Ich glotz Europa
Europa hat eine gemeinsame Währung und einen gemeinsamen Binnenmarkt - eine gemeinsame Öffentlichkeit aber gibt es nicht. Medienmacher überlegen nun, wie sie das ändern können.
Das Europäische Parlament in Brüssel. Etwa 300 Bürger sind einer Einladung der Bürgerbeauftragten der EU, Emily O'Reilly, gefolgt. Es geht um die persönlichen Wünsche der EU-Bürger an das neue Parlament. Jeder darf sich hier äußern, am Ende soll eine "EU-Wishlist“ entstehen.
"Wenn die Menschen das Gefühl bekommen, auf eine Regierung auch Einfluss zu haben, würden sie sich von ihr vertreten fühlen. Ist das nicht so, dann fühlen sich viele natürlich nicht als Teil des Ganzen.“
Nach einer Umfrage der Kommission fühlt sich grade einmal die Hälfte der Menschen in der Union auch als Bürger der EU. Damit einher geht die Befürchtung, dass die Beteiligung an der anstehenden Europawahl erneut niedrig ausfallen wird. Zuletzt hatten nicht einmal die Hälfte der Wähler ihre Stimmen abgegeben. Kommissionspräsident Barroso beschreibt das Problem so:
"Wir haben in Wirklichkeit keine europäische Demokratie, mit der sich die Leute identifizieren können, weil die politische Debatte nicht auf europäischer Ebene stattfindet. Die Bürger fühlen sich dem EU-Parlament sehr fern."
Eine europäische Perspektive würde viel Klarheit bringen
Ein Grund dafür: Informationen über die EU erreichen die allermeisten Bürger nur durch ihre nationalen Medien, also durch eine nationale Brille. Länderübergreifende Medien, die die EU aus einem europäischen Blickwinkel sehen, gibt es kaum. Die wenigen Zeitungen, Blogs und Internetportale, die diese Perspektive einnehmen, richten sich bisher an eine kleine, besonders interessierte Leserschaft. Lediglich der Fernsehsender Euronews versteht sich als Massenmedium, das durchgängig aus einer explizit europäischen Perspektive berichtet. Dabei sollen die Medien als vierte Säule der Gewaltenteilung den Bürgern eigentlich helfen, sich ein eigenes Meinungsbild zu schaffen. Eine europäische Perspektive würde viel Klarheit bringen, so der Kommissionspräsident.
"Es gibt keine europäische Öffentlichkeit. Wir haben Parteien in Europa, die in Brüssel das Eine sagen und in Ihrer Hauptstadt das genaue Gegenteil davon."
Die Schuld liegt also für Manuel Barroso bei den Parteien, die auf nationaler und europäischer Ebene unterschiedliche Ziele verfolgen. Parlamentspräsident Martin Schulz stimmt dem zu. Und er weitet seine Kritik auf die Staats- und Regierungschefs aus:
"Wenn im Rat etwas passiert, dann höre ich danach 28 Pressekonferenzen. Wenn eine Einigung erzielt wurde, heißt es in 23 Sprachen der EU: 'Ich habe das für mein Land erreicht'. Gibt es keine Einigung, liegt es an der Inkompetenz der Europäischen Union. Die gleichen Leute nennen ihr Versagen ein Versagen Europas und ihren Erfolg ihren privaten, nationalen Erfolg. Diese gegenseitigen Schuldzuweisungen zerstören den europäischen Geist.“
Kommissionspräsident Barroso geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur die Parteien, sondern auch die Medien seien Schuld an der fehlenden europäischen Öffentlichkeit.
"Die meisten nationalen Medien berichten darüber, was in den Landesparlamenten und Regierungen passiert. Über Europa wird kaum berichtet, nur wenn es Skandale oder Streit gibt.“
Desinteresse der Heimatredaktionen
Rolf-Dieter Krause will sich das nicht vorwerfen lassen. Seit 13 Jahren leitet er das ARD-Studio in Brüssel, erklärt den deutschen Fernsehzuschauern Richtlinien, Gipfelbeschlüsse und Europawahlen. Über die EU zu berichten, sei nicht immer leicht - besonders bei komplizierten Themen und langwierigen Gesetzgebungsprozessen hätte die Heimat-Redaktionen teilweise wenig Interesse.
"Es gibt dann manchmal auch eine Ignoranz gegenüber den politischen Vorgängen in Brüssel. Das wirkt dann abstrakt, da sind dann auch nicht immer alle Redaktionen begeistert, wenn ihnen das angeboten wird von den Korrespondenten. Da ist ja die Vorratsdatenspeicherung nur ein Beispiel. Denken Sie mal an die Feinstaubverordnung, als dann plötzlich klar war, dass in Stuttgart die Innenstadt gesperrt werden muss. Hää? Haben wir mal beschlossen, sogar mit deutscher Stimme? Ja, war so! Da hat man lange Zeit vorher nicht hingucken wollen. Die Korrespondenten hier in Brüssel, die bieten solche Themen schon an.“
Nur würde in den nationalen Medien auch nur national diskutiert. Eine Debatte auf EU-Ebene finde zwar statt, aber eben in jedem Land für sich. Es fehle der Blick dafür, dass in der EU Vorgaben beschlossen werden, die in den Mitgliedsstaaten dann umgesetzt werden müssen. Und auch die Politik habe bei der Europäisierung nicht Schritt gehalten.
"Ich kann als ARD-Korrespondent hier in Brüssel jeden deutschen Abgeordneten vor unsere Kamera kriegen. Wenn es praktisch möglich ist, dann setzt der unter Umständen Himmel und Hölle in Bewegung und verschiebt Termine, um vor unsere Kamera zu kommen. Warum? Weil er über uns auch seine Wähler erreicht. Der spanische Europaabgeordnete, der im selben Parlament sitzt, der erreicht über mich seine Wähler nicht und ist sehr viel zögerlicher, zu uns zu kommen.“
Nationale Interessen vor europäischen. Damit ist Krause nicht nur bei Politikern konfrontiert. Auch andere Gesprächspartner machen ihm die Arbeit schwer.
"Wir erleben halt auch, dass NGOs, die früher ganz oft ein ziemlich verlässlicher Partner waren, inzwischen ihren Nimbus als solcher verlieren. Wir sind gerade sehr skeptisch gegenüber den NGOs, weil sie uns viel Mist erzählt haben.“
Krause spielt damit unter anderem auf die Verhandlungen um das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA an. NGOs hätten immer wieder davor gewarnt, dass in der EU gechlorte Hühnchen zugelassen werden könnten. Es sei aber längst bekannt, dass es dazu gar nicht kommen könnte.
Die Medien als vierte Säule der Gewaltenteilung – in der EU ist diese Säule noch sehr wackelig. Eigene, oft nationale Interessen der Politik erschweren das bisher. EU-Themen wird medial noch nicht der Stellenwert zugemessen, den sie im Hinblick auf ihre Tragweite haben. Noch steht die nationale Gesetzgebung im medialen Fokus. Nicht zuletzt die Sprachbarriere erschwert eine Diskussion über Ländergrenzen hinweg – auch unter den Bürgern. Dabei wäre genau das ein wirksames Mittel gegen den Europaverdruss.