Europas Werte

Das christliche Abendland ist gar nicht so christlich

Eine Jesusfigur unter einem Baum
Das "christliche Abendland" beschrieb nie mehr als die bloße Wunschvorstellung einer bruchlosen Geschichte, meint Uwe Bork. © picture alliance / dpa / Patrick Seeger
Von Uwe Bork |
"Christliches Abendland" ist mehr ein Anspruch als ein feststehender Begriff, meint der Journalist Uwe Bork. Der Terminus wird seit Jahrhunderten von Mächtigen missbraucht. Trotzdem könne er sowohl für Bürger als auch Flüchtlinge eine Orientierung bieten.
Als im Jahr 1651 neugierige Jesuiten von ein paar kampanischen Hirten wissen wollten, wie viele Götter es denn gebe, war die Antwort nach christlichen Maßstäben mehr als verwirrend. "Hundert" schätzte einer der befragten Landmänner, "tausend" ein anderer, ein dritter tippte sogar auf eine noch höhere Zahl. Und als etliche Jahre später und etliche Kilometer weiter nördlich ein anderer wissensdurstiger Jesuit dieselbe Frage stellte, erfuhr er Ähnliches. Bretonische Inselbewohner glaubten nicht nur an den einen und einzigen christlichen Gott, sie hielten vielmehr eine Vielzahl von Göttern für das wahrscheinlichere Szenarium.
Derartige Vermutungen lassen staunen, hatte doch immerhin schon rund 1300 Jahre zuvor der römische Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion erklärt. Die fein polierten Grenzschilder 'Hier beginnt das christliche Abendland', die rechtsdrehende Politiker am liebsten an allen Außengrenzen der EU im Hundertmeterabstand aufstellen lassen würden, beschrieben jedoch noch nie mehr als die bloße Wunschvorstellung einer bruchlosen Geschichte. Bunte Volksfrömmigkeit hat das Christentum durch die Jahrhunderte hinweg über weite Strecken zu einer Art europäischem Voodoo werden lassen, bis heute. In einer solchen Religion des persönlichen Patchworks geht dann nach einer Untersuchung der katholischen Hochschule Freiburg beispielsweise sogar jeder fünfte hessische Katholik oder Protestant davon aus, dass es "verschiedene Götter" gibt. Krishna steht da plötzlich gleichberechtigt neben Christus, Buddha weist irgendwie den Weg zum Feng Shui und nur Allah findet in diesem synkretistischen Götterhimmel keinen Platz: Seine Presse ist im Moment nicht so gut.
Religion liefert völkischer Politik seit jeher freundlichen Anstrich
Doch das Durcheinander unter den Gläubigen ist nur der eine Schatten, der auf das hehre Modell des christlichen Abendlandes fällt. Es krankt auch daran, dass die politisch Mächtigen aller Zeiten das Christentum gern als ein willkommenes Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen pflegten und immer noch pflegen. Kaiser Konstantin wollte im Zeichen des Kreuzes siegen, Kolonialisten richteten auf fremden Kontinenten Kreuze auf, um ihren Einflussbereich zu vergrößern, und Marine Le Pen, Frankreichs glattes Gesicht der Fremdenfeindlichkeit, warnt ihre christlichen Landsleute mittlerweile vor einer "fortgeschrittenen Zersetzung der nationalen Identität".
Unter dem Vorwand, das über 2000 Jahre hinweg gewachsene Projekt 'christliches Abendland' schützen zu müssen, versucht sie damit ebenso wie ihre rechtspopulistischen Kollegen, die eigene Machtbasis zu festigen und die eigenen Wähler zu mobilisieren. Die Religion liefert hier nur den Anstrich, um die hässliche Fassade einer völkischen Politik mit einem freundlicheren Farbton zu übertünchen.
Christliches Abendland kann Standortbestimmung für alle sein
"Hier beginnt das christliche Abendland": Vielleicht haben diese virtuellen Schilder allerdings doch ihre Bedeutung. Sie könnten die Bürgerinnen und Bürger Europas daran erinnern, dass dieser Begriff kein ein für alle Mal feststehendes Faktum beschreibt, sondern dass er einen Anspruch erhebt, den es immer wieder neu in die Wirklichkeit umzusetzen gilt.
"Hier beginnt das christliche Abendland": Wollen sich Christinnen und Christen an dieser Standortbestimmung orientieren, sind sie nicht zuletzt zu Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl aufgerufen, allesamt zentrale Werte und Forderungen ihres Religionsstifters Jesus Christus.
Und wollen sich Flüchtlinge aller Länder, Religionen und Kulturen unter diesem Schild sammeln, werden auch sie einen Wertekanon akzeptieren müssen, auf den sich unsere Gesellschaft mehrheitlich geeinigt hat, sei er nun abendländisch, christlich oder gleich beides. Religiöse und politische Toleranz, Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter und über allem die Achtung der Menschenwürde: das ist praktisch das Kleingedruckte unter den großen Lettern unserer Geschichte. Wir werden darauf bestehen müssen.

Uwe Bork, Jahrgang 1951, Journalist und seit 1998 Leiter der Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft? des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Außer seinen Filmen hat Uwe Bork auch mehrere Bücher veröffentlicht. In ihnen setzt er sich humorvoll-ironisch mit dem Alltag in deutschen Familien auseinander (Väter, Söhne und andere Irre; Endlich Platz im Nest: Wenn Eltern flügge werden) oder räumt ebenso sachlich wie locker mit Urteilen und Vorurteilen über Religion auf (Wer soll das alles glauben? und andere schlaue Fragen an die Bibel; Die Christen: Expedition zu einem unbekannten Volk).

Uwe Bork, geboren 1951, ist seit 1998 Leiter der Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft' des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet.Außer seinen Filmen hat Uwe Bork auch mehrere Bücher veröffentlicht. In ihnen setzt er sich humorvoll-ironisch mit dem Alltag in deutschen Familien auseinander ("Väter, Söhne und andere Irre"; "Endlich Platz im Nest: Wenn Eltern flügge werden") oder räumt ebenso sachlich wie locker mit Urteilen und Vorurteilen über Religion auf ("Wer soll das alles glauben? Und andere schlaue Fragen an die Bibel"; "Die Christen: Expedition zu einem unbekannten Volk").
© Deutschlandradio
Mehr zum Thema