"Zusammenhalten von Frömmigkeit und Weltverantwortung"
Am Mittwoch beginnt der 35. Deutsche Evangelische Kirchentag. In Stuttgart lautet die Losung "damit wir klug werden". Die Generalsekretärin des Kirchentags Ellen Ueberschär verspricht, dass auch die Tabuthemen der Gesellschaft angesprochen werden.
Kirsten Dietrich: Am Mittwoch geht es los: Mehr als 100.000 Menschen werden dann in Stuttgart beim 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag diskutieren, beten, staunen, Musik hören und was man sonst noch so macht, wenn man vier Tage mit viel Programm und vielen Gleichgesinnten verbringt. Was die Besucher in Stuttgart erwartet und warum das auch für die interessant ist, die nicht zum Kirchentag fahren, darüber habe ich mit Ellen Ueberschär gesprochen. Sie ist seit 2006 Generalsekretärin des Kirchentags, Stuttgart wird der fünfte Kirchentag, für den sie verantwortlich ist. Was ist in Stuttgart neu und anders, das wollte ich von ihr wissen.
Ellen Ueberschär: Also ob wir es noch nie gehabt haben, weiß ich nicht, aber wir machen eine Veranstaltung "Anthroposophie und Landwirtschaft", wo wir mal schauen, was gibt es eigentlich da für Gemeinsamkeiten, Wertvorstellungen. Zum Thema Anthroposophie könnte man ja unterschiedliche Themen nehmen, und wir haben uns jetzt fürs Landwirtschaftsthema entschieden, und das ist auch verbunden mit einem Kosten − weil sonst kann man auch schlecht prüfen, ob anthroposophisch angebotene Produkte anders schmecken als konventionell angebaute oder anders biologisch angebaute. Also das ist etwas, was wir noch nicht so häufig hatten. Und was ganz besonders ist in Stuttgart, glaube ich, ist die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit. Das liegt natürlich in der Losung "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." Also dieses "damit wir klug werden", und das hat zum Beispiel dazu geführt, dass wir auf einem öffentlichen Platz in Stuttgart die Frage stellen werden: Wie will ich eigentlich sterben? Und so ein Thema zu diskutieren mit einem Publikum, das einfach so da ist und mal hören will, das finde ich ein Wagnis, und ich finde es auch dem Kirchentag angemessen, die Tabuthemen der Gesellschaft anzusprechen.
Dietrich: Man könnte ein wenig despektierlich sagen, liegt vielleicht auch in der Luft, weil das Publikum des Kirchentages älter wird?
Ueberschär: Nein, das hat nichts mit dem Älterwerden des Publikums zu tun, das übrigens gar nicht älter wird, sondern das sich im demografischen Wandel sogar ein bisschen jünger verhält, als das im Bevölkerungsdurchschnitt ist. Insofern reden wir jetzt nicht im Zentrum "Älter werden" darüber, wie gestalte ich meinen Ruhestand mit Rollator und so weiter, sondern da geht es wirklich um die Verdrängung eines großen Themas, nämlich des Sterbensthemas aus dieser Gesellschaft, und das ist nicht nur ein Thema für ältere Menschen.
Ein friedenspolitisches Signal aus Stuttgart
Dietrich: Der Kirchentag steht natürlich für auch große politische Debattenthemen. In diesem Jahr drei Schwerpunkte: über Daten und Demokratie, Flüchtlinge und Wirtschaft und Werte. Wie haben Sie diese Themen gefunden?
Ueberschär: Ja, ich denke, dass wenn man sich die Entwicklung jetzt so anguckt, wir suchen die Themen ja anderthalb Jahre vorher, dann drängen sich ganz klar das Thema Frieden und Flüchtlinge in den Vordergrund. Das wird etwas sein, was nicht nur in den Podienreihen, sondern auch aus den Reihen der Teilnehmenden eine ganz starke Resonanz findet, und da wird es auch einige Aktionen noch dazu geben. Ich glaube, dass von diesem Kirchentag ein friedenspolitisches Signal ausgehen wird, weil das einfach jetzt etwas ist, was das Kirchentagspublikum und nicht nur das wirklich umtreibt. Wir finden die Themen, indem wir zusammentragen, was bleibt übrig von einem Kirchentag – was ist vom Hamburger Kirchentag übrig geblieben, unter diesen damaligen Losung "Soviel du brauchst", weitergedacht, ja, wie viel brauche ich denn und was ist nachhaltig. Ich brauche nur soviel, dass eben für andere auch noch was da ist. Und diese Nachhaltigkeitsfrage, die findet sich ja wieder in der Frage, was ist kluges Handeln im Angesicht von Endlichkeit, dass ich nicht alles aufbrauche und so lebe, als wären wir die letzte Generation, die es gibt, sondern in einer gewissen Überlegung, was hinterlassen wir auch den nachfolgenden Generationen, überlegen, was bedeutet das dann für Wirtschaft, was bedeutet das für das Klima und die Umwelt, was bedeutet es aber auch für die Religion, für unsere Religion, fürs Christentum, fürs interreligiöse Miteinander. Und so reichern sich die Themen an.
Dann wird geschaut, was ist in einer Region wichtig, was ist da das Thema, was obenauf liegt, und das sind in Stuttgart zwei Themen: Das eine heißt "Stuttgarts Reichtum", aber jetzt nicht, was alle denken, sondern da geht es um die Vielfalt der Menschen, die mit unterschiedlichen Herkünften in Stuttgart gemeinsam zusammen leben. Also es wird ein großes Projekt geben, das wir gemeinsam mit der Landeskirche stemmen und aufgesetzt haben, das im Dialog mit unterschiedlichen Gemeinden, aber auch anders religiösen Gemeinden – muslimischen Gemeinden, jüdischen Gemeinden – stattfindet. Da gibt es am Samstag interreligiöse Mittagstische, da kann man also verschiedene kulinarische Dinge ausprobieren und gleichzeitig die Menschen kennenlernen, weil nach unserer Erfahrung es immer noch so ist, dass viel an Ressentiment, an Ängsten, auch gerade an Islamophobie daher rührt, dass man eigentlich keinen kennt, dass man eigentlich gar nicht weiß, was machen Muslime in einer Moschee und was glauben sie, wie leben sie, was denken sie, wer sind sie überhaupt.
Und im Schutze des Kirchentages ist Begegnung einfach unkompliziert möglich. Das ist ein ganz großes Bedürfnis der Teilnehmenden, das wir immer wieder neu versuchen zu nutzen, um eben Begegnung zu ermöglichen und die Kenntnis zu verstärken. Aber nicht nur das, sondern es gibt auch inhaltliche Veranstaltungen – das ist so das eine. Und das andere Thema der Region ist natürlich eine starke Wirtschaft mit vielen mittelständischen Betrieben, mit engagierten Unternehmern, die zum Teil Bibelarbeiten halten, also beispielsweise Johannes Kärcher wird als Bibelarbeiter dabei sein. Und einige Veranstaltungen werden auch in den Unternehmen vor Ort stattfinden, sodass wir also auch ein bisschen Kirchentag goes Fabrik sozusagen ... uns in einen Dialog begeben mit Wirtschaft und mit Menschen, die Verantwortung in der Wirtschaft haben.
Dietrich: Ist das denn eigentlich leichter oder schwerer, über Wirtschaft gerade auch unter ethischen Kriterien zu diskutieren, wenn man das macht an Orten wie zum Beispiel Benz-Arena oder Porsche-Arena oder in der Mercedesstraße oder eben bei einem wirklich erfolgreichen Unternehmer stattfinden?
Ueberschär: Wir lassen uns davon nicht verunsichern, und ich glaube, wenn man sich verbieten lässt, bestimmte wirtschaftliche Praktiken zu kritisieren oder die Frage nach der Zukunft des Autos zu stellen, dann hat man schon verloren, also das machen wir einfach trotzdem. Also die Frage der Mobilität wird eine ganz große Rolle spielen auch im Stuttgarter Kirchentagsprogramm, und das findet dann eben in diesen Mercedes-Benz und Daimler und wie so alles heißt, benamten Orten einfach statt. Und das finde ich auch wichtig, dass wir uns den kritischen Dialog nicht aus der Hand nehmen lassen.
Aber ich finde es auch wichtig, dass wir uns nicht so in eine – als Kirchentag nicht und auch die einzelnen Teilnehmer nicht – in so eine Frontstellung zu Unternehmen bringen. Ich meine, die Mehrheit der Menschen, die berufstätig sind in diesem Land, arbeitet in einem Unternehmen, und die Frage, wie verhält sich sozusagen meine Arbeit im Unternehmen zur Gesamtwirtschaft, die mal zu stellen, die Antwort ist dann nicht so einfach, wie wenn man sich hinstellt und sagt, die und die und die sind schuld, und die und die und die sind für die Konsumgesellschaft und alles, was schiefgeht, schuld. Diese Debatte wird dann etwas komplizierter, da muss man dann schon etwas genauer hinschauen. Und dass wir diesen Dialog jetzt erneuert haben mit Menschen, die eben Verantwortung in der Wirtschaft haben, und denen, die kritisch unserem Wirtschaftssystem gegenüberstehen, das halte ich für einen ganz großen Gewinn.
Dietrich: Einen weiteren sehr Stuttgart-spezifischen Aspekt fand ich in der Verbindung des Christustags, also einem quasi frömmeren vielleicht, evangelikalen Kirchentag und dem eigentlichen Kirchentag. Beide Ereignisse finden parallel statt und arbeiten dieses Jahr zum ersten Mal zusammen – wie kann das gehen?
Ueberschär: Ja, wir machen einen großen Schritt in dieser Hinsicht. Der Christustag ist der frühere "Gemeindetag unter dem Wort" und hat sich ja als Gegengründung zum Kirchentag 1969 gebildet. Und dass wir jetzt insofern zusammenarbeiten, als dass der Christustag mitten im Kirchentagsgelände stattfindet, dass die Teilnehmenden die Möglichkeit haben, auch Kirchentagsveranstaltungen anzuschauen und einfach zu gucken, wie leben die ihr Christsein, und wir laden die aber auch ein, dass sie gucken, wie leben wir eigentlich unser evangelikales, unser pietistisches Frommsein, das finde ich einen großen Schritt insofern, als ich glaube, dass wir uns Abgrenzung im Protestantismus nicht leisten können. Das ist dem Evangelium nicht angemessen, sondern angemessen ist, zu suchen nach den Themen, die wir gemeinsam vertreten können und wo wir sagen, daran glauben wir gemeinsam.
Das ist immer noch mehr als das, was uns trennt, das muss man im Blick auf die Ökumene sagen, aber auch im Blick auf die Frömmigkeitsströmungen innerhalb des Protestantismus. Und dann gehört natürlich dazu auch der vernünftige Streit, und vieles wurzelt ja in der Frage, wie legen wir die Schrift aus, also wie interpretieren wir das Neue Testament. Und dazu haben wir eine gemeinsame Podienreihe mit Menschen aus der pietistischen Bewegung und Kirchentagsmenschen, das haben wir auch gemeinsam mit der Landeskirche aufgesetzt, dieses Projekt, evangelisch nicht nur in Württemberg, und da wird es genau um diese Themen auch gehen.
Selbstaufklärerisch, aber auch tief spirituell
Dietrich: Wird der Kirchentag frömmer damit? Es gab ja vereinzelt Stimmen, gerade von sehr politisch engagierten, von sehr reformerisch engagierten Gruppen, die sagen, es ist schwieriger geworden, unsere Themen im offiziellen Programm unterzubringen.
Ueberschär: Ich sehe das nicht unter dieser Frage, hier sind die Frommen, da sind die Politischen, sondern genau dieses Zusammenhalten von Frömmigkeit auf der einen Seite und Weltverantwortung auf der anderen Seite, das ist das Kennzeichen des Kirchentages. So hat er angefangen und so hat sich das auch über die Jahrzehnte immer mal sozusagen mit dem Pendelausschlag in die eine oder andere Richtung fortgesetzt. Und im Moment finde ich, ist der Kirchentag dabei, die Balance eigentlich sehr gut zu halten. Wenn Sie schauen, wie die Mehrheit der Teilnehmenden, wo sind die Bedürfnisse, dann sehen Sie, mehr Menschen gehen in Bibelarbeiten und mehr Menschen gehen vor allen Dingen in Gottesdienste, in Veranstaltungen, wo sie ihre sozusagen spirituellen Energien aufladen, wo sie verstehen, was heißt das Evangelium für mich ganz persönlich, wo sie sich berühren lassen.
Ich halte das für eine sehr positive Entwicklung, dass wir mit unserer Art zu glauben, einen selbstaufklärerischen Protestantismus und ein selbstaufklärerisches Christentum zu leben, dass wir das verbinden können wirklich mit einer tiefen Spiritualität. Und das ist auch eine Tradition des Kirchentages. Und dieses in einer Balance zu halten, das ist ein Anliegen des Präsidiums und derjenigen, die den Kirchentag vorbereiten. Das kann natürlich an bestimmten Punkten dazu führen, dass, ich sag mal, einseitige Interessen dann nicht so vorkommen, wie es sich manche vielleicht vorstellen. Aber wir sind auch, wenn man auf die 80er-Jahre zurückguckt und bestimmte Formen des Engagements, wir sind jetzt einfach auch 30 Jahre weiter, und die Welt hat sich entwickelt und der Kirchentag hat sich auch entwickelt.
Dietrich: Eine weitere Debatte, wo es vielleicht um genau das gleiche Thema geht, also die Frage, wie weit muss man eigentlich offen für andere Positionen sein, welchen Platz finden die auf dem Kirchentag, ist ja die Frage, wie über das Verhältnis von Juden und Christen debattiert wird, und vor allen Dingen, wer da mitdebattieren kann. Da ist in diesem Jahr beim Kirchentag in Stuttgart zum ersten Mal auch ein Vertreter der sogenannten messianischen Juden zu hören, also Juden, die von sich sagen, sie glauben an Jesus Christus und sind trotzdem Juden. Um dieses ganze Thema gab es im Vorfeld, oder gibt es auch immer noch, heftige Diskussionen.
Ueberschär: Der Kirchentag hat seit 1999, wo ja bekanntlich der letzte Kirchentag in Stuttgart stattfand, einen Beschluss, der sagt, dass aktive Judenmission auf Kirchentagen nicht erwünscht ist, und ist damit im Übrigen ganz im Mainstream der evangelischen Landeskirchen, die allermeisten von ihnen haben ähnlich lautende Beschlüsse. Und das führt dann dazu, dass Gruppen, in deren Statuten aktive Judenmission oder das Bekehren von Juden zum Messias ausdrücklich erwähnt ist, dass die auf dem Markt der Möglichkeiten, sozusagen aktiv werbend – das ist ja das, was man auf dem Markt der Möglichkeiten macht –, keinen Platz haben. Gleichwohl sind sie natürlich als Teilnehmende zum Kirchentag jederzeit und herzlich eingeladen. Diese Frage ist in Württemberg, wo es gemeinsam mit messianischen Gemeinden judenmissionarische Aktivitäten gibt, ist noch mal hochgekommen.
Gleichzeitig muss man sagen, dass das Phänomen der messianischen Gemeinden sich in den letzten Jahren ja insgesamt in Deutschland entwickelt hat, und das Präsidium des Kirchentages hat sich das angeschaut, hat einen Studientag veranstaltet und hat die Stellung des Kirchentages, die Position des Kirchentages in einer Stellungnahme noch mal dargelegt vor dem Stuttgarter Kirchentag, und entsprechend sind die Beschlüsse dann auch umgesetzt worden. Dass das einigen nicht schmeckt oder dass diejenigen, die finden, judenmissionarische Aktivitäten müssen auf dem Kirchentag einen Platz haben, ist die logische Folge davon, das hat aber keinen Einfluss darauf, dass für den Kirchentag der Dialog, der jüdisch-christliche Dialog auf Augenhöhe – mit dem verfassten Judentum, wie wir es in Deutschland haben – oberste Priorität hat.
Dietrich: Am Mittwoch beginnt der Evangelische Kirchentag in Stuttgart. Ich sprach mit Ellen Ueberschär, der Generalsekretärin.
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