"Europas Schande" und die Ignoranz der Spötter
Nachdem Günter Grass Israel in einem Gedicht Kriegstreiberei vorgeworfen hat und dafür heftig kritisiert wurde, wird nun erneut über seine Reime diskutiert. In "Europas Schande" kritisiert Grass den Umgang mit Griechenland. Und er erntet Häme. Zu Unrecht, meint Konstantin Sakkas.
Bedenklich ist an all der Häme zweierlei: zum einen der Umgang mit dem Gedicht, zum anderen der mit dem Dichter Günter Grass selbst. In der inhaltlichen Ablehnung ist man sich in den angeblich so "bunten" Social Media bemerkenswert einig: Der heimliche Subtext etwa auf Twitter lautet immer wieder: "Wie kann man nur den Schuldenstaat Griechenland in Schutz nehmen!"
Auf den historischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund, der sich bei Grass poetisch konzentriert, geht man mit keiner Silbe ein - vermutlich vor allem deshalb, weil er den selbsternannten Meinungsmachern der digitalen Bohème schlicht nicht geläufig ist. Antigone und der Schierlingsbecher dürften für sie ebenso böhmische Dörfer sein wie das Schicksal Griechenlands unter deutscher Besatzung oder die Diktatur der Obristen in den 60er und 70er Jahren.
An Arroganz überboten wird diese Ignoranz dann aber in der gezielten, verletzenden, ja: boshaften Häme, die sich über Grass selbst ergießt. Der Dichter wird als "betagter Mann" im Altersheim vorgeführt, von "Zivis", "Schnabeltasse" und "Reinigungskraft" ist die Rede, und offenbar sehr spaßige Pointen, die Grass in einen Zusammenhang mit dem Eurovision Song Contest, dem Champions-League-Finale oder der Schlecker-Insolvenz rücken, schwirren durch den virtuellen Raum und werden ausgiebig und mit großem Hallo zitiert und favorisiert.
Das Schlimmste daran: Hier spricht nicht der "Stammtisch", sondern der durchaus "informierte Leser". Reihenweise stimmen nämlich die seriösen Medien in den Spottgesang gegen Grass ein, und in säuerlicher Überheblichkeit ergeht sich ein Leitartikler im "Fremdschämen mit Grass und Griechenland". Kurz: Wer die Reaktionen auf das Gedicht im Internet abfragt, stößt auf eine Einheitsfront der brutalen Häme, die sich selbst als abgeklärte Ironie feiert.
Auf das, was Grass sagt, wollen sich die Spötter dabei nicht so recht einlassen. Auf die Verunglimpfung des Inhalts folgt vielmehr die Verhöhnung der Form. Von "dürren Versen" und einem "Dichter, der nicht dichtet", ist auf Twitter zu lesen - dass sich Grass in seinem Gedicht des Versmaßes der asklepiadischen Ode bedient (und dies sehr souverän), dass er sich gleich in der zweiten Strophe elegant auf Goethes Iphigenie bezieht und nebenbei noch mit der deutschnationalen Hölderlin-Rezeption der konservativen Revolution ins Gericht geht: All das entgeht offensichtlich nicht nur den sich betont bildungsfern gebenden Digital Natives.
Auch einer großen deutschen Tageszeitung, die sich selbst als kulturelles Leitmedium der Republik versteht, waren Grass‘ Verse nicht mehr wert als die total witzige Behauptung, es handele sich bei "Europas Schande" in Wahrheit nicht um ein Gedicht von Günter Grass, sondern um eine Erfindung, die die Satirezeitschrift Titanic geschickt in die seriöse Süddeutsche lanciert habe. Das kann man als kesse Metasatire verstehen - oder als dumm-dreiste Frechheit.
Tatsächlich erweist sich Grass mit seinem Griechenlandgedicht als einer, der im Deutschland Adenauers, Kohls und Merkels stets in der Diaspora lebte: als echter, engagierter Intellektueller. In Frankreich, dem Mutterland der modernen Publizistik, hätte "Europas Schande" wohl eine große öffentliche Debatte, vielleicht auch einen politischen Richtungswechsel ausgelöst; und sogar noch seine Gegner hätten den Dichter immerhin für sein ästhetisches Können gelobt.
In Deutschland dagegen, dem Mutterland des Biedermeier mit seinem bräsigen Juste-Milieu und seiner großbürgerlich maskierten Kleinkariertheit, reicht es nur zum plumpen, primitiven Schulhofspott. Und das wiederum ist der Skandal um Günter Grass und sein Gedicht "Europas Schande".
Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.
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An Arroganz überboten wird diese Ignoranz dann aber in der gezielten, verletzenden, ja: boshaften Häme, die sich über Grass selbst ergießt. Der Dichter wird als "betagter Mann" im Altersheim vorgeführt, von "Zivis", "Schnabeltasse" und "Reinigungskraft" ist die Rede, und offenbar sehr spaßige Pointen, die Grass in einen Zusammenhang mit dem Eurovision Song Contest, dem Champions-League-Finale oder der Schlecker-Insolvenz rücken, schwirren durch den virtuellen Raum und werden ausgiebig und mit großem Hallo zitiert und favorisiert.
Das Schlimmste daran: Hier spricht nicht der "Stammtisch", sondern der durchaus "informierte Leser". Reihenweise stimmen nämlich die seriösen Medien in den Spottgesang gegen Grass ein, und in säuerlicher Überheblichkeit ergeht sich ein Leitartikler im "Fremdschämen mit Grass und Griechenland". Kurz: Wer die Reaktionen auf das Gedicht im Internet abfragt, stößt auf eine Einheitsfront der brutalen Häme, die sich selbst als abgeklärte Ironie feiert.
Auf das, was Grass sagt, wollen sich die Spötter dabei nicht so recht einlassen. Auf die Verunglimpfung des Inhalts folgt vielmehr die Verhöhnung der Form. Von "dürren Versen" und einem "Dichter, der nicht dichtet", ist auf Twitter zu lesen - dass sich Grass in seinem Gedicht des Versmaßes der asklepiadischen Ode bedient (und dies sehr souverän), dass er sich gleich in der zweiten Strophe elegant auf Goethes Iphigenie bezieht und nebenbei noch mit der deutschnationalen Hölderlin-Rezeption der konservativen Revolution ins Gericht geht: All das entgeht offensichtlich nicht nur den sich betont bildungsfern gebenden Digital Natives.
Auch einer großen deutschen Tageszeitung, die sich selbst als kulturelles Leitmedium der Republik versteht, waren Grass‘ Verse nicht mehr wert als die total witzige Behauptung, es handele sich bei "Europas Schande" in Wahrheit nicht um ein Gedicht von Günter Grass, sondern um eine Erfindung, die die Satirezeitschrift Titanic geschickt in die seriöse Süddeutsche lanciert habe. Das kann man als kesse Metasatire verstehen - oder als dumm-dreiste Frechheit.
Tatsächlich erweist sich Grass mit seinem Griechenlandgedicht als einer, der im Deutschland Adenauers, Kohls und Merkels stets in der Diaspora lebte: als echter, engagierter Intellektueller. In Frankreich, dem Mutterland der modernen Publizistik, hätte "Europas Schande" wohl eine große öffentliche Debatte, vielleicht auch einen politischen Richtungswechsel ausgelöst; und sogar noch seine Gegner hätten den Dichter immerhin für sein ästhetisches Können gelobt.
In Deutschland dagegen, dem Mutterland des Biedermeier mit seinem bräsigen Juste-Milieu und seiner großbürgerlich maskierten Kleinkariertheit, reicht es nur zum plumpen, primitiven Schulhofspott. Und das wiederum ist der Skandal um Günter Grass und sein Gedicht "Europas Schande".
Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.
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