Clive Gamble/ John Gowlett/ Robin Dunbar: Evolution, Denken, Kultur. Das soziale Gehirn und die Entstehung des Menschlichen
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Springer Verlag, Heidelberg 2016
376 Seiten, 24,99 Euro
Das Gehirn agiert sozial − seit der Steinzeit
Sozialleben versteinert nicht, meinen die drei Autoren eines klugen Buchs mit dem Titel "Evolution, Denken, Kultur". Das entscheidende Thema in der Frühzeit der Menschheit war demnach nicht die Entwicklung von Werkzeug, sondern soziale Herausforderungen.
Heute haben viele Menschen Hunderte von Facebook-Freunden oder Twitter-Follower. Aber wie viele davon kennen sie persönlich? Es dürften so um die 150 sein: Familienmitglieder, enge Freunde, Kollegen und Bekannte. Die Zahl gilt für einen Jäger in der Kalahari genauso wie für eine Managerin in New York oder einen Hausmann in Wuppertal.
Kein Zufall: Schon in den 1990er-Jahren hat der britische Evolutionsbiologe Robin Dunbar herausgefunden, dass bei einer Vielzahl von Affen- und Menschenaffenarten die Größe des Stirnhirns in enger Beziehung zur Größe ihrer Sozialgruppe steht. Überträgt man diesen Zusammenhang auf den Menschen, dann ergibt sich eine Gruppengröße von 150 Personen.
Soziale Entwicklung schneller als die technische
Robin Dubnar selbst und die beiden Archäologen Clive Gamble und John Gowlett sind davon überzeugt, dass dieser Zusammenhang der entscheidende Schlüssel für das Verständnis der Entwicklung des Menschen ist. In ihrem Forschungsprojekt "Lucy to Language" haben sie diesen Ansatz erprobt und berichten von ihren zentralen Einsichten nun in ihrem Buch "Evolution, Denken, Kultur".
Schnell wird klar: Beim Weg vom Australopitecus bis zum Homo sapiens ging es weniger um Weisheit oder Werkzeuggebrauch als vielmehr um soziale Herausforderungen. So boten größere Gruppen nicht nur Sicherheit, sie sorgten auch für häufigere Konflikte. Deshalb konzentrierte sich die Entwicklung auf das Sozialleben und nicht so sehr auf technische Neuerungen: die Form des Faustkeils änderte sich über 1,5 Millionen Jahre praktisch gar nicht, dafür aber die Gruppenorganisation. Weg von eng zusammen lebendenden Großgruppen hin zu losen Verbünden, die nicht täglich Kontakt hatten, im Notfall aber zur gegenseitigen Hilfe bereit waren.
Hinweise auf Paarungsstrategien
Sozialleben versteinert nicht, so die Autoren. Deshalb halten viele Archäologen alles für Spekulation, was über die Beschreibung von Knochen und Faustkeile hinausgeht. Das britische Autorenteam zeigt nun aber, dass es durchaus Wege gibt, zumindest den Rahmen des Gruppenalltags längst ausgestorbener Arten einzugrenzen. So kann man anhand eines Längenvergleichs von Zeige- und Ringfinger auf den Testosteronspiegel rückschließen. Daraus ergeben sich wiederum wichtige Hinweise über Paarungsstrategien: Anders als vermutet lebten die Neandertaler und frühere Formen des Homo sapiens wahrscheinlich polygam.
Weitere Vergleiche zeigen, dass die Neandertaler zwar einen großen Schädel, aber dafür ein kleineres Stirnhirn hatten und damit eine weniger flexible Gruppenstruktur organisieren konnten. Auch deshalb waren sie dem Homo sapiens auf Dauer nicht gewachsen, vermuten die Autoren weiter.
In ihrem klugen Buch decken die drei Forscher zahlreiche weitere Themen ab: Wanderbewegungen, Werkzeugentwicklung, das Feuer, demokratische und hierarchische Gesellschaften, kriegerische Auseinandersetzungen - immer aus dem Blickwinkel eines "sozial" agierenden Gehirns. Das ist spannend, aber oft auch überaus anspruchsvoll, da die Autoren eine enorme Anzahl an Forschern, Studien und Funden erwähnen. Das verwirrt nicht selten, zumal es viele Doppelungen und Zeitsprünge gibt, wie auch besonders ärgerliche Übersetzungsfehler.
Ungeachtet dessen werden die Leserinnen und Leser mit einem ganz neuen Blickwinkel auf die sehr lange Geschichte des Soziallebens belohnt.