Events oben und unten

Von Knut Benzner |
Im "Café mit Herz" bröckelt der Putz von den Wänden. Denen, die kommen, den Hamburger Obdachlosen, macht das nichts aus. Der, der das "Café mit Herz" aufbaute und nach wie vor leitet, ist Holger Hanisch, 54, ein ehemaliger Geschäfts- und Kaufmann. Er betreibt es im Keller von Haus 2 des ehemaligen Hafenkrankenhauses, das geschlossen wurde. Bis auf die Notfallstation.
Das "Café mit Herz" ist auch so eine Art Notfallstation. Dass Willie Bartels, dem die halbe Reeperbahn gehört, direkt neben den Resten des Hafenkrankenhauses - auf dem Gelände der alten Bavaria-St.Pauli-Brauerei - einen hoch modernen Bürokomplex mit Restaurants, so genannten Events, Parkgaragen, Hotels und noch ein paar Restaurants errichtet, gehört irgendwie auch zu der Geschichte aus dieser reichen Stadt in Deutschland.

St.Pauli–Süd.
Unweit der Reeperbahn. Millerntorplatz, Mojo respektive Mandarin – das eine war ein Club, das andere ist einer -, daneben das Operettenhaus mit seinem dreißigsten Musical ... Die Gegend.

Und um es ganz konkret zu machen: Ein wenig hinter dieser Gegend. Am Seniorenheim Elbpark vorbei – die Elbe selbst sieht man natürlich nicht, Park ist hier ebenfalls keiner, und, um auf die Elbe zurück zu kommen, man weiß, wo sie ist und ... man riecht sie. Also am Seniorenheim Elbpark vorbei, auf das Gelände des alten Hafenkrankenhauses.

"Ja, wir befinden uns jetzt hier im Café mit Herz. Café mit Herz ist eine Einrichtung für Menschen, die in Not geraten sind, denen wir helfen, wieder einen festen Boden unter den Füssen zu geben, mit dem Ziel Hilfe zur Selbsthilfe. "

Was heißt "Menschen in Not"? Was heißt "festen Boden"?

Hamburg. Stadtstaat. 755 km2, davon 61km2 Wasserfläche. 1,75 Millionen Einwohner.
Erster Bürgermeister seit 31.10.2001: Ole von Beust, CDU.


Die Menschen, Männer und Frauen, jünger und älter, krank und gesund, die Menschen, die ins "Café mit Herz" kommen, um eine Tasse Kaffee zu trinken, eine warme Suppe zu essen und ihre gebrauchte Kleidung gegen wiederum gebrauchte zu tauschen, sind obdachlos.
Wir sind in den Räumlichkeiten des alten Hafenkrankenhauses.

"Ja, wir sind in den ehemaligen Räumen des Hafenkrankenhauses, was 1997 geschlossen worden is', und durch eine Bürgerinitiative, "Ein Stadtteil steht auf", zumindest erreicht worden ist, dass es heute ein Sozial- und Gesundheitszentrum is' ... oder eben auch wir als Café mit Herz. Ich war damals der Sprecher dieser Bürgerinitiative."

Nur eines stört Holger Hanisch an seinem "Café mit Herz".

"Was uns natürlich 'n bisschen ärgert, is', dass wir hier einen Eingang haben, wo man in den Keller, das ist wie ein Kellereingang. Und gerade Menschen, die sowieso schon unten im Keller sind, dass die jetzt also auch noch in 'n Keller reingehen müssen, um hier eben halt von uns betreut oder versorgt zu werden. "

Event unten.

Hamburg. Handels-, Verkehrs- und Dienstleistungszentrum mit überregionaler sowie weltweiter Bedeutung. 3000 Import- und Exportfirmen, 95 Generalkonsulate, größter deutscher Versicherungsplatz.

Holger Hanisch, 55, ist der Gründer und Geschäftsführer des "Cafés mit Herz".
Der ehemalige Betriebsrat eines Elektronik-, Elektrotechnik- und Kommunikationskonglomerats – Gewinn dieser Firma nach Steuern bis Ende 3. Quartal 2005: 625 Millionen Euro – bewirtschaftet gut 1000 Quadratmeter, seit sechs Jahren, bei einer monatlichen Miete von 2500 Euro. Und Kosten von monatlich 6000 Euro.
Event oben.

Blickt man aus den Kellerräumen des "Café mit Herz" hinaus ... Eine Baustelle ...

"Oh, man sieht ja gar nicht, wo das zu Ende ist. Gehört denn das auch noch mit dazu? "

Das gehört auch noch mit dazu.

"Ungefähr 30.000 Quadratmeter? "

28.000 Quadratmeter.
Hier stand die Bavaria-St.Pauli Brauerei. Astra.

"Das da vorne ist der ehemalige Turm der Brauereiverwaltung. "

Sollte erst integriert, jetzt scheint er zurück gebaut zu werden.

"Und rechts stehen zwei Türme, 21 Stockwerke hoch. "

Willy Bartels, der König von St.Pauli, Inhaber etwa des ehemaligen Eros-Centers und des Hotels Hafen Hamburg, hatte das Gelände nach der Pleite der Bierbrauer erworben.

"Also das Gelände liegt zwischen dem Bernhard-Nocht-Institut, der Hopfenstrasse und dem Zirkusweg. "

Das Bernhard-Nocht-Institut ist das Institut für Tropenmedizin.
Die Baustelle nimmt dem "Café mit Herz" das Licht.

Event unten.

"So, dann gehen wir mal in die Küche rein. "

Es ist voll heute.

"Ja, das ist immer so, jetzt geht's zum Monatsende, ähm, Locke, wie viel haben wir denn heute schon? ... "

Locke arbeitet in der Küche.

"So, jetzt um die 70 haben wir, aber denn komm' noch die ander'n dazu, also es sind schon knappe hundert, die wir heute hier schon... "

Und Jürgen ist der Verantwortliche in der Küche. Maler, dann 25 Jahre gehobene Gastronomie.

"Och, so große Unterschiede gibt's da auch nich'. Nee, ich mach das hier genau so fertig wie in einem Restaurant. Vielleicht noch besser manchmal. "

Im Flur Regale mit Büchern und Gesellschaftsspielen, drei Räume weiter ein elektrisches Klavier.

Hamburg. Besonders dynamischer Dienstleistungszweig ist die Medienwirtschaft, in der Hamburg in Deutschland führend ist. Presse- und Buchverlage, Musik- und Filmwirtschaft, Werbung und Design.
In Hamburg leben etwa 5000 Millionäre – Hamburg ist die Millionärs reichste Stadt der Bundesrepublik.


"Wenn es viele reiche Leute in Hamburg oder auch in Deutschland gibt, gibt's auch gleichermaßen arme Leute dadurch. "

Ein Schulpraktikant, mit verblüffender, nahezu bestechender Logik.

"Man muss immer eins verstehen, die Gäste erzählen nichts. "

Almut Beik, 64, nennt die, die hierher kommen, mit Absicht "Gäste".

"Wir fragen nicht, ähm, ich unterhalte mich gerne mit den Gästen, das mache ich auch sehr häufig, aber man kommt auch nicht sehr ran. "

Almut Beik, in Rente – sie war Verkäuferin -, arbeitet jeden Donnerstag im "Café mit Herz". Ehrenamtlich.

"Die Menschen draußen, ... die denken glaube ich immer, ... die schämen sich nicht mehr. Die Obdachlosen schämen sich auch, die verstecken das nur anders. Die verstecken das anders. Die sind einfach nicht mehr offen. Das können sie auch nicht mehr. "

Es kann schnell gehen, obdachlos zu werden.

"Ich habe es nicht geglaubt, dass es so ist. Aber es ist so. "

Offiziell spricht die Stadt von 1200 Obdachlosen in Hamburg.

"Ich meine, da gibt's ne Dunkelziffer, mit Dunkelziffer müssen das mehr als 3000 Obdachlose sein. "

Holger Hanisch. Der Leiter des "Café mit Herz".
Event oben.

Die Baustelle.

"Vor uns sieht man noch ein Riesen-Loch. Wahrscheinlich für Tiefgaragen. "

Auf die Tiefgaragen kommen Hotels, auf die Tiefgaragen kommen Büros, Gaststätten, Tiefgaragen, Büros, Gaststätten, Tiefgaragen.
Einer der erwähnten Türme, das "House of Communication", wird zum größten Agentur-Network Deutschlands, mit einem Investitionsvolumen von 95 Millionen Euro.

"Is' ja riesig. "

Und daneben:

"Das, was da entstehen soll, ist das Atlantic-Haus. "

Dazwischen:

"Wahrscheinlich irgendwie ein Verbindungsgebäude zwischen diesen beiden Türmen, mit Betonpfeilern, vier Stück, oder sechs... "

Und Wohnungen, Ateliers und Wohnbüros, drei Blocks tief, zwei Blocks breit, die entstehen auch.
Würde man hier wohnen wollen?

"Jaha, warum nich'. Noch sieht man ja nich' viel, aber die Ecke is' ja nich' schlecht. "

Im Brau-Quartier wohnte man dann. Im, so die Affirmation des Bauträgers, "neuen Herz von St.Pauli".
Wo war das alte?
Event oben und unten.
Holger Hanisch:

"Ja, so kann man's auch sagen, ha, im wahrsten Sinne des Wortes. "

Sein "Café mit Herz" ist ein gemeinnütziger Verein mit 320 Mitgliedern.

Hamburg. Seefischmarkt, Blumen-, Gemüse- und Obstgroßmärkte. Zivile Luftfahrtindustrie, Nahrungsmittel- und Genussmittelindustrie. Zweit größter Hafen Europas. Mit den Containerzentren Waltershof und Altenwerder gehört Hamburg zu den sieben größten Containerhäfen der Welt.

Event unten.

Freitagabend. Kurz vor neun. Hanisch geht sammeln.
Ein Personalmanager von Beiersdorf, Cremes, Pflaster, Körperpflege, hatte sich im Rahmen des Programms "Seitenwechsler", initiiert von der Patriotischen Gesellschaft Hamburg, angesagt, kommt aber nicht. Sitzung.

"Wir hatten schon ein, zwei 'Seitenwechsler' hier bei uns gehabt, ... von der Telekom, und einmal ist es ein Immobilienunternehmen gewesen. "

Wie gesagt: Hanisch geht sammeln. Zwei, drei mal die Woche.

"Wir gehen jetzt in's 'Freudenhaus', das ist ein Restaurant, was auch schon gehobener Klasse ist, und, ja. "

St.Pauli-Nord.

Hamburg. Hamburg ist der größte Eisenbahnknotenpunkt im nördlichen Europa. Bestimmte Stadtteile drohen in der Armut zu versinken. Das versteuerte Einkommen in traditionellen Arbeitergegenden wie St.Pauli, Dulsberg, Wilhelmsburg oder Harburg erreicht gerade einmal 60 Prozent des Hamburger Durchschnittseinkommens.

Über die Reeperbahn. Vorbei an Kneipen, Spielotheken, Videotheken, Sexshops, Discotheken.
Hanisch trifft auf einige derer, die er und seine Mitarbeiter tagsüber von Mittags bis frühen Abend betreuen.

"Hallo, guten Abend, Café mit Herz, ja danke schön. "

Die Münzen purzeln in die Büchse.

"Jeder Euro hilft, damit wir unsere Arbeit weiter machen können. "

Das 'Freudenhaus' ist gut besucht, hier ein Pärchen, dort eine schweigende Herrenrunde, die vor ihrem Essen sitzt, hier ein paar hübsche ausgelassene Damen auf Betriebsausflug, dort ein weiteres Pärchen.
Von den elfen der Herrenrunde geben fünf. Dann der sechste, der siebte, und der achte auch.

"Ja, das war also wirklich 'ne gute Beute, ich denk' mal so bis zu 40 Euro gleich im ersten Laden auf Anhieb zu bekommen, das ist schon nicht schlecht. Ich weiß jetzt nicht, woran das gelegen hat, aber sonst ziert man sich doch so paar Sekunden, ob man was reinpackt oder nicht, aber vielleicht lag es auch daran, dass das Mikrophon dabei war. "

"Wir gehen jetzt zu 'Cuneo', das ist ein italienisches Restaurant in der Davidstraße. "

Hanisch ist bekannt. Und "Cuneo", kurz vor der Herbertstraße, Hamburgs erster Italiener: Seit 1905.

"Entschuldige, entschuldige mal bitte. "

Lauter, voller, hektischer.

Weiter. Bis Nachts um eins. In jedes Restaurant pro Abend nur ein Mal.
St.Pauli kann eine Reise in's Selbst oder obszön öde sein.

Hamburg. Stadtstaat. 755 km2, davon 61 km2 Wasserfläche. 1,75 Millionen Einwohner.
Erster Bürgermeister seit 31.10.2001: Ole von Beust, CDU.


Der Erlös Hanischs Sammelns wird von einem Notar verwaltet.
Ist Holger Hanisch ein guter Mensch?

"Pf, das sollen andere entscheiden. "

Almut Beik, die Ehrenamtliche, vielleicht?

"Für mich ist es einmalig, es gibt mit Sicherheit auch noch andere, die so etwas machen, das ist ganz klar. Aber ich hab' ihn so kennen gelernt, und was er so macht ist für mich... Wie sagt man immer so schön? Hut ab. "