Europawahl

Projekte statt leerer Worte!

Wahlplakate zur Europawahl in Hannover.
Wahlplakate zur Europawahl in Hannover © picture alliance/dpa/Holger Hollemann
Von Mathias Greffrath · 22.05.2014
Obwohl sich Jean-Claude Juncker und Martin Schulz auf ihren Reisen mächtig ins Zeug legen, ein zündendes Thema hat dieser Europawahlkampf nicht gefunden, meint der Journalist Mathias Greffrath.
Auf großen Plakaten werben große Gesichter mit sehr großen Worten für die Europawahl: Freiheit, Wohlstand, Solidarität, Gerechtigkeit, Liebe gar. Aber seit 1979 ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken, von 65 auf 43 Prozent. Nun zittern die Parteien vor einem Erfolg der Populisten. Sie haben allen Grund dazu.
Denn, wie chauvinistisch und rassistisch die französischen Le Pens und niederländischen Wilders auch sein mögen, die Wähler strömen den Demagogen zu, weil sie mit den drängenden, aber ungelösten Problemen trommeln: Bankenkrise, Migration, Ungleichheit, Jugendarbeitslosigkeit.
Es gab einmal einen europäischen Frühling, nach dem Fall der Mauern. Damals hoffte Vaclav Havel auf ein dezentrales Europa, mit einer Renaissance des Mittelstands, mit aktiven Bürgern, mit sozialer Sicherheit. Jacques Delors entwarf das Gemeinschaftsprojekt eines transnationalen Netzes von Hochgeschwindigkeitszügen, von Lissabon bis Moskau, von Helsinki bis Athen.
Vorbei, die Friedensdividende wurde liberalistisch angelegt. Europa blieb ein Markt, und der Vertrag von Lissabon, so schrieb die "Financial Times", sei eher ein Bauplan für eine Aktiengesellschaft als für ein Gemeinwesen.
Neoliberale Credos
Kein Zweifel: Die Europäisierung der Sozialsysteme ist eine gigantische Aufgabe, gleichbedeutend mit einer innereuropäischen Umverteilung von Geld, Arbeit, und Steuern. Ohne eine Erweiterung des Bürgersinns, ohne einen europäischen Patriotismus bleibt sie Fiktion. Aber unter dem Beton des nationalwirtschaftlichen Eigennutzes, des ungebrochenen neoliberalen Credos ist der Frühling von 89 verdorrt.
Von Oben ist also wenig zu erwarten, aber warum sollte neuer europäischer Gemeinsinn und Enthusiasmus nicht von Unten kommen? Ist es eigentlich wirklich ganz abwegig, dass das größte soziale Problem des Kontinents neue politische Energien entbinden könnte?
Jeder vierte Europäer unter 25 Jahren ist arbeitslos. Vor zwei Jahren haben hunderte von Wissenschaftlern und Politikern, von Lehrern, Ingenieuren und Künstlern der Europäischen Kommission ein freiwilliges Europäisches Jahr für alle vorgeschlagen: Arbeitslose und Arbeiter, Lehrer und Lehrlinge, Manager und Musiker könnten ein Jahr lang in Feldern arbeiten, für die es keine nationalen Lösungen mehr gibt: Klimawandel, Umweltzerstörung, Flüchtlingsströme, verödete Infrastrukturen.
Ein zweiter Frühling
Spanische Jugendliche, die in polnischen Krankenhäusern lernen; dänische Erzieherinnen, die mit bosnischen Kindern spielen; griechische Lehrlinge, die englische Slums sanieren - es ist der faszinierende Gedanke eines großen europäischen Gemeinschaftsprojekts. Es wäre ein zweiter Frühling, ein Aufbruch, an dessen Ende es ein paar Millionen bewusster junger Bürger mehr gäbe in Europa.
Utopisch, weil nicht finanzierbar? Nicht einmal das. Selbst wenn alle sechs Millionen jugendlicher Arbeitsloser auf einmal teilnähmen, betreut von 60.000 gut bezahlten Profis, betrügen die Kosten, grob gerechnet, rund 80 Milliarden im Jahr. Woher das Geld kommen soll? Sie könnten aufgebracht werden, wenn der Beitrag der Nationen zum europäischen Haushalt von einem Prozent ihres Sozialprodukts auf anderthalb Prozent stiege - dann würde es alle belasten - oder durch eine Zukunftsabgabe auf die zehn Billionen Geldvermögen der Europäer.
Eine Zukunftssteuer auf 0,8 Prozent der Vermögen, die sich doch der kollektiven Arbeit der Vergangenheit verdanken: es wäre keine schlechte Investition. Mit einem solchen Projekt statt mit großen leeren Worten in den Europawahlkampf zu ziehen - ich denke, das wäre nicht populistisch gewesen, sondern populär.
Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für "DIE ZEIT", die "taz" und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater.

Letzte Veröffentlichungen u.a.: "Montaigne - Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows". Mathias Greffrath lebt in Berlin.
Mehr zum Thema