Evers-Meyer: Sonder- und Förderschulen abschaffen
Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Karin Evers-Meyer, hat das deutsche Schulsystem als diskriminierend bezeichnet. Das Aussortieren Behinderter in Sonder- und Förderschulen verstoße gegen die UN-Menschenrechtskonvention, sagte die SPD-Politikerin. Eine gemeinsame Ausbildung von behinderten und nichtbehinderten Menschen sei der beste Weg, um Diskriminierung zu verhindern.
Frank Capellan: Am Telefon von Deutschlandradio Kultur begrüße ich nun eine Gesprächspartnerin, die in ihrer Funktion noch nicht allzu häufig in unserem Programm aufgetaucht ist: Karin Evers-Meyer, sie ist SPD-Bundestagsabgeordnete und Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Guten Morgen.
Karin Evers-Meyer: Guten Morgen.
Capellan: Frau Evers-Meyer, wir wollen die Gelegenheit nutzen und über eine zweitägige europäische Konferenz sprechen, die heute in Berlin beginnt. Ein Treffen, bei dem es um die Integration behinderter Menschen in der Europäischen Union gehen soll. Was wird dabei für Sie im Mittelpunkt stehen?
Evers-Meyer: Es gibt drei verschiedenen Themenbereiche: Barrierefreiheit, Arbeit, und mein Themenbereich ist das Thema Gleichberechtigt in der Schule, Integration behinderter Menschen in das allgemeine Bildungssystem.
Capellan: Sie wollen diese integrative Bildung fördern, also das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern. In diesem Punkt, das muss man sagen, ist Deutschland nicht gerade vorbildlich. Die Sonderschule hat bei uns im Grunde immer noch einen außerordentlichen Stellenwert. Woran liegt das?
Evers-Meyer: Ich glaube, das ist zum einen sicherlich unserer Tradition geschuldet. Wir haben den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik noch nicht vollzogen. Wenn ich sage Paradigmenwechsel, dann meine ich damit den Wechsel von der Fürsorge hin zum selbstbestimmten Leben. Und ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass behinderte und nichtbehinderte Menschen aufwachsen, zur Schule gehen und zusammen lernen. Dann wächst damit auch der Respekt vor der Vielfalt des menschlichen Lebens. Wir in Deutschland, das haben Sie eben schon gesagt, haben da einen großen Nachholbedarf. In Deutschland werden nur circa zwölf Prozent aller behinderten Kinder integrativ beschult. In vergleichbaren Ländern in Europa sind das über, weit über 80 Prozent sogar in einigen Ländern. Und das ist natürlich beschämend für Deutschland.
Capellan: Zum Beispiel Italien liegt ganz vorne bei diesen Zahlen oder auch Schweden. Was wird dort besser gemacht?
Evers-Meyer: Dort wird von vornherein nicht aussortiert. Meine Kollegen aus dem Ausland werfen mir, also die Behindertenbeauftragten, werfen mir oft vor, dass wir Deutschen nach wie vor besser aussortieren könnten als integrieren. Und dort beginnt man schon im Kindergarten, es ist normal, also im Ausland ist es normal, verschieden zu sein. Das Lernen findet vom Kindergartenalter an unter einem Dach statt. Und wir sehen in der gemeinsamen Erziehung und Ausbildung behinderter und nichtbehinderter Kinder unter einem Dach einen effizienteren Weg, spätere Diskriminierung im Alltag zu vermeiden und Integration zu fördern. Ich halte mich immer so ein bisschen an den Spruch, Bundespräsident von Weizsäcker wird gern zitiert mit dem Satz: Was gar nicht erst ausgegrenzt wird, muss hinterher nicht mühsam integriert werden. Man kann auch sagen, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Capellan: Würden Sie, Frau Evers-Meyer, würden Sie denn soweit gehen und sagen, dass die ja nicht gerade rosigen PISA-Ergebnisse mit Blick auf Deutschland auch ein Beleg dafür sind, dass wir mehr gemeinsames Lernen brauchen?
Evers-Meyer: Ja, ganz sicherlich. Integrative Bildung ist auch Voraussetzung für eine Integration behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Berührungsängste, Unkenntnisse sind in Deutschland immer noch Grundlage für die Sichtweise, Menschen mit Behinderung haben Defizite. Also wir denken immer defizitorientiert und meinen, behinderte Menschen sind daher auch nicht leistungsfähig. Und diesem Vorurteil kann man wirklich nur durch konsequente Integration das Wasser abgraben. Und außerdem denke ich, wichtig ist auch zu bedenken, der demografische Wandel, eine alternde Gesellschaft ist eine Herausforderung an die Integrationsfähigkeit aller Menschen. Und von daher ist es ganz wichtig, dass es selbstverständlich ist, dass wir anerkennen, dass es Menschen gibt, die anders sind, die alt oder behindert sind. Und das müssen wir in Deutschland wieder verstärkt lernen und auch leben.
Capellan: Sie müssen ja jetzt bei dieser EU-Konferenz die eigene Regierung, die Bundesregierung kritisieren als Behindertenbeauftragte dieser Regierung. Woran hapert es denn ganz konkret in Deutschland?
Evers-Meyer: Es hapert ganz konkret an … Also eigentlich kann man bei der UN-Menschenrechtskonvention anfangen, denn an der werden wir uns abarbeiten. Im Artikel 24 steht eigentlich, wenn ich es sehr verkürzt sage, dass unser Schulsystem diskriminierend ist. Das müssen wir endlich in Deutschland zur Kenntnis nehmen, dass wir ein Schulsystem brauchen, das diese Diskriminierung abschafft. Und unser System von Sonder- oder Förderschulen ist der Integration von behinderten Menschen nicht dienlich, behinderte und nichtbehinderte Menschen gehören sozusagen schulisch unter ein Dach.
Capellan: Ist das eine Frage des Geldes, ist die Integration von behinderten Kindern in normalen Schulen eine Sache, die zusätzliche Mittel erfordert?
Evers-Meyer: Sicherlich, wenn man ein System umstellt, ist es zunächst immer teurer. Aber stellen Sie sich vor, es ist doch wesentlich teurer, viele verschiedene Schulen zu haben: eine Schule für Körperbehinderte, für Lernbehinderte, für Taube, für Blinde, für Verhaltensauffällige. All diese verschiedenen Schulen leisten wir uns. Und wenn man das unter einem Dach hat, stellen Sie sich nur die verschiedenen Schulgebäude vor, dann ist es logisch, dass es in der Konsequenz hinterher auch kostengünstiger ist.
Capellan: Ganz kurz zum Schluss: Was versprechen Sie sich von dieser Konferenz?
Evers-Meyer: Ich hoffe, dass wir wirklich wertvolle Impulse bekommen. Wir werden uns ja vergleichen, wo liegen die Widerstände, was müssen wir noch für Baustellen bearbeiten. Und ich denke, dass wir uns ganz besonders noch um die Rechte behinderter Menschen kümmern, die ja wirklich ein universelles Rechtsinstrument sind. All diese Dinge werden wir anhand des UN-Übereinkommens abarbeiten.
Capellan: Karin Evers-Meyer, SPD-Bundestagsabgeordnete und Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Frau Evers-Meyer, ich danke Ihnen, auf Wiederhören.
Evers-Meyer: Vielen Dank. Wiederhören.
Karin Evers-Meyer: Guten Morgen.
Capellan: Frau Evers-Meyer, wir wollen die Gelegenheit nutzen und über eine zweitägige europäische Konferenz sprechen, die heute in Berlin beginnt. Ein Treffen, bei dem es um die Integration behinderter Menschen in der Europäischen Union gehen soll. Was wird dabei für Sie im Mittelpunkt stehen?
Evers-Meyer: Es gibt drei verschiedenen Themenbereiche: Barrierefreiheit, Arbeit, und mein Themenbereich ist das Thema Gleichberechtigt in der Schule, Integration behinderter Menschen in das allgemeine Bildungssystem.
Capellan: Sie wollen diese integrative Bildung fördern, also das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern. In diesem Punkt, das muss man sagen, ist Deutschland nicht gerade vorbildlich. Die Sonderschule hat bei uns im Grunde immer noch einen außerordentlichen Stellenwert. Woran liegt das?
Evers-Meyer: Ich glaube, das ist zum einen sicherlich unserer Tradition geschuldet. Wir haben den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik noch nicht vollzogen. Wenn ich sage Paradigmenwechsel, dann meine ich damit den Wechsel von der Fürsorge hin zum selbstbestimmten Leben. Und ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass behinderte und nichtbehinderte Menschen aufwachsen, zur Schule gehen und zusammen lernen. Dann wächst damit auch der Respekt vor der Vielfalt des menschlichen Lebens. Wir in Deutschland, das haben Sie eben schon gesagt, haben da einen großen Nachholbedarf. In Deutschland werden nur circa zwölf Prozent aller behinderten Kinder integrativ beschult. In vergleichbaren Ländern in Europa sind das über, weit über 80 Prozent sogar in einigen Ländern. Und das ist natürlich beschämend für Deutschland.
Capellan: Zum Beispiel Italien liegt ganz vorne bei diesen Zahlen oder auch Schweden. Was wird dort besser gemacht?
Evers-Meyer: Dort wird von vornherein nicht aussortiert. Meine Kollegen aus dem Ausland werfen mir, also die Behindertenbeauftragten, werfen mir oft vor, dass wir Deutschen nach wie vor besser aussortieren könnten als integrieren. Und dort beginnt man schon im Kindergarten, es ist normal, also im Ausland ist es normal, verschieden zu sein. Das Lernen findet vom Kindergartenalter an unter einem Dach statt. Und wir sehen in der gemeinsamen Erziehung und Ausbildung behinderter und nichtbehinderter Kinder unter einem Dach einen effizienteren Weg, spätere Diskriminierung im Alltag zu vermeiden und Integration zu fördern. Ich halte mich immer so ein bisschen an den Spruch, Bundespräsident von Weizsäcker wird gern zitiert mit dem Satz: Was gar nicht erst ausgegrenzt wird, muss hinterher nicht mühsam integriert werden. Man kann auch sagen, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Capellan: Würden Sie, Frau Evers-Meyer, würden Sie denn soweit gehen und sagen, dass die ja nicht gerade rosigen PISA-Ergebnisse mit Blick auf Deutschland auch ein Beleg dafür sind, dass wir mehr gemeinsames Lernen brauchen?
Evers-Meyer: Ja, ganz sicherlich. Integrative Bildung ist auch Voraussetzung für eine Integration behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Berührungsängste, Unkenntnisse sind in Deutschland immer noch Grundlage für die Sichtweise, Menschen mit Behinderung haben Defizite. Also wir denken immer defizitorientiert und meinen, behinderte Menschen sind daher auch nicht leistungsfähig. Und diesem Vorurteil kann man wirklich nur durch konsequente Integration das Wasser abgraben. Und außerdem denke ich, wichtig ist auch zu bedenken, der demografische Wandel, eine alternde Gesellschaft ist eine Herausforderung an die Integrationsfähigkeit aller Menschen. Und von daher ist es ganz wichtig, dass es selbstverständlich ist, dass wir anerkennen, dass es Menschen gibt, die anders sind, die alt oder behindert sind. Und das müssen wir in Deutschland wieder verstärkt lernen und auch leben.
Capellan: Sie müssen ja jetzt bei dieser EU-Konferenz die eigene Regierung, die Bundesregierung kritisieren als Behindertenbeauftragte dieser Regierung. Woran hapert es denn ganz konkret in Deutschland?
Evers-Meyer: Es hapert ganz konkret an … Also eigentlich kann man bei der UN-Menschenrechtskonvention anfangen, denn an der werden wir uns abarbeiten. Im Artikel 24 steht eigentlich, wenn ich es sehr verkürzt sage, dass unser Schulsystem diskriminierend ist. Das müssen wir endlich in Deutschland zur Kenntnis nehmen, dass wir ein Schulsystem brauchen, das diese Diskriminierung abschafft. Und unser System von Sonder- oder Förderschulen ist der Integration von behinderten Menschen nicht dienlich, behinderte und nichtbehinderte Menschen gehören sozusagen schulisch unter ein Dach.
Capellan: Ist das eine Frage des Geldes, ist die Integration von behinderten Kindern in normalen Schulen eine Sache, die zusätzliche Mittel erfordert?
Evers-Meyer: Sicherlich, wenn man ein System umstellt, ist es zunächst immer teurer. Aber stellen Sie sich vor, es ist doch wesentlich teurer, viele verschiedene Schulen zu haben: eine Schule für Körperbehinderte, für Lernbehinderte, für Taube, für Blinde, für Verhaltensauffällige. All diese verschiedenen Schulen leisten wir uns. Und wenn man das unter einem Dach hat, stellen Sie sich nur die verschiedenen Schulgebäude vor, dann ist es logisch, dass es in der Konsequenz hinterher auch kostengünstiger ist.
Capellan: Ganz kurz zum Schluss: Was versprechen Sie sich von dieser Konferenz?
Evers-Meyer: Ich hoffe, dass wir wirklich wertvolle Impulse bekommen. Wir werden uns ja vergleichen, wo liegen die Widerstände, was müssen wir noch für Baustellen bearbeiten. Und ich denke, dass wir uns ganz besonders noch um die Rechte behinderter Menschen kümmern, die ja wirklich ein universelles Rechtsinstrument sind. All diese Dinge werden wir anhand des UN-Übereinkommens abarbeiten.
Capellan: Karin Evers-Meyer, SPD-Bundestagsabgeordnete und Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Frau Evers-Meyer, ich danke Ihnen, auf Wiederhören.
Evers-Meyer: Vielen Dank. Wiederhören.