Schönheitsideale

Es gibt keine hässlichen Entlein mehr

Illustration: Ein Massband drückt auf die Taille einer schlanken jungen Frau.
Body Positivity hin oder her: Die Models in Paris und Mailand sind auch in diesem Frühjahr so dünn wie immer, beobachtet Eva Sichelschmidt. © imago / Ikon Images / Patric Sandri
Gedanken von Eva Sichelschmidt · 15.03.2022
Mehr Diversität, weniger Perfektion: Die Bandbreite dessen, was als schön gelten kann, ist größer geworden. Bestimmte Gruppen stehen aber weiter unter dem Druck, sich für ihr Äußeres zu rechtfertigen, meint die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt.
“Bin ich schön?” Diese Frage ist noch viel älter als das Märchen von Schneewittchen. Und deren Stiefmutter war auch nicht die erste, die an ihr verrückt wurde.
Die Sehnsucht, attraktiv zu wirken, ist alt, doch die Erfüllung des perfekten Scheins ist heute so einfach wie nie. Den Medienversierten gelingt in den Sozialen Netzwerken eine Darstellung ihrer selbst, die ein breites Spektrum an Schönheitsvorstellungen abbildet.
Konnte man in den Achtzigerjahren die sogenannten Supermodels noch an zwei Händen abzählen und ihre Namen auswendig, so sehen jetzt die meisten Menschen, die sich auf Instagram, Tiktok und Co. präsentieren, mindestens genauso toll aus. Und dazu noch um einiges diverser, mithin viel interessanter als die Damen von damals, die von sich behaupteten, unter einer Gage von 10.000 Dollar gar nicht erst aufzustehen.

Geschlechteridentitäten vermischen sich

Kann es sein, dass die Menschen immer schöner werden? Es könnte einem so vorkommen. Die Altersgenossen meiner Töchter zum Beispiel sind ausnahmslos gutaussehend, hübsch, viele von ihnen hochgradig originell und nicht wenige sogar echte Schönheiten.
Kein häßliches Entlein nirgends. Es gibt keine Schielbrillen mehr und keine von Muttern schiefgeschnittenen, praktischen Kurzhaarfrisuren.
Und die verschossenen Klamotten gehörten früher nicht etwa den großen Geschwistern, sondern sie werden secondhand erstanden und instagramwirksam kombiniert. Die Jungs sind so duftig gepflegt wie die Mädchen, und nicht nur auf den Laufstegen vermischen sich  die Geschlechteridentitäten.

Außenwirkung ist wichtig wie nie

Das Geschlecht mag egal geworden sein, die größtmögliche Außenwirkung ist jedoch so wichtig wie nie. Dabei ist angeblich erlaubt, was die Vielfalt der Menschheit so ausmacht.
Es heißt, man darf auch wieder fülliger sein. Plus-Size-Models sollen für Gleichheit in der Mode- und in der Werbebranche sorgen.
Nur sahen die Models in Paris und Mailand auch im Frühjahr 2022 immer noch so dürr, ja beinahe rachitisch aus wie eh und je.
Auch die wenigsten Schauspieler sind mollig, kaum ein Influencer so etwas wie kurvig. Sogar stressgeplagte Politikerinnen werden immer schlanker. Sollte aber doch einmal jemand ein paar Pfunde mehr mit sich herumschleppen, als der ideale Body-Mass-Index vorgibt, ist das angeblich auch kein Problem und wird unter Body-Positivity verbucht. „Ich sehe so aus, wie ich aussehe“, heißt es dann.

Der Schlanke genießt sich und schweigt

Doch was nach neuem Selbstbewusstsein zum Thema Nonkonformität klingen könnte, bekommt einen merkwürdig hohlen Nachhall. Es tönt irgendwie unglücklicher als Wowereits inzwischen 20 Jahre altes “Und das ist auch gut so”.
Warte mal kurz, denkt man unwillkürlich. Warum muss der beleibte Mensch darüber reden, dass er aussieht, wie er aussieht, vornehmlich der weibliche, während der Schlanke sich selbst genießt und schweigt. Guten Tag, ich bin Germany’s Next Topmodel, und ich sehe so aus, wie ich aussehe, hat man zumindest noch nie gehört.  
Am besten sollte gar nicht mehr über Körper geredet werden. Was nicht so einfach ist. Denn selbst wenn alle Splitter aus der Sprache gehobelt wurden und alle Geschlechterrollen zertrümmert sind, wird es immer noch ungeheure Ungerechtigkeiten wie zum Beispiel das Altern geben. Die unumgängliche Ablösung des Alten durch das Neue.

Heutzutage darf man alles sein, nur nicht alt

Noch einmal zurück zu Schneewittchens böser Stiefmutter. Warum ist die denn nicht mehr die Schönste im ganzen Land? Genau, weil es eine jüngere hinter den sieben Bergen gibt: Schneewittchen.
Der Großmeister der Selbstdarstellung, der Maler Markus Lüpertz, inzwischen achtzig Jahre alt, sagte in einem jüngsten Interview: “Heutzutage darf man alles sein, nur nicht alt.”
Wo sind eigentlich die Grauen Panther geblieben? Für die Jüngeren: Das war die Partei, die den älteren Semestern eine Stimme verlieh.
Diskriminierung nimmt anscheinend immer der zuerst wahr, den sie betrifft.

Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft "Whisky & Cigars" eröffnete. 2017 erschien der Roman "Die Ruhe weg" (Knaus), 2019 "Bis wieder einer weint" (Rowohlt). Sie lebt in Rom und Berlin.

Die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt sitzt an ihrem alten hölzernen Schreibtisch und blickt Richtung Fenster.
© privat
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