Michael von Brück: "Buddhismus. Die 101 wichtigsten Fragen"
C.H. Beck, München 2019
160 Seiten, 12 Euro
Zen und die Kunst, sich selbst zu formen
25:01 Minuten
Für die einen religiöse Heimat, für andere ein spiritueller Wellness-Faktor: Was suchen Menschen im Buddhismus? Der Theologe und Zen-Lehrer Michael von Brück beantwortet in seinem neuen Buch 101 Fragen an die Weltreligion aus Asien.
Anne Françoise Weber: "Lehrt der Buddha Karma?" "Glauben Buddhisten an Gott?" "Schätzt man im Buddhismus den Humor?" Das sind nur drei Fragen, die Michael von Brück, emeritierter Professor der Religionswissenschaft an der Universität München, in einem neuen Buch beantwortet. "Die 101 wichtigsten Fragen" heißt eine Reihe im C.H.Beck-Verlag, und von Brück, der auch ausgebildeter Zen- und Yogalehrer ist und studierter evangelischer Theologe, behandelt eben diese 101 Fragen für den Buddhismus. Herr von Brück, wie kamen Sie denn auf diese 101 Fragen, die dem Titel nach auch noch die allerwichtigsten sein sollen?
Michael von Brück: Als die Anfrage kam – und das ist schon ein paar Jahre her – habe ich gesagt: "Noch ein Buch zum Buddhismus?" Ich habe so viel geschrieben, ich habe nichts Neues zu sagen und habe ich mich zunächst gesträubt beziehungsweise die Sache auf Eis gelegt. Dann kamen aber die Kollegen vom Beck-Verlag, und sagten: Also, das ist doch etwas anderes. Schreiben Sie knapp, schreiben Sie allgemeinverständlich – auf akademischem Hintergrund und mit allem akademischen Wissen, aber doch so, dass die einzelnen Fragen kurz beantwortet werden. Letztlich habe ich mich breitschlagen lassen und habe das gemacht.
Fragen aus dem Kreis der Schüler
Allerdings habe ich gesagt, die Fragen stelle ich nicht selbst. Sondern ich habe in meinem Schülerkreis, also sowohl bei den akademischen Schülern, Studierenden, Doktoranden und dann aber auch im Kreis derer, die bei mir Meditation, Zen lernen und regelmäßig zu den Übungen kommen, die habe ich gebeten, ihre Fragen aufzuschreiben. Und dann habe ich von etwa 100, 150 Fragen diejenigen ausgewählt, von denen ich dachte, das ist wirklich zentral und interessant für eine breitere Hörer- und Leserschaft.
Dann habe ich diese Fragen ein bisschen systematisch geordnet, wie man das als Religionswissenschaftler tut: historisch und mit Gegenwartsbezug, soziologisch und spirituell-psychologisch und habe dann dieses Buch daraus geschrieben. Dass es 101 Fragen sind, das ist eine Vorgabe des Verlags, weil ja die ganze Reihe in diesem Format erscheint. Aber ich denke, dass gerade in dieser Präzision, unter diesem Zwang, ganz kurz zu antworten, doch etwas herausgekommen ist, was neu ist.
Weber: Ich wüsste jetzt gerne erstmal, welches die Frage war, die Sie am schwierigsten zu beantworten fanden.
von Brück: Die schwierigsten Fragen sind immer die ganz allgemeinen. Zum Beispiel: "Warum ist Mitgefühl bei manchen Meditierenden nicht stark entwickelt?" Wenn man in die Szene der Meditierenden schaut, ist das ein breites Band, psychologisch beschreibbar vielleicht zwischen Selbstoptimierung, Stressabbau und der Suche oder dem Wunsch nach einer tiefen Erfahrung: Was ist der Sinn des Lebens? Aber wenn Leute nun seit Jahren, manche seit Jahrzehnten, meditieren und doch immer wieder Skandale, von denen dann auch berichtet wird, vorkommen – nicht nur im sexuellen Bereich, sondern auch bei Machtfragen zum Beispiel, oder wenn Meditierende nach Jahren dann immer noch Wut entwickeln oder so etwas – wie kommt das? Darauf versuche ich eine Antwort zu geben.
Methoden zum Umgang mit Wut oder Hass
Aber auch zum Beispiel auf die Frage: Wie gehen Buddhisten mit Emotionen wie Wut und Hass um? Wie macht man das? Wir sind diesen Dingen ja meistens ausgesetzt und sagen: Das ist unser Charakter, so bin ich eben. Nein, sagt der Buddhismus, ich selbst forme mich, ich selbst bin das Produkt meiner eigenen Geschichte, des Umgangs mit meinen Emotionen, meinen Gedanken, meiner Umwelt und so weiter. Da ist nun die Frage, gibt es da Methoden, Jahrhunderte alte Methoden, zum Beispiel, um mit Hass und Wut umzugehen? Und die gibt es, und die sind bewährt, und die praktizieren wir auch in unseren Übungen. Und das versuche ich auf eine ganz allgemeine Basis zu stellen.
Schwierig ist natürlich auch die Frage: Wie verhält sich der Buddhismus zu anderen Religionen? Also, nicht nur zum Christentum – darüber habe ich ein sehr umfangreiches Buch geschrieben –, sondern zum Beispiel zum Islam?
Weber: Oder zum Hinduismus, den manche ja als Vorvater des Buddhismus sehen.
von Brück: Richtig.
Weber: Das stimmt aber nicht.
von Brück: Nein, sondern im Gegenteil, der moderne Hinduismus, also das, was wir als indische Religion seit 1500 Jahren kennen, was sich herausgeformt hat, ist ganz stark unter dem Einfluss des Buddhismus entstanden. Natürlich ist der Buddhismus Kind der altindischen Religionskultur, so wie das Christentum Kind der jüdischen Tradition ist. Aber beide haben sich dann im Laufe der Geschichte wechselseitig beeinflusst und umgeformt – mit allen Problemen, die das auch hat. Die Nähe erzeugt ja gerade auch Spannungen, wie wir das aus jeder Familiendynamik wissen. Das Kind will sich freimachen, die Mutter will dafür sorgen, dass es im Stall bleibt, und so, kann ich fast schreiben, ist auch die Geschichte zwischen dem, was wir Hinduismus nennen und dem Buddhismus in Indien verlaufen.
Vielfalt innerhalb der Weltreligionen ist Teil unserer Geschichte
Weber: Man könnte aber vielleicht sogar sagen, dass der Buddhismus noch ein paar soziale Elternteile mehr hat, oder? Denn es gibt so unterschiedliche Ausprägungen des Buddhismus, die auch damit zu tun haben, was der Buddhismus jeweils vorfand in den Ländern, in die er kam.
von Brück: Wir reden heute auch im politischen Bereich sehr häufig von dem Islam, dem Christentum, dem Judentum und so weiter und so fort. Und solche Verallgemeinerungen sind erst mal historisch unsinnig, weil es tatsächlich diese Religionen in unglaublich vielfältigen und auch ganz widersprüchlichen Gestalten gibt und immer schon gegeben hat. Außer vielleicht am allerersten Anfang, da waren es natürlich wenige Leute. Aber sobald es mehrere wurden und die Religionen sich ausgebreitet haben, gab es Vielheit. Zweitens ist das Problem natürlich dies, wenn wir das so verallgemeinern und auf einen Begriff bringen, dann endet das meist in Vorurteilen.
Deshalb ist es so wichtig zu sehen: Pluralität ist keine Erfindung der Aufklärung oder der europäischen Moderne. Begrifflich ist sie das in gewisser Weise schon, aber die Vielheit in den Religionen, in den Kulturen, in den Sprachen, in den menschlichen Lebensweisen hat es immer gegeben. Sie ist Teil unserer Menschheitsgeschichte und überhaupt der Naturgeschichte vorher schon und deshalb nicht nur zu respektieren, sondern gutzuheißen. Ich meine, das ist ein ganz heißes politisches Thema, und man kann das am Buddhismus, der sich nun so ähnlich wie das Christentum eben auch, über ganz unterschiedliche Kulturen und Sprachen hinweg ausgebreitet hat und dabei sehr viele Wandlungen erfahren hat, aber doch seine Identität, sein Innerstes nicht verloren, sondern eher ausgeprägt und geschärft und vertieft hat – da kann man das am Buddhismus also besonders gut studieren.
Ich versuche das, was ich jetzt vielleicht fast ein bisschen zu allgemein sage, in diesen kurzen Antworten – es ist ja oft nur eine Seite oder anderthalb, zwei Seiten – so zu bündeln, dass man sieht: Da ist vieles anders als in unserer europäischen Geschichte, aber Strukturen, Elemente der gegenseitigen Wahrnehmung, auch des gegenseitigen Konfliktes und so weiter, die sind doch ähnlich. Der Mensch ist so.
Buddha schrieb nicht, sondern wirkte durch das Wort
Weber: Ist es Ihnen aber nicht manchmal auch schwergefallen, eine eindeutige Antwort zu geben angesichts dieser Vielfalt des Buddhismus? Ein ganz einfaches Beispiel: Auf die Frage "Hat der Buddha Schriften hinterlassen?" könnte man sagen kurz, die Antwort ist "Nein". Aber Sie schreiben dann doch anderthalb Seiten, und man muss feststellen, es gibt Schriften, die auch einen ganz unterschiedlichen Wert und Einfluss haben, je nach Tradition.
von Brück: Genau, also natürlich die erste Frage oder der erste Teil der Frage ist ganz klar zu beantworten: Er hat keine Schriften hinterlassen, jedenfalls kennen wir keine. Aber wir kennen die buddhistische mündliche Überlieferung. Das ist so ähnlich wie beim Christentum ja – Jesus selbst hat nicht geschrieben. Auch Sokrates nicht. Die ganz bedeutenden maßgebenden Menschen, wie der Philosoph Karl Jaspers das genannt hat, haben oft nicht geschrieben, sondern durch ihr Wort gewirkt. Erst die Schüler haben es dann aufgeschrieben – und das ist beim Buddha ganz genauso. Wir haben also von Anfang an, von den ersten Verschriftlichungen, vielleicht ein-, zweihundert Jahre nach der Lebenszeit des Buddha, gleich eine große Vielfalt. Wir haben verschiedene Sprachen, Pali und Sanskrit, und dann aber auch verschiedene, ich will mal sagen: Akzente oder Gewichtungen in der buddhistischen Lehre.
Mit dem Floß ans Ufer der inneren Ruhe
Weber: Und wir haben verschiedene Strömungen, die sich da entwickeln, und es gibt diese Unterscheidung zwischen dem großen und dem kleinen Fahrzeug, die Sie auch erklären. Was Sie aber nicht erklären, was ich jetzt doch an dieser Stelle fragen will, ist: Warum "Fahrzeug"? Das ist doch ein Bild, was für eine Kultur, die damals noch nicht so mobil unterwegs war wie wir heute, eher ungewöhnlich.
von Brück: Die waren mobiler als man denkt. Natürlich nicht mit 150 PS, aber auf Flößen, auf Wagen mit Pferden und natürlich auch zu Fuß. "Yana", dieser Begriff für Fahrzeug, findet sich schon in der vorbuddhistischen indischen Literatur, und man vergleicht den Pfad oder den Weg, den Übungsweg, den Reifungsweg des Menschen, der in der Religion gebündelt ist, mit dem Übersetzen von einem Ufer zum anderen, also mit einem Floß.
Die Religion oder der Praxisweg, den der Buddhismus anbietet, ist wie ein Floß, das man zimmert und mit dem man übersetzt – von welchem Ufer zu welchem, links oder rechts, würden wir jetzt geografisch fragen, aber hier ist es natürlich die Frage nach dem Ufer des Leides, der Vergänglichkeit, der Zeitlichkeit an das Ufer der Leidfreiheit, der inneren Ruhe und letztlich der Unvergänglichkeit.
Wo liegen die Quellen des Buddhismus?
Weber: Und da kann ich jetzt sozusagen die große Fähre nehmen, auf der ganz viele verschiedene Menschen und Denkrichtungen Platz haben, oder ich entscheide mich für das kleine Floß, was vielleicht versucht, näher an der Grundlehre des Buddha zu bleiben?
von Brück: Das ist so ein bisschen die europäische Interpretation seit dem 19. Jahrhundert gewesen, dass die Pali-Schriften, also was die Maha-yana-Leute ein bisschen abwertend "das kleine Fahrzeug" genannt haben, hina-yana, dass dies das ursprüngliche sei. Wir haben aber in den letzten Jahrzehnten Schriften gefunden, in den Gegenden, die heute Afghanistan, Pakistan sind, einst ganz große buddhistische Kulturen, aber auch in China an der Seidenstraße, Turfan und Dunhuang, diesen großen Wüstenoasen – da hat man Schriften gefunden in Sanskrit, die genauso alt sind wie die Pali-Schriften. Aus verschiedenen Gründen, die historisch interessant sind, aber jetzt nicht so für die Allgemeinheit, hat sich der Pali-Buddhismus stärker erhalten und von daher das Gefühl erzeugt, auch weil es in Europa zunächst so bekannt wurde, dass dies die ursprüngliche buddhistische Lehre sei.
Wir sind in der Forschung davon ein wenig abgekommen und denken, ja, es hat von Anfang an diese unterschiedlichen Strömungen gegeben, und die Bezeichnungen "kleines" und "großes Fahrzeug", so wie wir sie gebrauchen – das eine ist ein bisschen klein, nur für wenige, das andere groß und allumfassend –, da steckt auch eine Wertung drin. Und genau dort, wo dieser Begriff zum ersten Mal vorkommt, ist er auch ein bisschen wertend beziehungsweise abwertend gebraucht, im Lotos-Sutra nämlich.
Regionale Volkstraditionen formen die Religion
Weber: Man kann das aber heute schon auch geografisch verorten, welche Strömung in welchen asiatischen Ländern stärker oder sogar die einzig vorherrschende ist, oder?
von Brück: Ja, der Theravada-Buddhismus, so wie wir ihn wissenschaftlich dann nennen, also das Fahrzeug der Älteren, das hat sich zunächst von Nordindien aus nach Süden ausgebreitet, und zwar ganz besonders bis zur Insel Sri Lanka, und dann von dort aus nach Südostasien. Also, Myanmar ist heute die große theravada-buddhistische Kultur, aber auch Thailand. Aber schon in Thailand hat es sich wieder vermischt mit Maha-yana-Elementen, und in Myanmar hat es sich dann vermischt mit sehr vielen Elementen auch aus den Volkstraditionen, die vor dem Buddhismus da waren.
Als der Buddhismus dann vermutlich im ersten oder zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung nach China kam, traf er auf eine völlig andere Kultur, eine völlig andere Sprachwelt und Zivilisation und hat sich dort eingebürgert, wurde gelegentlich auch verfolgt als die Religion der Fremden, was wir ja auch aus unserer Geschichte kennen, gerade aus der Gegenwart – die Fremden sollen draußen bleiben –, aber insgesamt gesehen hat der Buddhismus China doch ganz erheblich geprägt und tut es bis heute.
Ist der Buddhismus Religion oder Philosophie?
Weber: Eine meiner Lieblingsfragen ist die Nummer 21: "Ist der Buddhismus Religion oder Philosophie?" Das klingt doch nach einer Frage, die man sich vor allem im Westen stellt, oder?
von Brück: Ganz genau. Der Buddhismus ist ja vor allem durch Schopenhauer, den großen Philosophen Anfang des 19. Jahrhunderts, in Europa bekanntgemacht worden, und dann durch Schopenhauers Schüler Friedrich Nietzsche und durch Richard Wagner, den großen Musiker, der ebenfalls sehr stark von Schopenhauer geprägt war. Auch in Frankreich und England gab es natürlich vergleichbare Entwicklungen, aber ich bleibe jetzt mal bei Deutschland. Man hat den Buddhismus ganz stark als Alternative empfunden, als Alternative zum Christentum, was damals ja schon verachtet wurde.
Man muss das auf dem Hintergrund der europäischen Religionsgeschichte sehen, der Konfessionskriege, des Dreißigjährigen Krieges, der Spaltungen, der Rechthaberei, der Ketzergeschichte. In der Aufklärung wollte man damit Schluss machen. Man suchte aber dann in der Frühromantik – man denke an die Brüder Schlegel oder vielleicht auch Goethe –, man suchte dann doch eine Innerlichkeit und etwas anderes. Der Theologe, der das auf den Punkt gebracht hat, war Friedrich Schleiermacher, 1799 mit seinen berühmten Reden an die Religionen und dem Untertitel: "an die Gebildeten unter ihren Verächtern".
Spiritualität und Kultivierung des Selbst
Also, da gab es eine große Verachtung für das Christentum. Jetzt kommt der Buddhismus und wird bekannt als eine buddhistische Philosophie und eine buddhistische Psychologie. Der Buddhismus stellt sich in diesen Schriften, die dann bekannt und übersetzt wurden, ganz empirisch dar. Er unterscheidet und begreift und kategorisiert Bewusstseinsphänomene sowohl im kognitiven Bereich als auch im emotionalen Bereich, ordnet das aufeinander zu, fragt vor allem: Wie kann ein Mensch das Bewusstsein kultivieren, wie kann er sowohl klarer, rationaler denken und argumentieren und gleichzeitig aber die Emotionen so kontrollieren, dass sie diese Rationalität nicht stören.
All das ist buddhistisches Grundgedankengut. Also nicht Wundererzählungen – die gibt es auch, aber das wurde nicht so wahrgenommen –, sondern rationale Psychologie, eine Alternative zum Christentum. Der Buddhismus schien nicht so organisiert zu sein, er schien nicht so eine Gewaltgeschichte zu haben. Das faszinierte die Leute. Und deshalb sagten sie: Der Buddhismus ist nicht Religion. Selbst wenn man in den Ländern, in denen der Buddhismus in Asien lebendig ist, durchaus religiöse Elemente wahrnehmen kann, aber, so sagten die Interpreten damals: Das ist alles korrupt, das ist eine spätere Entwicklung – im Kern ist der Buddhismus Philosophie und Psychologie.
Und da ist natürlich auch was Wahres dran. Aber wenn wir heute den Buddhismus so wahrnehmen, wie er gelebt wird in den Ländern Asiens und zunehmend auch in Amerika und Europa und übrigens auch in Afrika und in der ganzen Welt, dann sehen wir, dass er all die Merkmale besitzt, die Religion hat. Jetzt wollte ich mal nicht auf den Religionsbegriff kommen, das ist sehr schwierig, aber er hat all diese Merkmale, die wir auch kennen. Aber er unterscheidet sich doch dadurch von vielen anderen Religionen, dass er ganz praktische, psychologisch begründete Übungswege anbietet, die rational argumentiert werden, rational verworfen werden können, rational hinterfragt werden. Und das macht ihn so attraktiv.
Mythen und Rituale sind tief in der Psyche verankert
Weber: Es besteht ja auch der Versuch, genau diese Wege herauszulösen aus dem Ganzen und dann nur noch die Meditation oder die Achtsamkeit zu praktizieren, aber das nicht mehr in das buddhistische Denkgebäude einzuordnen. Ist das sozusagen Religion oder Philosophie als Selbstbedienungsladen? Oder sagen Sie, im Grunde kann ich keine wirklich buddhistisch inspirierte Meditation vollziehen, wenn ich nicht auch überzeugter Buddhist bin?
von Brück: Jetzt sind Sie an einem sehr, sehr schwierigen Thema, was ich in diesem Buch natürlich auch streife, was aber nicht ausdiskutiert wird. Es ist ein wichtiges Thema des nächsten Buches, das ich gemeinsam mit dem Dalai Lama schreiben werde. Der Dalai Lama vertritt ja eine säkulare Ethik, er sagt, wir müssen das von der Religion lösen. Mein Argument ist in gewisser Weise ja, das ist sozusagen der Weg, den der Philosoph Immanuel Kant auch gegangen ist. Aber alles, was mit Emotionen und Motivationen zusammenhängt, haben wir in den tieferen Schichten der Seele, in Bildern – und Bilder werden nun einmal durch Mythen und die Mythen durch Rituale inszeniert und in unserem Leben wichtig –, und dann haben wir eine Religion.
Ich bin also ziemlich sicher, dass man, wenn man jetzt versuchen würde, die Meditationsformen des Buddhismus und die daraus folgende Ethik völlig loszulösen vom Buddhismus, dass man dann trotzdem wieder eine Religion haben würde mit Bildern, mit Ritualen und so weiter. Wir haben das bei all den säkularen Religionen, von der Französischen Revolution bis zur kommunistischen Religionskritik gehabt, die haben selbst wieder Religion inszeniert mit all ihren Umzügen und Heiligenverehrungen und so weiter und so fort. Also ich glaube, Religion ist zu tief im Menschen verankert, als dass man sagen könnte, das kann ich rational weginterpretieren und weglassen.
Der Körper ist die Basis: Buddhismus und Lust
Weber: Eine wichtige Frage, wenn der Buddhismus nun eine Religion ist, ist ja auch: Religionen regulieren das Zusammenleben, und sie wollen oft auch das Sexualleben regulieren. Im Buddhismus sehen wir das einerseits mit einem ganz strengen Zölibat für Mönche und Nonnen, andererseits haben wir da aber - anders als im Christentum - nicht diese grundsätzliche Körperfeindlichkeit, Sexualfeindlichkeit für die Laien. Wie passt das zusammen?
von Brück: Ich gehe in dem Buch ja besonders auch auf solche praktischen Fragen ein, also gerade nach Sexualität, nach Umgang mit dem Körper, die Frage nach Gesundheit, nach Umgang mit dem Sterben und all diese Dinge – und das ist im Buddhismus eben anders. Der Buddhismus hat – und das ist jetzt kompliziert – zwei Grundhaltungen: Einmal ist er nichtdualistisch, also Körper und Geist sind nicht wirklich verschieden, sondern zwei Ausprägungen ein und derselben Sache, eine ganz besonders in Ostasien, vom chinesischen Buddhismus her beeinflusste Haltung.
Aber im indischen Buddhismus und auch im tibetischen Buddhismus haben wir einen gewissen Dualismus, genau das Gegenteil also, zwischen Körperlichem, Materiellem, Vergänglichem und Geistigem. Aber eben keinerlei Abwertung des Körperlichen, sondern das ist die Basis. Das ist die Basis dafür, dass sich Geistiges entfalten kann. Es ist aber einzig und allein eine Frage der Einstellung – jetzt nehmen wir mal das Thema Sexualität –, wie ich damit umgehe.
Sexualität kann gestaltet werden
Wenn ich mich von sexuellen Empfindungen oder dem Trieb so beherrschen lasse, dass ich unfrei werde und gar nicht mehr weiß, was ich tue – was häufig der Fall ist jedenfalls in Kulturen, die mit Sexualität nicht so umgehen wie es sich gehört, nämlich sie zu kultivieren, wie man die Sprache oder etwas anderes kultiviert –, dann ist es schlecht, und dann zieht es mich nach unten, und dann schafft es Chaos, Verwirrung und vor allem auch Verletzung bei anderen Menschen.
Wenn ich aber mit dem sexuellen Trieb so umgehe, dass ich ihn forme, dass er schön wird, dass ich ihn gestalte, dann ist das wunderbar. Es sei denn, ich bin bewusst Nonne oder Mönch geworden, habe ein Gelübde abgelegt. Dann muss ich mich natürlich an das Gelübde halten, sonst verstoße ich gegen die eigene geistige Integrität. Ich kann aber das Gelübde zurückgeben, dann heiraten und da meine Erfahrungen machen, und kann auch, wenn das dann vielleicht vorbei ist, wenn die Kinder erwachsen sind und aus dem Haus, wieder Mönch oder Nonne werden und das zurückgeben. Ich muss nur aufrichtig sein gegenüber meiner eigenen Motivation und Geisteshaltung. Das ist das Entscheidende.
Weber: Mit diesem Gelübde zeige ich aber im Grunde, dass ich mich beherrschen kann und sozusagen das Weltliche oder das Leibliche überwinden kann?
von Brück: Nicht überwinden, sondern formen, kontrollieren, gestalten kann.
Christ und Buddhist – geht das zusammen?
Weber: Die letzte Frage des Buches lautet: Können Christen auch Buddhisten sein und umgekehrt? Da ziehen Sie eine interessante Analogie zur Muttersprache. Erklären Sie das doch bitte mal.
von Brück: Das ist natürlich eine Frage, die auf der einen Seite biografisch ist. Also ich selbst versuche, genau so zu leben, Christ und Buddhist zugleich zu sein. Es ist aber auch eine Frage, die sehr, sehr viele Menschen in Europa und in Amerika betrifft. Und nicht nur Christen, sondern es ist ganz spannend zu erleben, wie etwa in Israel, jedenfalls in den Gegenden in Israel, in denen nicht ein sehr konservativ-traditionalistisches Judentum vorherrscht, sondern etwa in Tel Aviv, also in den großen Küstenstädten, wie dort der Buddhismus floriert. Und auch im amerikanischen Judentum – viele der berühmten Zen-Meister in den USA haben einen jüdischen Hintergrund.
Gut, das hat alles Gründe, die man analysieren kann, die ich zum Teil erwähne und die sehr interessant sind. Aber die grundsätzliche Frage ist natürlich: geht das? Ich habe es, um es deutlich zu machen, mit diesem Vergleich, den Sie angesprochen haben, formuliert. Wenn ich von mir selber spreche, bin ich nicht Buddhist und Christ im gleichen Sinne, denn ich bin christlich aufgewachsen, das heißt, die Kindheitsmuster sind vom Christentum geprägt. Und dort weniger von abstrakten Ideen, sondern von den christlichen Festen, ganz besonders von der christlichen Musik – ich bin musikalisch, in einem Knabenchor, Dresdener Kreuzchor, aufgewachsen und habe mein Christentum sozusagen singend erfahren.
Das sind Prägungen wie eine Muttersprache. Ich kann viele Sprachen dazulernen und erlebe dann auch meine eigene Muttersprache neu. Deshalb lernen wir ja bis heute Latein in den Schulen, und ich halte das für sehr hilfreich. Wir lernen Latein nicht einfach, um dann mal irgendwo angeben zu können mit lateinischen Aussprüchen oder um so ein bisschen halbgebildet zu sein im klassischen Bereich, sondern wir lernen es vor allem, um Sprache in ihrer Struktur zu erfassen. Und damit auch unsere deutsche Sprache genauer zu erfassen und besser und tiefer zu verstehen. Genau so ist das mit Religionen, die man dazulernt. Ich kann sagen, erst im Lichte des Buddhismus verstehe ich viele Aspekte des Christentums – oder versuche, sie zu leben.
Die eigene Religion neu erleben – und kritisieren
Weber: Und gleichzeitig kann es aber auch sein, dass es in einer neuen Sprache Worte und Konzepte gibt, die es in meiner Muttersprache gar nicht gibt.
von Brück: Unbedingt.
Weber: Also ist das auch eine Bewusstseinserweiterung?
von Brück: Unbedingt, zudem ist es auch eine Veränderung – und es ist natürlich auch Kritik. Es gibt im Christentum viele Elemente, die ich nicht mehr akzeptieren kann oder aus denen ich nicht lebe. Aber es gibt solche, vor allem die mystischen Elemente, die mir durch meine Beschäftigung mit dem Buddhismus – und das heißt bei mir immer sowohl intellektuelle, historische Arbeit als auch unmittelbare Praxis, Meditationspraxis –, die mir dadurch überhaupt erst zum Bewusstsein gekommen und wachgeworden sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.