Eva Sichelschmidt über "Bis wieder einer weint"

"Jede Gründerzeit hat auch ein Ende"

12:42 Minuten
Die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt sitzt an ihrem alten hölzernen Schreibtisch und blickt Richtung Fenster.
Nur was zur Sprache kommt, ist in der Welt: die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt. © Privat
Eva Sichelschmidt im Gespräch mit Andrea Gerk |
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Vor dem Haus das neue Auto, hinter dem Schweigen der Eltern die Erinnerungen an den Krieg. Eva Sichelschmidts neuer Roman erzählt vom Wirtschaftswunder im Ruhrgebiet - und von Aufstieg und Fall eines Familienunternehmens.
Eva Sichelschmidt betreibt seit zwanzig Jahren einen Laden für Whisky und Zigarren in Berlin, und sie schreibt Bücher. Soeben hat sie ihren zweiten Roman veröffentlicht. Es ist ein Buch über Aufstieg und Niedergang eines Unternehmens im Ruhrgebiet - und eine Geschichte über die Familie des Mannes, der dieses Unternehmen führt.

Eine Zeit, in der alles passieren konnte

Die Handlung des Romans reicht von Anfang der 1960er- bis gegen Ende der 1980er-Jahre. "Ich glaube, das ist eine sehr interessante Zeit, aus der man eine Menge lernen kann", sagt Sichelschmidt. Sie habe sich mit dieser Phase der jüngeren Geschichte zum ersten Mal intensiv befasst, als die erste Wirtschaftskrise tobte, die sie selbst erlebt hat - im Jahr 2008 also, "wo man merkte: Ah, jede Gründerzeit hat auch ein Ende, alles hat seinen Bogen, es gibt bestimmte Gründe, warum die Dinge erst hochfliegen und dann hart landen. Das hat mich auch wirtschaftlich interessiert."
Die Wirtschaftswunderjahre im Ruhrgebiet, das sei eine Zeit gewesen, wo alles passieren konnte: "Alles begann zu blühen und ging dann doch in einer relativ überschaubauen Zeit auch wieder ein." Sichelschmidt ist selbst in der Gegend aufgewachsen. Glück sei damals sehr mit Wohlstand und Konsum gleichgesetzt worden, sagt sie.

Kinder in feinem Zwirn vor dem neuen Auto

"Noch ein Auto, und noch ein Haus, und das Zeigen, und dann sind wir glücklich." Und wenn auf Sonntagsfotos die Kinder im feinen Zwirn und der Vater mit Krawatte ausgehen, stehe das eben auch für den Geist der Wirtschaftswunderjahre, meint Sichelschmidt, Motto: "'Seht her, es geht uns gut!' - das sollte eben auch gezeigt werden, und wenn die anderen das gesehen haben, war das wieder ein Glücksmoment."
Dass Unternehmerglück immer auch eine sehr private und familiäre Angelegenheit sei, habe sie besonders interessiert, sagt Eva Sichelschmidt: "Es hängt eben auch sehr damit zusammen, wie ein Familiengefüge funktioniert." Ein Schlüsselereignis des Romans: Die Mutter der jungen Familie mit zwei Töchtern stirbt an Leukämie. Wie es in der medizinischen Praxis damals üblich gewesen sei, habe der Erkrankten zuvor aber überhaupt niemand gesagt, dass sie an Leukämie litt. Der Ehemann verschwieg es auch gegenüber der Großeltern-Generation.

Zuviel erlebt, um viel zu sagen

Die damalige Zeit sei eben generell sehr stark von Sprachlosigkeit geprägt gewesen, sagt Sichelschmidt, jeder habe viel erlebt: "Die Menschen sind ja unter anderem deswegen sprachlos, weil sie sehr viel erlebt haben, was für sie schwierig in Sprache zu fassen war."
Der Protagonist des Romans Wilhelm Rautenberg etwa sei in Kriegsgefangenschaft geraten und als junger Mann Flakhelfer gewesen. Und dann habe dieser Wilhelm Rautenberg große Verantwortung getragen und wohl auch einen großen Druck verspürt. "Um den Druck auszuhalten, hat man einfach über manches nicht geredet, weil es nur dann in der Welt ist, wenn es eine Sprache gefunden hat."
Acht Jahre lang hat Eva Sichelschmidt an ihrem Roman gearbeitet. Beim Recherchieren und Einfühlen in die Zeit der Handlung haben ihr Gespräche mit ihrer 102-jährigen Großmutter sehr geholfen, berichtet sie. "Die kann ganz tolle Geschichten erzählen, über die Zeit des Krieges und danach." Inzwischen erzähle die Großmutter auch viel und gerne. Aber auch bei ihr, sagt Sichelschmidt, "war das nicht immer so".
(mfu)

Eva Sichelschmidt: "Bis wieder einer weint"
Rowohlt, Hamburg 2020
480 Seiten, 22 Euro

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