"Inspiration für 2017"
Mit einem theologischen Grundlagentext will Nikolaus Schneider die evangelischen Christen auf das Reformationsjubiläum 2017 einstimmen. Es sei an der Zeit, den "Grundwasserspiegel über reformatorisches Wissen anzuheben", sagt der EKD-Vorsitzende.
Philipp Gessler: Am Mittwoch hat der so kluge wie witzige evangelische Kirchenhistoriker Christoph Markschies von der Humboldt-Universität in Berlin zusammen mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider ein theologisches Papier der Evangelischen Kirche in Deutschland vorgestellt. Und ob Sie es glauben oder nicht: Das Papier lohnt auch für Nicht-Theologen die Lektüre. Denn es versucht, gerade für die evangelischen Christen im Lande, in einfachen, aber nicht unterkomplexen Sätzen die doch recht sperrige, aber so zentrale Rechtfertigungslehre Martin Luthers ins Heute zu übersetzen. Das Ganze ist gedacht als theologischer Grundlagentext für die großen Reformationsfeiern, die 2017 weltweit, vor allem aber in Luthers Heimatland Deutschland stattfinden sollen.
Nun leiden in diesen Tagen und bestimmt in Berlin wahrscheinlich nicht mehr so viele Christen wie Anfang des 16. Jahrhunderts an der Frage, wie sie bei einem gerechten und strafenden Gott dereinst Gnade finden können – trotz aller Sünden. Aber Luthers Rechtfertigungslehre kann uns sicherlich noch heute etwas sagen. Nur was genau? Darum ging es in dem Interview mit Nikolaus Schneider. Meine erste Frage an den obersten Repräsentanten der EKD aber war, warum so ein Papier überhaupt nötig ist: Fehle es an der protestantischen Basis etwa an Wissen über die Rechtfertigungslehre Luthers, diesem Fels des Protestantismus?
Nikolaus Schneider: Dieses Grundlagenpapier hat die Aufgabe, einen Rahmen zu setzen, Inspiration zu geben dafür, wie wir nun auf 2017 zugehen können, und darin drückt sich was aus. Es drückt sich aus: Erstens, die Reformation war ein theologisches Ereignis im Kern, und sie hat dann viel ausgelöst. Und genau um diesen Kern müssen wir uns auch heute wieder bemühen, wenn wir in diesen Lernprozess von Reformation eintreten wollen, denn – davon sind wir überzeugt – das ist keine abgeschlossene Geschichte, sondern es bleibt eine offene Lerngeschichte, und wir wollen für heute wiederholen, was damals an Kernerkenntnis dann für Konsequenzen gesorgt hat.
Das wollen wir für heute fruchtbar machen. Dem dient dieser Text. Er soll Basis sein, er soll Inspiration geben, aber er ist jetzt nicht ein approbierter Text, der das Maß der Wahrheit für alle festlegen würde, sondern er soll wirklich einladen zum Mitdenken. Im Übrigen gibt es in unseren Gemeinden sicher eine gute Grundlagenkenntnis über die Reformation, aber wie das so ist mit Kenntnissen: Man kann sie immer noch verbessern und heben. Und insofern ist das Reformationsjubiläum ein guter Anlass, den Grundwasserspiegel über reformatorisches Wissen anzuheben.
Gessler: Eines der jüngsten EKD-Papiere zur Familie war ja sehr umstritten, auch innerhalb der Kirche wurde es sehr kontrovers aufgenommen. Es hat allerdings auch eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst. Wie provokativ müssen solche Papiere sein?
"Steile Thesen, die auch Widerspruch provozieren"
Schneider: Ich glaube, Papiere sollen zum Denken Anlass geben, deshalb sollen sie auch durchaus provozieren. Es sollen steile Thesen darin sein, die auch Widerspruch herausfordern. Sie sollen allerdings so eingebettet sein, dass man nicht nur beim Widerspruch stecken bleibt, sondern dass sie Anlass sind zu sagen, ich lese in der Schrift noch mal genauer nach, was könnte denn gemeint sein. Ich schau nach links und nach rechts, sodass sie dann in dem Anstößigen auch doch ein Angebot machen der weitergehenden Verständigung. Also erläutern und anstoßen, beides ist wichtig.
Gessler: Dieser Text wurde ja wahrscheinlich, nachdem das EKD-Papier zur Familie doch wie gesagt kontrovers aufgenommen wurde, sehr gründlich gelesen im Rat, oder?
Schneider: Es wurde in der Tat im Rat sehr gründlich gelesen. Die Schrift zur Orientierungshilfe wurde durchaus auch intensiv gelesen. Aber das kann man schon sagen: Nach der öffentlichen Debatte liest der Rat noch sehr viel genauer und geradezu penibel.
Gessler: Nun stellt ja diese Schrift über die Rechtfertigungslehre zweimal die Frage sich selbst: Erreicht denn die Rechtfertigungslehre überhaupt noch, sagen wir mal, die heutige Generation, auch die jüngere, oder vielleicht kirchenferne Leute? Das heißt, ist diese Frage, wie werde ich gerecht vor Gott, wirklich noch etwas, was die Menschen bewegt? Dieses Papier sagt ja, man muss es nur richtig übersetzen.
Schneider: Ja, wir müssen diese Frage nach der Rechtfertigung heute stellen, und in einer Gesellschaft etwa, die auf Leistung und Konkurrenz ausgerichtet ist, ist diese Frage sehr leicht sehr nachdrücklich zu stellen, auch sehr einleuchtend zu stellen. Zum Beispiel heißt dann die Frage: Bist du das wert, was du leisten kannst? Bist du das wert, was an Werten auf deinen Konten sich anhäuft? Bist du das wert, was du an Vermögen aufgebaut hast? Ist das wirklich dein Wert? Und dann erkennt man auch die Gnadenlosigkeit einer Gesellschaft, die alleine Wert im Tauschverhältnis, im Wert einer Leistung definiert.
Und schon in der Reformation wurde mit der Rechtfertigungslehre dagegen protestiert. Menschen haben immer so in Tauschverhältnissen gedacht, das liegt einfach in unserer Natur, haben auch immer in Konkurrenz gedacht, haben immer in Leistung gedacht. Das ist der große Einspruch, den die Reformation neu stark gemacht hat, der schon in der Bibel da ist, auch der in der Tradition unserer Kirchen durchaus da ist, den hat die Reformation neu stark gemacht und neu zum Klingen gebracht. Und dieser Einspruch heißt: Dein Wert als Mensch liegt in deiner Würde, und deine Würde besteht darin, dass Gott dich liebt, dass er dich als sein Geschöpf liebt und dass er dich vor allen Rechtfertigungsversuchen gerecht gesprochen hat, das kannst du in Christus sehen.
"Wir sind absolut aktuell"
Und wenn du auf dieser Basis lebst, dann musst du nicht ständig in einen gnadenlosen Wettbewerb eintreten, um dich durchzusetzen und zu demonstrieren, wie wertvoll du bist, sondern dann kannst du dich einbringen in eine Gesellschaft und darauf achten, dass auch die anderen leben können, dass nicht die Konkurrenz eine Vernichtungskonkurrenz wird, sondern ein gemeinsames Bemühen zu einem besseren Leben aller und nicht nur einiger weniger zulasten anderer, und dass du dich selber auch in deinen Schwächen annehmen kannst. Diese Botschaft ist absolut aktuell. Schauen Sie sich den politischen Diskurs an – die Politiker reflektieren ja selber darüber, ob sie Fehler zugeben dürfen oder nicht, ob sie Schwächen eingestehen dürfen oder nicht. Und auch im gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs unserer Gesellschaft geht es ja genau um dieses Menschenbild. Und insofern sind wir absolut aktuell.
Gessler: Nun gab es ja auch ein Reformationsjubiläum in den Jahren 1817 und auch in dem Jahr 1917. Damals war Luther sozusagen der Nationalheilige, er wurde so stilisiert. Heute will man das Reformationsjubiläum ja so feiern, dass es eine europäische Dimension hat. Haben Sie den Eindruck, dass das schon funktioniert?
Schneider: Den Eindruck habe ich durchaus. Feiern und gedenken heißt ja immer, für die Gegenwart aktualisieren: In welchem Sinne aktualisieren wir Reformation? Und wir machen es in der Weise, dass wir schon den internationalen Charakter der Reformation im 16. Jahrhundert ernst nehmen. Auch in Zürich wurde reformatorisch gedacht, in Straßburg wurde reformatorisch gedacht, auch in Genf, an vielen anderen Orten auch. Und das wollen wir respektieren und zusammenführen. Es wurde auch in der römisch-katholischen Kirche reformatorisch gedacht, auch das wollen wir ernst nehmen und noch mal deutlich machen, dass die Reformation nicht vom Himmel gefallen ist, sondern aus einer bestimmten Bearbeitung dieser Tradition entstanden ist. Und dann kann man sagen, ja, das gehört auch in die gemeinsame 1500-jährige Tradition unserer Kirche hinein.
Also diese Dimensionen wollen wir deutlich machen und damit nicht Luther zum deutschen antikatholischen Helden stilisieren, sondern Luther einzeichnen in ein Bild reformatorischer Bewegungen, das schon damals international war und das wir heute etwa in der Feier des Zweiten Vatikanums ja auch in der römisch-katholischen Kirche wiederfinden. Und wir versuchen auch mit der Orthodoxie ins Gespräch zu kommen, damit die Ökumenizität, die ja nun auf Christus bezogen zu formulieren ist, damit diese Ökumenizität auch im Jubiläumsjahr erlebt werden kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.