Die ukrainische Band Kalush Orchestra wird als Favorit beim ESC 2022 gehandelt. Das habe nicht nur politische Gründe, sagt ESC-Expertin Amelie Ernst [Audio-Link]. Kalush Orchestra überzeuge auch musikalisch. Finnland und Großbritannien begeistern die Zuschauer mit opulenten Shows. Malik Harris aus Deutschland werde vermutlich nur im Mittelfeld landen.
Eurovision Song Contest
Conchita Wurst gewann 2014 den 59. Eurovision Song Contest (ESC) in Kopenhagen. 16 Länder stritten im Finale um die Schlagerkrone. © picture alliance / Scanpix Denmark
Am besten unpolitisch?
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Russland ist raus – bei der Fußball-WM, in Wimbledon, und auch der ESC findet in diesem Jahr ohne einen russischen Beitrag statt. Dabei will der Musikwettbewerb eigentlich unpolitisch sein. Doch das klappt nicht immer. Ein Rückblick.
Es ist der 21. März 1964, als beim Grand Prix Eurovision de la Chanson zwischen vielen harmlosen Schlagern zum ersten Mal eine politische Botschaft eine Rolle spielt. Nach dem Auftritt der Schweizerin Anita Traversi in Kopenhagen stürmt ein Mann auf die Bühne und hält ein Plakat hoch: „Nieder mit Franco, nieder mit Salazar“.
Der Mann wird schnell von der Bühne gezogen. Doch die Kritik an den Diktatoren in Spanien und Portugal hat das Publikum erreicht – genau in dem Jahr, in dem Portugal zum ersten Mal am Wettbewerb teilnimmt.
Österreich boykottiert den Wettbewerb
Für Portugal reicht es am Ende nur für den 13. und damit letzten Platz. Fünf Jahre später, 1969, regiert General Franco immer noch in Spanien. Aus Protest bleibt Österreich dem Grand Prix fern.
Auch in den Songs und Liedern auf der ESC-Bühne geht es nicht immer unpolitisch zu: Nicole und andere singen von und für den Frieden; andere für Freiheit und Toleranz gegenüber Minderheiten.
1968, ein Jahr vor dem Boykott, schickt Österreich bewusst den Tschechen Karel Gott ins Rennen – als Zeichen der Entspannung im Kalten Krieg. Sein Lied „Tausend Fenster“ beschreibt dagegen die wachsende Entfremdung zwischen Ost und West.
In den 1970er-Jahren wird der Grand Prix Eurovision de la Chanson dann sogar gezielt zur politischen Bühne: 1975 tritt der Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei offen zutage, als Griechenland dem Wettbewerb fernbleibt und damit gegen den Einmarsch der Türkei auf Zypern demonstriert.
Die Türkei dagegen ist in jenem Jahr zum ersten Mal beim Wettbewerb dabei, auch sie will ein Zeichen setzen. 1976 dann ist Griechenland zurück – mit einem Lied, das in Metaphern die Besetzung Zyperns thematisiert. Dieses Mal boykottiert die Türkei den Grand Prix und sendet während des griechischen Beitrags ein nationalistisches türkisches Lied.
Ein Song über den Genozid an den Armeniern
„Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt“, so heißt es in den aktuellen Regularien des Wettbewerbs. Doch die Grenzen waren und sind fließend.
Während die armenische Gruppe „Genealogy“ 2015 über den Genozid an den Armeniern singen darf und Jamala 2016 für die Ukraine mit ihrem Lied über die Vertreibung ihrer Vorfahren von der Krim sogar den Wettbewerb gewinnt, muss Georgien 2009 zurückziehen. Der Song „We don’t wanna Put In“ ist zu deutlich gegen Russland und seinen Präsidenten gerichtet, wenn auch in veränderter Schreibweise und mit Diskobeats präsentiert.
2017 wiederum darf die bereits nominierte russische Teilnehmerin nicht zum Wettbewerb nach Kiew kommen. Sie war aus Sicht der Gastgeber zuvor illegal auf die von Russland besetzte Halbinsel Krim gereist.
Conchita Wurst und ein Lied für Toleranz
Doch es gibt beim ESC auch politische Botschaften, die sich nicht direkt gegen eine Regierung oder gegen ein Land richten, und die deshalb von den Veranstaltenden toleriert und von vielen Fans gefeiert werden. 16 Jahre nach Dana International für Israel setzt 2014 Conchita Wurst ein Zeichen für Toleranz und Akzeptanz und holt die ESC-Trophäe nach Österreich.
2018 gewinnt mit dem Song „Toy“ der Israelin Netta eine Hymne gegen chauvinistische Männer und für weibliche Selbstbestimmung. Lieder, die politisch genug sind, um den Song Contest zu gewinnen – aber unpolitisch genug, um nicht ausgeschlossen zu werden.