Europas Weg zum Frieden

Rezensiert von Klaus Schroeder · 20.04.2008
Nationale Begeisterung hat Europa in zwei Weltkriege getrieben, in denen zahlreiche junge Männer freiwillig an die Front zogen. Heute finden auf Europas Straßen Massendemonstrationen gegen den Irak-Krieg statt. Der Historiker James Sheehan schildert in seinem Sachbuch "Kontinent der Gewalt" den Wandel Europas vom Kriegs- zum Friedenskontinent.
Die Kontroversen um den zweiten Irak-Krieg und das Verhalten gegenüber dem atomar aufrüstenden Iran offenbaren geradezu konträre Positionen der USA und wichtiger Kernstaaten Europas. Sie streiten über die Notwendigkeit der Androhung und Durchführung militärischer Interventionen zur Sicherung von Menschenrechten und zum Sturz diktatorischer Regime.

Was für die USA aufgrund ihrer Geschichte und ihres Selbstverständnisses als globale Macht selbstverständlich ist, findet in Europa - in der Bevölkerung stärker noch als bei den Regierungen - kaum mehr Zuspruch. Sie lehnen den Krieg als Mittel der Politik ab.

Der an der Stanford-Universität lehrende Historiker James Sheehan vertritt in seinem informativen und anregend geschriebenen Buch zwei zentrale Thesen, die das europäische Verhalten verständlich machen.

"Erstens, die Überwindung des Krieges ist kein globales, sondern ein europäisches Phänomen, das Ergebnis der spezifischen Geschichte Europas im 20. Jahrhundert; und zweitens, das Verschwinden des Krieges nach 1945 hat ein völlig neues internationales System in Europa und eine Art von europäischem Staat geschaffen."

Nach einer kurzen historischen Skizze der allgemeinen Aufrüstung in Europa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, der Entstehung von Massenarmeen und dem Wandel des Soldatenbildes zeigt der Autor am Beispiel des Ersten Weltkrieges, wie anfängliche Begeisterung in grimmige Entschlossenheit zu kämpfen und an der Front nicht zu weichen umschlägt.

Sheehan widerspricht der hierzulande immer noch populären These von der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch dieses Krieges, betrachtet ihn als Resultat einer Serie von Fehlern und Fehlkalkulationen aller Beteiligten, die allesamt den Krieg als Fortsetzung der Politik verstanden. Zur Mobilisierung und Motivierung der eigenen Bevölkerung rüsteten die Kontrahenten auch propagandistisch auf.

"Jede Propagandakampagne versuchte den Feind zu verteufeln. Die Briten besaßen besonderes Geschick darin, die Deutschen als Bestien darzustellen - gewaltige, affenartige Geschöpfe mit Pickelhauben, die oft den leblosen Körper einer unschuldigen Jungfrau über der Schulter davontrugen."

Der Krieg hinterließ nicht nur tiefe materielle und seelische Spuren der Verwüstung, sondern schuf gleichzeitig die Voraussetzungen für die Entstehung des Sowjetkommunismus und des italienischen Faschismus und programmierte mit dem Versailler Vertrag den nächsten Weltkrieg gleichsam vor.

Die Hoffnungen liberaler Politiker, einen erneuten militärischen Zusammenprall auf dem europäischen Kontinent verhindern zu können, wurden von der aggressiven Entschlossenheit des nationalsozialistischen Deutschlands rasch ad absurdum geführt. Die deutsche Kriegsmaschinerie überrollte binnen kürzester Zeit große Teile Europas, Asiens und Afrikas, ohne jedoch den entscheidenden Schlag gegen die immer übermächtiger werdenden Kriegsgegner setzen zu können. Die mit dem Einmarsch in die Sowjetunion und der Kriegserklärung an die USA entstehende militärische Überdehnung führte Deutschland in die totale Niederlage.

Schon unmittelbar nach der Machtübernahme begannen die Nazis aus rassistischen Motiven mit der Vertreibung und Ermordung von Juden und anderen Bevölkerungsgruppen. Dabei konnten sie sich der Unterstützung durch Gesinnungsgenossen aus anderen Ländern gewiss sein.

"Zur Durchführung brauchten die Deutschen aber Hilfe, und fast überall fanden sie Mittäter. Manchmal - wie in Rumänien - waren die deutschen Behörden schockiert von der Brutalität des Antisemitismus' ihrer Verbündeten, manchmal, wie im Vichy-Frankreich, waren sie vom Eifer überrascht, mit dem das Regime ihre Wünsche vorwegnahm. Der Mord an den Juden war ein europäisches Phänomen, an dem französische Milizionäre, ukrainische Bauern, lettische Freiwillige und italienische Faschisten mitwirkten."

Nach dem Krieg waren nicht nur die Felder rot, sondern auch die Kraft der europäischen Staaten erschöpft. Beide Kriege hatten sie nicht nur materiell geschädigt, sondern vor allem mental entkräftet. Von nun an bestimmten der eigentliche Kriegsgewinner USA und die Sowjetunion das globale Geschehen für fast ein halbes Jahrhundert. Die ehemaligen europäischen Kolonialmächte verloren an Einfluss, Deutschland wurde geteilt und kurze Zeit später in die jeweiligen Machtblöcke integriert.

Die Zivilisierung Europas erfolgte zwar auf den Trümmern des Krieges, war aber nur möglich durch den Kalten Krieg und den nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung. In nahezu allen Staaten gingen die Verteidigungsausgaben zurück und die Konfliktaustragung wurde den beiden Supermächten überlassen. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums dehnte sich die EU nach Ost- und Mitteleuropa aus, ohne ihre zivilen Grundstrukturen in Frage zu stellen. Die EU ist zwar ein ziviler Superstaat, aber keine Supermacht. Insofern nimmt sie auf der internationalen Bühne keine herausragende Rolle ein. Als besonderes Problem erweist sich - so der amerikanische Historiker Sheehan -, dass die Idee Europa keine emotionale Bindung erzeugt.

"Die europäische Idee war nicht von nationaler Begeisterung und patriotischer Leidenschaft erfüllt, aber von einem weit verbreiteten Bemühen, den destruktiven Feindschaften der Vergangenheit zu entkommen, und von einem intensiven Engagement für die wirtschaftlichen Interessen und persönlichen Ziele."

Offen bleibt in diesem Buch, dem eine über die Fachwelt hinausgehende Leserschaft zu wünschen ist, welche Rolle einem zivilen Europa in einer von ökonomischen, sozialen und militärischen Spannungen geprägten Welt zukommt und ob es sich von der Abhängigkeit von den USA, die sich durch die Zivilisierung und die Preisgabe einer globalen Politik faktisch noch verstärkt hat, befreien kann und will. Die Europäer, die im letzten Jahrhundert durch zwei entsetzliche Kriege so viel Leid verursacht und erfahren haben, sind letztlich nicht mehr willens, Kriege untereinander oder gegen andere zu führen. So beantwortet sich die vom Autor in der Originalfassung im Buchtitel gestellte Frage "Where have all the soldiers gone?" gleichsam von selbst.


James Sheehan: Kontinent der Gewalt
Europas langer Weg zum Frieden

Aus dem Englischen von Martin Richter
Verlag C.H. Beck, München 2008