Evangelikaler Wunderglaube

Gottes Eingreifen persönlich erfahren

09:40 Minuten
Vor schwarzem Hintergrund fällt Licht auf Hände.
Himmlische Gabe: Viele Menschen glauben auch heute noch an Wunder. © Getty Images / iStockphoto / Laikwunfai
Von Kirsten Dietrich |
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Nicht nur die Bibel erzählt von Wundern – auch heute führen besonders evangelikal geprägte Christinnen und Christen Unerklärliches in ihrem Alltag auf Gottes Wirken zurück. Manche haben gar den Eindruck, selbst zum Werkzeug Gottes zu werden.
"Ich habe schon auch Wunder erlebt mit Jesus", bekennt Benjamin Zwick. "Eines Tages wurden wir angequatscht auf der Straße, von Jugendlichen, die waren so in unserem Alter, warum wir denn an Jesus glauben würden."
Seit der Glaube an Gott und Jesus Christus die entscheidende Rolle in seinem Leben spielt, hat Benjamin Zwick das Bedürfnis, auch anderen davon zu erzählen:
"Das war 2006, ist schon ein paar Tage her, aber das war ein entscheidender Moment in meinem Leben – ich habe gesagt, dass ich an Jesus glaube, ich glaube auch an Heilung, ich glaube, dass Jesus am Kreuz für uns gestorben ist, und ich würde gern für jemanden beten, der Schmerzen hat, dass Gott einfach ein Wunder tut."

Die Schmerzen waren verschwunden

Die Jugendlichen gaben Zwick Gelegenheit dazu: "Und dann haben die so einen 14-jährigen Paul nach vorne geschubst, und dieser Paul hatte Kopfschmerzen, weil er noch eine Narbe am Kopf hatte wegen einer OP, er hat's mir nicht genau gesagt. Ich habe dann für ihn gebetet, und ich bin nicht bis zu meinem Amen gekommen – der ist reingelaufen in den Club, kam fünf Minuten später raus und meinte: Drin ist noch einer, der hat Rückenschmerzen, kannst du auch für den beten?"
Was war da geschehen? Ein Wunder, davon ist Zwick auch mit Mitte 30 fest überzeugt. In seinem Leben, sagt er, gab es immer wieder Momente, in denen er direkter Zeuge von Gottes Handeln war, sogar daran mitgewirkt hat. Bei Gebetstreffen mit Jugendlichen zum Beispiel:
"Das Thema war 'Zeichen und Wunder', und dann habe ich am Ende gebetet, dass Gott die Menschen heilt, die da Schmerzen haben, und einer hatte einen verstauchten Finger. Also, ich habe dann gebetet – und: Wie sieht es bei dir aus? Dann machte er seine Hand auf und zu und guckte mich an und sagt: Die Schmerzen sind weg!"

Mit der Faust gegen die Scheibe

Dann habe der Junge die Hand zur Faust geballt und mit voller Wucht gegen eine Fensterscheibe geschlagen, erzählt Zwick. "Und dann hab ich so scherzhaft gesagt: 'Und jetzt sind die Schmerzen wieder da.' – Und er sagte: 'Nein, die Schmerzen sind weg, Benny, was hast du gemacht?' Das war ein cooler Moment, wo ich sehen durfte, dass Gott eingegriffen hat."
Die Religionssoziologin Maren Freudenberg trägt eine grüne Bluse und sitzt in einem gelben Lehnstuhl.
Wunder als Antwort auf Gebete: Viele Evangelikale glauben, dass Gottes Güte sich konkret im Alltag zeigt, erklärt die Religionssoziologin Maren Freudenberg.© Sabrina Finke
"Im Evangelikalismus ist es ja so, dass Gott als lebendige Kraft wahrgenommen wird", sagt die Religionssoziologin Maren Freudenberg von der Universität Bochum:
"Keine historische Figur in der Bibel, sondern quasi eine Kraft, die Veränderung im Hier und Jetzt bewirken kann, das Leben der Menschen grundsätzlich in eine andere Bahn lenkt. Das heißt, Wunder spielen im Alltag tiefgläubiger Evangelikaler überall eine Rolle, weil Gott überall eingreifen kann."

Durch Wunder lässt sich Gott erfahren

Evangelikal – unter diesen Oberbegriff kann man auch den Glauben fassen, der Benjamin Zwick dazu ermutigt, sich predigend auf den Berliner Alexanderplatz zu stellen und als Sozialarbeiter Jugendliche am Rande der Obdachlosigkeit zu betreuen.
Vier Kennzeichen machen evangelikales Christentum aus: eine Bekehrung als klare Entscheidung für den Glauben, ein starker missionarischer Impuls, die wörtlich verstandene Bibel als Fundament und der Kreuzestod Jesu Christi für die Sünden der Menschen als zentraler Glaubensinhalt.
Evangelikales Christentum wird in vielen Formen gelebt, die meisten bibelfromm und sozial eher konservativ. Die persönliche Erfahrung mit Gott steht im Mittelpunkt – und Wunder sind ein Weg, diese zu erleben. So berichtet Benjamin Zwick:
"Dann habe ich einfach über Gott nachgedacht und habe auch gebetet und gesagt, Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann sag mir, wer du bist, zeig mir, wer du bist – und das ist jetzt wirklich schwierig zu erklären, aber das war ein Moment, wo ich auf einmal gespürt habe, wie Gott zu mir spricht und mir sagt: Benny, ich hab dich gerne und ich hab dich lieb."

Die passende Parklücke: mit Gottes Hilfe

Religionssoziologin Maren Freudenberg ordnet das ein:
"Im Evangelikalen werden Wunder oft als Antworten auf Gebete gefasst. Das ist so ein paradigmatisches Beispiel: Ich bete zu Gott in den kleinsten Momenten des Lebens, zum Beispiel hinter dem Steuer, wenn ich eine Parklücke brauche. Ich muss irgenwie schwer einkaufen und hätte gern direkt vor dem Laden eine Parklücke, Gott hat mein Gebet erhört, ich kann mit meinem Auto direkt da reinziehen – ein Wunder ist geschehen."
Ob ein Wunder echt ist oder nicht oder ab welcher Größe es überhaupt erst als Wunder gilt – das zu beurteilen, ist nicht ihre Aufgabe als Religionssoziologin, sagt Freudenberg. Aber auch wenn viele Kirchenmitglieder Wunder höchstens als Geschichten aus ferner Zeit sehen: Wunder gehörten von Anfang an zum kirchlichen Leben. In einem der ältesten Texte der Christenheit aus dem Neuen Testament beschreibt der Kirchenlehrer Paulus seiner Gemeinde in Korinth die Fähigkeiten, die der heilige Geist vermitteln kann:

Der eine ist durch den Geist in der Lage, mit Weisheit zu reden. Wieder ein anderer hat durch den einen Geist die Gabe zu heilen. Ein anderer hat die Fähigkeit, Wunder zu tun.

1. Korintherbrief 12, 8-10

In evangelischen Glaubensgemeinschaften wurde das über die Jahrhunderte immer mehr metaphorisch verstanden. In vielen katholischen Kirchen vor allem an Wallfahrtsorten hängen noch die Tafeln, auf denen Menschen vor Gott und der Gemeinde ihren Dank über ihre Heilung ausdrücken – oft besonders adressiert an die fürsprechende Maria oder eine andere Heilige. Die Gemeinschaft steht dort im Vordergrund, sagt Maren Freudenberg:
"Ich glaube, ein großer Unterschied ist, dass Wunderglauben im Evangelikalismus immer auch sehr individuell kodiert sind: Ein Wunder wird für mich als gläubige Person gewirkt, um meinen Alltag besser zu machen, um mein Leben zu verbessern, Gott greift für mich ein im evangelikalen Glauben."

In Todesangst an Gott gewandt

Von einer Zäsur in seinem Leben erzählt Ingmar Niederkleine: "Ist jetzt schon eine Weile her, April 1994, damals war ich 22 Jahre alt, habe in Göttingen Jura studiert, und dann bin ich krank geworden."
Niederkleine lebt und arbeitet inzwischen als Rechtsanwalt in Nürnberg. Damals kam er mit unklaren Schmerzen ins Krankenhaus und nach einer Magenspiegelung von der Notaufnahme direkt auf die Krebsstation. Diagnose: ein raumfordernder Prozess im Oberbauch.
"Jedenfalls haben die dann auch eine Computertomographie gemacht und haben dann gesehen, dass dort neben meinem Magen so eine fasrige Masse zu sehen war, genau an der Stelle, wo der Magen eingedrückt wurde."
Auf das Ergebnis einer Gewebeprobe und damit eine genaue Diagnose musste Niederkleine mehrere Tage warten. Tage, die er in Todesangst verbrachte und in denen er sich irgendwann auch an Gott wandte:
"Ich hatte bis dahin mit christlichen Glauben oder überhaupt Religion nicht so furchtbar viel zu tun, ich komme aus einem traditionell evangelischen Elternhaus, aber das war im Grunde nur so kulturell und konservativ, aber nicht lebendig für mich. Wenn man plötzlich mit so einer Diagnose konfrontiert ist, ist das natürlich eine ganz andere Sache, wo man sich plötzlich ernsthafte Fragen stellt: Wieso passiert mir das? Warum ich, warum jetzt?"

Die Krankheit angenommen

In seinem Ringen mit Gott sei ihm dann plötzlich etwas Entscheidendes klargeworden, erinnert sich der Rechtsanwalt: Wenn Gott allmächtig ist, dann ist auch diese Krankheit sein Wille. Und er, Ingmar Niederkleine, kann als Mensch Gottes Willen weder verstehen noch überhaupt verlangen, dass der seinen eigenen Wünschen entspricht:  
"Ich habe dann mich damals entschieden, das war einfach eine Entscheidung, das zu sagen: Dein Wille geschehe. Dann sterb ich halt."
"Dein Wille geschehe" beten Christen weltweit im Vaterunser. Als er das aus vollem Herzen mitbeten konnte, sei er ruhig und demütig geworden, sagt Niederkleine:
"Dann kam irgendwann das Ergebnis der Gewebeprobe, und es stellte sich raus: Das ist normales Bindegewebe, weder gutartig noch bösartig, sondern einfach nur Bindegewebe. Die haben den Tumor nicht mehr wiedergefunden."
Ein Wunder? Auf jeden Fall, sagt Ingmar Niederkleine. Auch wenn die Ärzte in ihrer Erklärung von einer Fehldiagnose sprachen – dafür hätten viel zu viele Zufälle zusammenspielen müssen.

Vertrauen als Schlüssel zum Wunder

Aber das eigentliche Wunder liege für ihn nicht im Medizinischen, sagt Niederkleine:
Ich glaube, dass ich nicht geheilt worden wäre, wenn ich nicht vertraut hätte. Dass Gott das so gemacht hat, und ich seh das auch heute noch so, weil ich Gott vertraut habe. Ich glaube nicht, dass das geschehen wäre, wenn ich in dieser Todesangst und diesem Weinen und diesen Vorwürfen verharrt wäre. Ich glaube, dass der Schlüssel zu diesem Wunder, dass der Tumor dann verschwunden ist, schon auch das Vertrauen zu Gott war.
Die Religionssoziologin Maren Freudenberg erklärt:
"Das geht in beide Richtungen. Der Glaube erzeugt Wunder, auf jeden Fall: Wenn ich von Gott überzeugt bin, von Gottes Gegenwart überzeugt bin, von seiner Wirkmächtigkeit überzeugt bin, dann sehe ich überall Wunder. Wenn ich aber noch nie etwas mit Gott oder mit Religion zu tun hatte und für mich ein Ereignis als wunderhaft definiere, dann aber auf der Suche bin nach Erklärungen für das Ereignis, und dann auf religiöse Antworten treffe, kann das umgekehrt genauso funktionieren."
"Gottes Wille geschieht, und wir verstehen das bestenfalls nur eingeschränkt, was da passiert", sagt Ingmar Niederkleine, "aber ich glaube, dass manches Leid und Elend auf der Welt auch dazu dient, Menschen zur Besinnung zu bringen. Nicht immer gelingt es, dann tut Gott auch keine Wunder."
Ingmar Niederkleine hat sich nach der Erfahrung, die er als Wunder erlebte, dem Glauben sehr entschieden zugewandt. In einer pfingstlich-evangelikalen Gemeinde – aus der evangelischen Landeskirche ist er ausgetreten.
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