Wien sucht die Wurst-Nachfolge
Am Samstag findet das Finale des Eurovision Song Contest statt. Rund 200 Millionen werden den Wettbewerb verfolgen, bei dem es darum geht: Wer folgt auf die bärtige Dragqueen Conchita Wurst?
Der Eurovision Song Contest hatte in seiner fast 60-jährigen Geschichte einen historischen Höhepunkt erreicht. Und mit dem Sieg der österreichischen Dragqueen-Diva mit akkuratem Vollbart und saalfüllender Stimme hatte Conchita Wurst ihr Lebensziel erreicht, zum Star zu werden. Auch Deutschlands größter ESC-Experte, taz-Redakteur Jan Feddersen war und ist begeistert:
"Wie selig kann ein Kontinent sein, dass er seine eigenen Identifikationsangebote zum Umrühren bringt mit einem Popfestival und eben nicht nur auf höchster top down-Ebene von Brüssel aus. Und so ne Figur wie Conchita wird beim ESC im Grunde genommen nur alle sehr viele Jahre geboren."
Vom Gastwirts-Sohn zum Star
Einen Exoten-Bonus gibt es beim ESC nicht, Conchita Wurst hat mit großer Stimme und einem guten Song überzeugt. Vor allem aber mit Glaubwürdigkeit. Im aktuellen Buch "Ich, Conchita" ist die Geschichte vom Gastwirts-Sohn Tom Neuwirth aus einem österreichischen Provinznest gerade nachzulesen - etwas schwülstig, aber eben glaubwürdig. Wie er schon in jungen Jahren wegen seines Kleiderfimmels ausgegrenzt wird, seinen inneren Überzeugungen aber folgt und schließlich - wie ein Phoenix – zum Star aufsteigt, einem mit Botschaft.
"Ich werde immer dafür einstehen, was mir wichtig ist. Und dazu gehört meine Community und dazu gehört auch der Wille, dass die nachkommenden Generationen in einer Gesellschaft aufwachsen dürfen, die von Respekt geprägt ist."
Und so ging die 26-Jährige ihren Weg weiter in die Welt hinaus als Sängerin UND Botschafterin für Respekt und Toleranz: Sie trat im "Crazy Horse" in Paris auf und bei den Golden Globes in Beverly Hills, vor dem Europaparlament und der UNO.
"Ich würde nie in die Politik gehen"
"Also ich würde nie in die Politik gehen, aber ich nutze diese Orte und diese Begegnungen mit einflussreichen Menschen wie Ban Ki-moon, um eben durch diese Situation mehr Reichweite zu bekommen."
Ein Jahr nach ihrem Triumph ist nun ihr erstes Album "Conchita" erschienen. Musikalisch nicht weltbewegend, aber in diesem Song wieder mit der selbst erlernten Message, dass man allen Menschen offen begegnen und sich von Hindernissen nicht aufhalten lassen sollte. Geschrieben ist die Single "Unstoppable" von Komponisten, die auch schon Heavy-Metal-Bands mit Songs beliefert haben.
"Es ist hörbar nicht Heavy Metal, aber es ist für meine Verhältnisse sehr rockig. Ich schreibe meine Songs nicht selbst. Aber ich glaube: Egal, ob man seine Songs nun selbst schreibt oder eben nicht: Bis diese Lied fertig ist und man sagen kann, dass es einem aus dem Herzen spricht, ist es ein sehr langer Weg. Und deswegen haben wir von der ursprünglichen Version, die doch etwas mehr rockig war, es mehr in die Conchita-Welt geholt."
Und auch der diesjährige ESC-Austragungsort wird schon in die Conchita-Welt geholt. In Wien hat man die Conchita-Botschaft verstanden: Nicht nur, dass seit kurzem in der österreichischen Hauptstadt Ampelmännchen und -frauchen auch aus gleichgeschlechtlichen Paaren bestehen. Wie bei keinem Song-Contest-Finale zuvor wird hier gesellschaftliche Offenheit und Modernität zelebriert. Das findet Jan Feddersen auch beim ESC endlich angemessen, denn:
Ganz Europa guckt zu
"Es ist das wichtigste Kulturereignis in Europa überhaupt. Alle anderen Kulturereignisse leben von staatlichen Subventionen, von irgendwelchen hochkulturellen Beschlüssen, von irgendwelchen ästhetischen Kriterien, die niemand durchschaut. Also hier ist Pop. Und Pop bedeutet ja vor allem populär und volkstümlich. Hier findet Europa zu sich. Und beim ESC guckt man plötzlich über die eigenen Horizonte hinaus. Das ist die in Europa zivilisierende Qualität dieses Dings."
Im Schatten der Wurst ist in Wien so auch das diesjährige Veranstaltungsmotto entstanden: "Building Bridges", also: "Brückenbauen". Gedacht wohl vor allem für europäische National-Gesellschaften, die noch nicht ganz so weit sind.
Und für die in diesem Jahr vor allem der finnische Beitrag eine Zumutung ist. Die Band Pertti Kurikan Nimipäivät besteht aus zwei Musikern mit Down-Syndrom, einem Autisten und einem sogenannten Lernbehinderten, allesamt waschechte Punks.
Ikonen der Inklusion
Diese PKN gelten schon als Ikonen der Inklusion in Europa, wollen selbst davon allerdings gar nichts wissen: "Keine Verständnisscheiße, bitte!", sagen sie. Und singen in der mit anderthalb Minuten kürzesten Nummer der ESC-Geschichte: "Immer muss ich ... mich waschen, freundlich sein, zum Arzt gehen, zur Arbeit ... "
Feddersen: "Europa ist für alles bereit, wenn es ein gutes Angebot bekommt. Und offenbar findet man das zumindest in Finnland gut. Und warum auch nicht? Das ist auch ne wichtige Frage: Die Integration von sogenannten Behinderten in den Mainstream. Also, das finde ich außerordentlich bemerkenswert."
Australien ist dabei, die Ukraine nicht
Bemerkenswert in diesem Jahr auch: Australien ist mit dabei, dafür die Ukraine nicht. Und einige politisch angehauchte Acts haben es bis nach Wien geschafft: Ein armenisches Musikprojekt erinnert mit seinem Lied an den Völkermord an den Armeniern 1915. Eine rumänische Band singt vom typischen Schicksal der Kinder, die in Rumänien zurückbleiben, während ihre Eltern anderswo arbeiten müssen. Und die Ungarin Boggie zählt mit ihrer Ballade für den Weltfrieden sogar zu den Favoriten. Die deutsche Teilnehmerin Ann Sophie steht dagegen bei den Buchmachern nicht unter den Top Ten. Und Diva Conchita?
Conchita Wurst: "Ich reduziere mich auf den Green Room und bespaße die Kandidaten, weil ich einfach weiß, wie es ist, in dieser Situation zu sein. Und ich hab mir zum Ziel gemacht, den Kandidaten bei aller Ernsthaftigkeit, die so ein Event auch haben soll für einen Musiker, 'n bisschen den Spaß zurückzubringen."