Hoffnungs-Reise. Diese Männer kommen aus dem Irak oder aus Tunesien mit all ihrer Hoffnung. Wenn du sie heute festnimmst, kommen sie morgen zurück. Oder übermorgen, oder überübermorgen"

Die Frage ist längst nicht mehr, ob und wie weitere Flüchtlinge sich auf den Weg nach Europa machen. Die Frage lautet, wie weit sie dabei kommen. Seit die griechische Regierung Unterstützung von der EU-Grenzschutzagentur Frontex erhält, endet die Reise für die meisten Flüchtlinge zunächst schon kurz hinter der Grenze. Sie kommen in eines von vier griechischen Lagern in der Nähe des Grenzortes Orestiada. Willkommen in der EU!

Nicht weit von Orestiada, sitzt der 23-jährige Naim in dünnem Trainingsanzug an einem menschenleeren Bahnhof. Naim überlebte den weiten Weg von Afghanistan über Istanbul und Edirne bis nach Griechenland – bis in die EU. Und er überlebte eines der griechischen Flüchtlingslager. Das, sagt er heute, war das Schlimmste:

"Diese Lager sind für 20, 25 Menschen gedacht und jetzt stecken sie da 160, 170 Leute rein. Du kannst dich nicht bewegen, du kannst nichts machen. Es ist einfach nur voll, voll mit Flüchtlingen, es ist schrecklich. Ich habe ein paar Fotos, ich kann sie mal zeigen."

Die EU unterstützt Griechenland bei der Grenzsicherung, doch mit den Hunderttausenden, die trotzdem in den letzten Jahren gekommen sind, bleibt das Land allein. Naim fummelt ein altes Handy aus der Hosentasche, Dutzende Fotos hat er darauf gespeichert. Von eng zusammen gepferchten Frauen, Männern und Kindern, die in dünne Decken gehüllt auf dem Boden kauern. Eine Toilette teilen sich die 170 Flüchtlinge im Lager, geputzt wird nicht – wohin auch mit den Flüchtlingen in der Zeit? Bis zu sechs Monate müssen sie hier aushalten, ohne Ausgang.

Naim ist jetzt frei, seit mehr als zwei Jahren wartet er darauf, dass die griechischen Behörden seinen Asylantrag bearbeiten. Das Land ächzt und stöhnt unter der Masse der Anträge, die Behörden sind überfordert, die Ausländerfeindlichkeit wächst. Hier, weiß Naim, hat er keine Zukunft:

"Als ich klein war, haben wir viel von Europa gehört. Aber wenn ich das hier jetzt sehe, wo sie 160 Leute in dieses Lager stecken. Sogar, wenn du in Europa so viele Tiere in einem Raum hältst, können sie dich dafür einsperren. Aber das hier sind keine Tiere, das sind Menschen."
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