Eva Corino: "Das Nacheinander-Prinzip"

Wider den Gleichzeitigkeitswahn!

Gestresst sitzt eine Mutter im Kinderzimmer, während sich dahinter ihre beiden Kinder um ein Plüschtier streiten.
Die Gleichzeitigkeit von Karriere, Familie und Selbstoptimierung stresst und führt zu Überforderung. © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Eva Corino im Gespräch mit Frank Meyer |
Karriere, Familie, Selbstoptimierung – und das alles gleichzeitig. Weil das krank macht, wirbt die Autorin Eva Corino für ein gelassenes Nacheinander, das auch der längeren Lebenserwartung Rechnung trägt: "Wir können genauso gut Karrieren zwischen 40 und 50 anfangen".
Frank Meyer: Viele Frauen und Männer leiden unter einem Gleichzeitigkeitswahn in unserer Gesellschaft – das meint die Publizistin Eva Corino –, und Gleichzeitigkeitswahn, das heißt, einen Partner finden, Kinder kriegen, im Beruf vorankommen, selbst fit bleiben, vielleicht noch die alten Eltern pflegen, und das alles gleichzeitig in der Lebensmitte.
Gegen diesen Wahn möchte Eva Corino das Nacheinander-Prinzip starkmachen mit einem Buch, das genau so heißt, "Das Nacheinander-Prinzip", und sie ist jetzt hier bei uns zu Gast. Seien Sie willkommen, Frau Corino!
Eva Corino: Ja, guten Tag, Herr Meyer!
Meyer: Wie leben oder wie leiden denn Menschen unter diesem Gleichzeitigkeitswahn, was haben Sie da beobachtet?

Ein ständiges Gefühl von Überforderung

Corino: Also die harmlosen Folgen sind natürlich einfach Zeitnot, Zerrissenheit und eben ein ständiges Gefühl von Überforderung und "Ich mach nichts richtig". Die tragischeren Auswirkungen konnte ich in meinem Freundeskreis leider aus nächster Nähe beobachten. Also die Gesundheiten gehen kaputt, die jungen Eltern landen im Burnout, viele Ehen kollabieren, weil sie den großen Druckzuständen nicht standhalten, und dann ist es natürlich auch so, dass viele Eltern nach einem vollen Arbeitstag eigentlich keine Kraft mehr haben, sich ihren Kindern noch wirklich zuzuwenden.
Meyer: Und Sie selbst haben vier Kinder. Haben Sie das für sich selbst eigentlich hinbekommen, nach dem Nacheinander-Prinzip zu leben?
Corino: Also vielleicht noch mal kurz: Das Nacheinander-Prinzip bedeutet für mich, also nach einer guten Ausbildung im Beruf durchstarten und dann, nach einer gelasseneren Familienphase, die kraftvolle Rückkehr in die Arbeitswelt, und die Protagonisten und Protagonistinnen in meinem Buch haben das auch geschafft. Die leben nach diesem Prinzip und sind alle für ein paar Jahre aus dem Beruf ausgestiegen, um sich in Ruhe der Familienarbeit zu widmen, und danach eben haben sie einen interessanten Aufbruch gewagt.
Bei mir war es so, dass ich nach dem Studium eigentlich einen guten Start hatte im Journalismus, und das hat mir vielleicht auch die nötige Gelassenheit gegeben, mich etliche Jahre vor allem um unsere vier Kinder zu kümmern. In den letzten drei Jahren habe ich in konzentrierter Teilzeit an meinem Buch gearbeitet. Jetzt hat es Resonanz, und insofern hoffe ich, dass ich vielleicht irgendwann auch mal ein gutes Beispiel für das Nacheinander-Prinzip sein werde. Das weiß ich aber noch nicht.
Meyer: Sie sind noch dabei, aber Sie haben es ja schon beschrieben gerade. Im Prinzip heißt das Nacheinander-Prinzip, so wie Sie das entwickeln, selbst auch leben, die Frau bleibt zu Hause, kümmert sich um die kleinen Kinder, während der Mann das Geld ranschafft, das ist ja das klassische Modell, das ist das Feindbild für den Feminismus lange Zeit. Verstehen Sie jetzt ihr Nacheinander-Prinzip, auch Ihr Buch als antifeministischen Entwurf?

Schutz gegen die Zwänge der totalen Ökonomisierung

Corino: Nein. Also zunächst mal gibt es auch Männer, die nach dem Nacheinander-Prinzip leben, einen davon porträtiere ich auch in meinem Buch, und das ist mir auch wichtig, und ich sehe das Nacheinander-Prinzip nicht als antifeministisch.
Ich glaube, lange Zeit musste sich der Feminismus vor allem darum kümmern, dass die Vollzeitberufstätigkeit von Frauen und Müttern gegen die gesellschaftlichen Erwartungen verteidigt wird, aber ich glaube, nun muss es ihm auch darum gehen, die befristete Vollzeitelternschaft gegen die Zwänge der totalen Ökonomisierung in Schutz zu nehmen.
Ein Vater bei der Arbeit: Immer mehr Männer gehen in Elternzeit, allerdings steigen die meisten nur für zwei Monate aus dem Job aus.
Ein Vater bei der Arbeit: Immer mehr Männer gehen in Elternzeit, allerdings steigen die meisten nur für zwei Monate aus dem Job aus.© picture alliance / dpa
Meyer: Aber haben Sie sich nicht selbst abhängig gefühlt von Ihrem Mann und reduziert auf die Mutterrolle jetzt in dieser Zeit des Zuhauseseins, des ausschließlichen Zuhauseseins?
Corino: Eigentlich nicht, und ich glaube, das hängt auch natürlich davon ab, ob man in der Partnerschaft auf Augenhöhe sich bewegt und wie viel Selbstbewusstsein man hat, sich gegen die reduktionistische Sprache zur Wehr zu setzen, die seit der 68er-Bewegung für Familienarbeit existiert. Also man hockt zu Hause, man wechselt angeblich nichts als Windeln und so weiter.
Man muss dann schon eine gewisse innere Stärke haben zu sagen, nur weil andere diese Arbeit reduziert beschreiben, ist sie nicht reduziert, sondern eigentlich anspruchsvoll und interessant. Aber natürlich hatte auch ich gute und schlechte Tage und habe auch immer wieder nebenbei journalistisch und schriftstellerisch gearbeitet, aber nicht auf großer Flamme.
Meyer: Jetzt sagen Sie selbst an einer Stelle in Ihrem Buch, das Modell funktioniert natürlich nur, auch rein finanziell, nur für die Familien, wenn einer von beiden genug Geld verdient, sodass der andere zu Hause bleiben kann, sei es jetzt die Frau oder der Mann. Und die Beispiele, von denen Sie in Ihrem Buch erzählen, Sie vollziehen einzelne Lebensgeschichten nach, die spielen auch in der Regel in der Oberschicht, unter Managern, Wissenschaftlern, eine Theaterintendantin ist dabei, es gibt eine Ausnahme, eine Polizistin. Heißt das jetzt, dass dieses Nacheinander-Prinzip erst einmal etwas für die richtig Besserverdienenden ist?
Corino: Nein, aber vielleicht kann man schon sagen, dass bei den gut ausgebildeten Eltern es leichter ist, mit diesen neuen Formen, die ich das Nacheinander-Prinzip nenne, zu experimentieren und dort auch ins Risiko zu gehen. Aber es ist doch für mich eine wichtige Frage gewesen, die mich im Buch umtreibt, wie können wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verbessern, dass das Nacheinander-Prinzip ein gangbares Modell wird für Frauen aus allen Schichten?
Und bei meinen Recherchen habe ich durchaus auch mit alleinerziehenden Krankenschwestern und MTAs gesprochen, die eben so leben und eben wirklich auch materiell verzichten, weil sie sagen, mir ist es wichtig, mehr Zeit für mein Kind zu haben in den wichtigen Jahren, in den prägenden Jahren.
Meyer: Weil Sie gerade die Rahmenbedingungen ansprechen: Ihr Buch ist auch wirklich eine Tiefenrecherche in ganz verschiedene Bereiche dieses Themas. Was müsste sich denn bei diesen Rahmenbedingungen zu allererst verändern, damit dieses Nacheinander-Prinzip auch wirklich lebbar ist, eben auch für Leute, die nicht ein großes Einkommen haben, von dem sie leben können in der Zeit?

Längere Lebenserwartung ändert vieles

Corino: Also zunächst mal, glaube ich, wäre es sinnvoll, ein zweites Jahr Elterngeld zu finanzieren, jedenfalls für Paare mit geringem Einkommen, denn im Moment ist es ja so, dass vom Elterngeld überproportional die Besserverdienenden profitieren.
Und dann ist es sehr wichtig, dass sich diese unsichtbaren Altersnormen in unserer Gesellschaft auflösen. Wir haben ja alle ein viel längeres Leben inzwischen. Seit den 50er-Jahren haben wir 15 Jahre Lebenserwartung hinzugewonnen, und das verändert vieles, und ich glaube, dass es eben angesichts dieser längeren Lebenserwartung keinen Sinn mehr macht zu sagen: bis 35 müssen alle entscheidenden Karriereschritte gelaufen sein. Wir können genauso gut Karrieren zwischen 40 und 50 anfangen und beschleunigen.
Außerdem ist es, glaube ich, auch wichtig, ein neues Schönheitsideal auszubilden, weg von der Lebenszeitstellung hin zur lebenslangen Weiterentwicklung. Dazu werden wir durch die Digitalisierung ohnehin gezwungen. Da wird es sowieso normal, dass Frauen und Männer mehr Brüche in den Biografien haben und sich mehrfach im Leben neu orientieren und auch weiterbilden müssen, und das ist vielleicht noch der letzte wichtige Punkt: Wir brauchen mehr Geld, mehr Zeit und mehr Angebote für Weiterbildung.
Meyer: Das fand ich eben tatsächlich beeindruckend an Ihrem Buch, oder einen Schritt zurück: Als ich so anfing zu lesen, dachte ich, warum braucht es für diese ja eigentlich sehr plausible Grundidee ein ganzes Buch, das kann man doch prima in einem längeren Zeitungsessay entwickeln, aber je weiter ich gelesen habe, habe ich das schon verstanden, weil Sie sich eben so tief eingearbeitet haben, zum Beispiel Arbeitgeber vorstellen, die dieses Modell eigentlich schon möglich machen, sei es im Unternehmen, seien es öffentliche Einrichtungen.
Sie dokumentieren auch lange Gespräche, die Sie geführt haben mit Fachleuten auf diesem Gebiet, zum Beispiel mit dem Soziologen Hartmut Rosa oder dem Familienforscher Hans Bertram. Vielleicht schauen wir mal auf den, was hat der denn, was hat so ein Familienforscher gesagt zu Ihrem Nacheinander-Modell?

Qualifizierte Wiedereinstiege müssen selbstverständlich werden

Corino: Also Hans Bertram ist ja bekannt geworden sogar durch dieses Schlagwort von der Rushhour of Life, und er sagt, in einer Gesellschaft, in der es zur neuen Norm wird, dass beide Eltern berufstätig sind, müssen wir uns eben dringend überlegen, wie wir die Familien stärken, und da schlägt er Ähnliches vor wie das, was ich eben genannt habe.
Also es muss selbstverständlich sein, dass Familienphasen plus neues Lernen in der Lebensmitte zu neuen Karrieren führt. Die Wiedereinstiege auf Qualifikationsniveau, die Quereinstiege, die müssen einfach selbstverständlicher werden, und das ist auch angemessen in der digitalisierten Arbeitswelt.
Meyer: Und darum geht es in dem Buch "Das Nacheinander-Prinzip: Vom gelassenen Umgang mit Familie und Beruf" von Eva Corino, im Suhrkamp Verlag ist dieses Buch erschienen, mit 288 Seiten, 17 Euro ist der Preis. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Corino: Danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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