Eurydike, wie Elfriede Jelinek sie sieht

Von Stefan Keim |
Elfriede Jelineks "Schatten" erzählt in Anlehnung an die Orpheus-Sage die Geschichte Eurydikes als die einer frustrierten Frau. Ihr Mann ist ein Popstar, der von Groupies umlagert wird. Sie arbeitet als Schriftstellerin, aber keiner interessiert sich für sie. Als der Tod naht, empfindet Eurydike ihn als Erlösung. Die Hauptrolle spielt die schwangere Johanna Wokalek. Es ist ein künstlerisch großartiger Abend an der Essener Philharmonie.
Der Titel des Abends klingt eher läppisch: "Ein Sommernachtstraum. Blicke nicht zurück". Doch dahinter verbirgt sich ein künstlerisch hochkarätiges Projekt. Die Essener Philharmonie führt drei Theatersparten in einer Auseinandersetzung mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike zusammen. Claudio Monteverdis "Orfeo", das Ballett "Cherché, trouvé, perdu" von Patrick Delcroix – und eine Uraufführung von Elfriede Jelinek.

Magisch und meditativ dirigiert Thomas Hengelbrock den 400 Jahre alten "Orfeo" mit seinem Balthasar-Neumann-Ensemble. Die Bühne ist in Toscana-Abendstimmungslicht getaucht. Ohne Regisseur gelang eine perfekte halbszenische Aufführung. Nur ein Teil des Balthasar-Neumann-Ensembles saß von Beginn an auf der Bühne. Ganz gemächlich schlendert zur Ouvertüre die Theorbe hinein, auch sonst herrscht fließende Bewegung auf der Bühne. Mal stehen die Bläser links vom Dirigenten, mal bildet der Chor eine Art Statuenpark. Die jungen Sänger können ihre Partien auswendig, agieren miteinander, ohne zu übertreiben. Alles steht im Dienste der klaren, scheinbar einfachen und doch vielschichtigen Musik. Das Ensemble wirkt so eingespielt, dass auch höchste Konzentration natürlich und entspannt wirkt.

Hengelbrock schafft den Sängern Raum und Zeit, dirigiert große Bögen, interpretiert das Stück aus der finalen Erkenntnis heraus, dass Hingabe an die Leidenschaft nie zum Glück führt. Es ist eine fast buddhistische Spiritualität, die sich durch diese Aufführung zieht. Neben dem jungen weißrussischen Bariton Nikolay Borchev als Orfeo glänzt Anna Bonitatibus in der heimlichen Paraderolle der Proserpina, die sogar die Hölle mit einem Glanz des Mitgefühls und der Schönheit erfüllt. Durch die Präzision des musikalischen und die Zurückhaltung des szenischen Ausdrucks entstehen Bilder in den Köpfen der Zuschauer. Mehr Inszenierung braucht es nicht. Am Ende lässt Hengelbrock sein Ensemble allein zu Ende spielen, stellt sich zu den Sängern und singt den Schlusschor mit, gelöst und heiter.

Elfriede Jelineks neues Stück liefert die Antithese. Die schwangere Johanna Wokalek sitzt auf einem Kleiderberg. Im Gegensatz zur gewohnten Textflächendramaturgie hat Jelinek diesmal eine klare Rolle geschrieben und diese schon im Titel verankert: "Schatten (Eurydike sagt)". Es ist die Geschichte einer frustrierten Frau, Gattin eines Popstars, der von hirnlos kreischenden Groupies umlagert wird. Sie ist Schriftstellerin, aber keiner interessiert sich für sie. Eurydike fühlt sich als Nichts und behängt sich deshalb mit Modeklamotten, die Leere verlangt nach immer neuen Hüllen. Als der Tod naht, empfindet Eurydike ihn als Erlösung. Endlich kann sie der Schatten sein, als den sie sich schon vorher empfunden hat, körperlos, weit weg von der Zumutung, die andere Leute Leben nennen.

Natürlich ließen sich da autobiografische Bezüge zur weltabgewandten und doch über Internet hellwach mit der politischen Realität verbundenen Jelinek ziehen. Doch darum geht es Johanna Wokalek nicht. Sie spielt und liest ihre eigene Strichfassung gedankenklar, klug gliedernd und doch dem Text keine verkleinernde Deutung überstülpend. Während im Hintergrund auf großer Leinwand Videos von Sträuchern, einem auf Treppenstufen gebrochenen Schatten und eine Nahaufnahme der Schauspielerin zu sehen sind. Jelinek light, verständlich, ohne allzu große Garstigkeiten, wortwitzverliebt, gnadenlos konsequent aber auch warmherzig in der Analyse Eurydikes. Für Teile des Philharmoniepublikums, von dem ein großer Teil wegen des Monteverdi gekommen waren, blieb es immer noch eine Konzentrationsleistung, dem zuzuhören.

Eine kurze Aufführung des Aalto-Balletts rundete diesen inhaltlich anregenden und künstlerisch großartigen Abend ab. Einen grundlegenden Mythos unserer Kultur in einer seiner ältesten und seiner neuesten Bearbeitung zu präsentieren, in verschiedenen Theaterformen, ist ein Konzept, das Zukunft hat. Vielleicht hat die Essener Philharmonie da ein Modell entwickelt, das auch zur Profilschärfung anderer Konzerthäuser beitragen kann.

Theater-Homepage Philharmonie Essen: Ein Sommernachtstraum: "Blicke nicht zurück"

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