Euthanasie - Probelauf des Holocaust
"Die Belasteten" ist das bisher eindringlichste Buch des Historkers Götz Aly. Schonungslos beschreibt er das mörderische Drama, das sich in der Nazidiktatur unter dem Namen Euthanasie abgespielt hat - als Gesellschaftsgeschichte mit Auswirkungen auf die Gegenwart.
Götz Aly hat den Anspruch, gängige Geschichtsbilder infrage zu stellen: durch neue Perspektiven, Verborgenes bewusst zu machen – wie etwa in seinem Buch über den Neid als Motor des Antisemitismus oder in "Hitlers Volksstaat", in dem er die Zusammenhänge zwischen Krieg, Raub und Befriedung der deutschen Bevölkerung thematisierte.
Mit seinem neuesten Buch bricht Götz Aly jedoch kein Tabu. Er bewegt sich nicht auf einem Feld, das noch nicht beackert worden ist. Über die Euthanasie gibt es zahlreiche Bücher, auch bewegende biografische Erzählungen über einzelne Opfer und ihre Familien. Inschriften und Denkmäler erinnern an die Verbrechen, die während der NS-Zeit an Tausenden der wehr- und hilflosesten Menschen verübt wurden. Insofern überrascht es, dass sich Aly jetzt einem derart beachteten Thema widmet: Wird er seinem Ruf gerecht, wesentlich Neues zu berichten?
Die Frage ist bei der Lektüre dieses Buches schnell beantwortet: Er wird. Mehr noch: "Die Belasteten" ist sein eindringlichstes Buch, wahrscheinlich sein bestes - weil er nicht nur Quellen durchstöbert hat, um einen überraschenden kühnen Gedanken zu belegen. Stattdessen beschreibt er auf solider Forschungsgrundlage schonungslos und sensibel das Drama, das sich unter dem Namen Euthanasie abgespielt hat - und das Folgen bis heute hat. Die Euthanasie als Gesellschaftsgeschichte zu beschreiben, heißt, ihr den Schleier zu nehmen, der trotz aller Bemühungen bis heute darüber liegt.
Noch immer ist es nicht selbstverständlich, dass die Opfer öffentlich beim Namen genannt werden. Noch immer ist die Scham nicht überwunden, die sowohl mit der Existenz als auch mit der Auslöschung der Existenz behinderter Menschen verbunden war und ist. Aly nennt die Namen der Opfer und der Täter, zuweilen führt er sie wie ein Chronist auf, damit sie endlich öffentlich genannt werden. Und er gebraucht unerbittlich dieses eine Wort für das, was geschehen ist: Mord.
Die Verschleierung dieses Mordens begann damit, dass die NS-Regierung zwar eine Gesetzesvorlage dafür erarbeitete, aber die Verkündung eines Gesetzes vermied. Stattdessen wurde die Organisation mit ihrer Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 ("T4") aufgebaut und alles getan, um die Betroffenen zu erfassen und an mehreren Orten zu ermorden. Die Eltern erhielten eine Todesmeldung, die es ihnen ermöglichte, einen natürlichen Tod anzunehmen, obwohl öffentlich erkennbar war, was eigentlich hinter dem plötzlichen Tod steckte. So sollten sowohl Täter als auch Eltern bzw. Angehörige entlastet werden.
Alys Buch ist seiner behinderten Tochter Karline gewidmet: Er kennt die Belastung, die Behinderte für pflegende Angehörige bedeuten – und vermeidet daher, die Angehörigen, die die Verbrechen hinnahmen, zu verurteilen. Belastet durch die Fürsorge- und Pflegenotwendigkeit und bedroht durch einen Staat, der Behinderung als Bedrohung der Volksgesundheit propagierte: Das war eine extreme Herausforderung an die Menschlichkeit.
Aly beschreibt das Verbrechen in all seinen Facetten, bis hin zur Forschung an Kindergehirnen Ermordeter, die auch nach 1945 noch weiterging. Bemerkenswert ist, wie offen Wissenschaftler und Ärzte der 30er-Jahre für die Euthanasie waren: Gerade unter reformorientierten engagierten Ärzten war der Gedanke, sich der "geistig Toten" oder "entgeistigten Gerippe" zu entledigen. Die Morde waren in Wissenschaft und Medizin denkbar, die Nationalsozialisten haben sie dann organisiert. Und sie haben, so Aly, mit diesen Euthanasie-Morden erprobt, dass man so etwas öffentlich durchführen konnte, ohne dass es große Unruhe in der Bevölkerung gab. Für Aly hat die Euthanasie den Charakter eines Probelaufs für den Holocaust.
Widerstand dagegen gab es vereinzelt von Eltern, die in der Regel auch durchsetzten, dass ihre vom Tod bedrohten Angehörigen verschont wurden. Nur einer traute sich, den Schleier wegzureißen und die Morde öffentlich anzuprangern: der Münsteraner Bischof Graf von Galen. Dessen katholischer Glaube, auf dem der Mut zum Widerstand beruhte, ist Aly fremd. Aber mit seinem Buch tritt er in gewisser Weise das Erbe Galens an: indem es schonungslos offenlegt, was damals geschah und was das mit uns heute zu tun hat. Aufklärung im besten Sinne des Wortes.
Besprochen von Winfried Sträter
Götz Aly: Die Belasteten. "Euthanasie" 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2013
352 Seiten, 22,99 Euro
Mit seinem neuesten Buch bricht Götz Aly jedoch kein Tabu. Er bewegt sich nicht auf einem Feld, das noch nicht beackert worden ist. Über die Euthanasie gibt es zahlreiche Bücher, auch bewegende biografische Erzählungen über einzelne Opfer und ihre Familien. Inschriften und Denkmäler erinnern an die Verbrechen, die während der NS-Zeit an Tausenden der wehr- und hilflosesten Menschen verübt wurden. Insofern überrascht es, dass sich Aly jetzt einem derart beachteten Thema widmet: Wird er seinem Ruf gerecht, wesentlich Neues zu berichten?
Die Frage ist bei der Lektüre dieses Buches schnell beantwortet: Er wird. Mehr noch: "Die Belasteten" ist sein eindringlichstes Buch, wahrscheinlich sein bestes - weil er nicht nur Quellen durchstöbert hat, um einen überraschenden kühnen Gedanken zu belegen. Stattdessen beschreibt er auf solider Forschungsgrundlage schonungslos und sensibel das Drama, das sich unter dem Namen Euthanasie abgespielt hat - und das Folgen bis heute hat. Die Euthanasie als Gesellschaftsgeschichte zu beschreiben, heißt, ihr den Schleier zu nehmen, der trotz aller Bemühungen bis heute darüber liegt.
Noch immer ist es nicht selbstverständlich, dass die Opfer öffentlich beim Namen genannt werden. Noch immer ist die Scham nicht überwunden, die sowohl mit der Existenz als auch mit der Auslöschung der Existenz behinderter Menschen verbunden war und ist. Aly nennt die Namen der Opfer und der Täter, zuweilen führt er sie wie ein Chronist auf, damit sie endlich öffentlich genannt werden. Und er gebraucht unerbittlich dieses eine Wort für das, was geschehen ist: Mord.
Die Verschleierung dieses Mordens begann damit, dass die NS-Regierung zwar eine Gesetzesvorlage dafür erarbeitete, aber die Verkündung eines Gesetzes vermied. Stattdessen wurde die Organisation mit ihrer Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 ("T4") aufgebaut und alles getan, um die Betroffenen zu erfassen und an mehreren Orten zu ermorden. Die Eltern erhielten eine Todesmeldung, die es ihnen ermöglichte, einen natürlichen Tod anzunehmen, obwohl öffentlich erkennbar war, was eigentlich hinter dem plötzlichen Tod steckte. So sollten sowohl Täter als auch Eltern bzw. Angehörige entlastet werden.
Alys Buch ist seiner behinderten Tochter Karline gewidmet: Er kennt die Belastung, die Behinderte für pflegende Angehörige bedeuten – und vermeidet daher, die Angehörigen, die die Verbrechen hinnahmen, zu verurteilen. Belastet durch die Fürsorge- und Pflegenotwendigkeit und bedroht durch einen Staat, der Behinderung als Bedrohung der Volksgesundheit propagierte: Das war eine extreme Herausforderung an die Menschlichkeit.
Aly beschreibt das Verbrechen in all seinen Facetten, bis hin zur Forschung an Kindergehirnen Ermordeter, die auch nach 1945 noch weiterging. Bemerkenswert ist, wie offen Wissenschaftler und Ärzte der 30er-Jahre für die Euthanasie waren: Gerade unter reformorientierten engagierten Ärzten war der Gedanke, sich der "geistig Toten" oder "entgeistigten Gerippe" zu entledigen. Die Morde waren in Wissenschaft und Medizin denkbar, die Nationalsozialisten haben sie dann organisiert. Und sie haben, so Aly, mit diesen Euthanasie-Morden erprobt, dass man so etwas öffentlich durchführen konnte, ohne dass es große Unruhe in der Bevölkerung gab. Für Aly hat die Euthanasie den Charakter eines Probelaufs für den Holocaust.
Widerstand dagegen gab es vereinzelt von Eltern, die in der Regel auch durchsetzten, dass ihre vom Tod bedrohten Angehörigen verschont wurden. Nur einer traute sich, den Schleier wegzureißen und die Morde öffentlich anzuprangern: der Münsteraner Bischof Graf von Galen. Dessen katholischer Glaube, auf dem der Mut zum Widerstand beruhte, ist Aly fremd. Aber mit seinem Buch tritt er in gewisser Weise das Erbe Galens an: indem es schonungslos offenlegt, was damals geschah und was das mit uns heute zu tun hat. Aufklärung im besten Sinne des Wortes.
Besprochen von Winfried Sträter
Götz Aly: Die Belasteten. "Euthanasie" 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2013
352 Seiten, 22,99 Euro