Evolution im Fernschach

Der Trend geht zum schnellen Blitzspiel

23:51 Minuten
Feature Schachfiguren auf dem Schachbrett
Schachfiguren auf dem Brett: "Und dann hat man gewartet, vierzehn Tage, bis der Zug kam." © imago sportfotodienst
Von Fritz Schütte |
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Arno Nickel wartete einen Monat auf den Zug seines Gegners in Sibirien. Wolfgang Eisenbeiss organisierte sogar eine Partie mit einem Spieler im Jenseits – sie dauerte fast acht Jahre. Inzwischen hat sich der ganze Charakter des Fernschachs für immer verändert.
"Ich habe mit 13 begonnen, Schach und Fernschach zu spielen, und habe niemals aufgehört", sagt Fritz Baumbach. "Ein Fernschachspieler sagte mal: 'Für einen Fernschachspieler ist das ganze Leben eine ununterbrochene Partie Schach'."
"Die Niederlage im Fernschach tut richtig weh, weil man da vielleicht ein, zwei Jahre Arbeit reingesteckt hat und vielleicht sogar auf Gewinn stand, und man macht einen dummen Fehler, manchmal durch Übereilung, weil man schnell noch den Zug wegschicken will, und dann ist die Partie im Eimer", sagt Arno Nickel.
Was soll ich schreiben? Mir fällt nichts ein. Fernschachspielern geht der Stoff nie aus.

Ein Gegner auf der anderen Seite der Mauer

In der DDR war Grenzenüberschreitendes beliebt und schon die Suche nach einem Fernschachgegner jenseits des Eisernen Vorhangs abenteuerlich. Wie viele Jugendliche seiner Generation ist Frank Voigt aus Ostberlin bedingungsloser Fan von Borussia Mönchengladbach und freut sich, als seine Borussia im UEFA-Cup erstmals auf einen DDR-Club trifft.
"Hier ist es. In Magdeburg … Das ist das Datum: 16. September 1981. 3:1 verloren. Aber Rückspiel 2:0, und damit ist Gladbach weitergekommen." Der 16. September ist ein Mittwoch. Frank reist einen Tag früher an und kauft auf, was er an Karten bekommen kann. "Und am nächsten Tag bin ich dann – das war das Vereinscasino von Magdeburg – da habe ich mich dann still in so eine Ecke gesetzt und dann gewartet."
Es dauert nicht lange, bis jemand ihm "Hast du noch ‘ne Karte?" zuraunt. "Ja, aber die ist für meinen Freund. Ich weiß nicht, ob der noch kommt". Frank berichtet, wie es weiter ging: "‘Würdest du denn die verkaufen?’ - ‘Wenn er nicht kommt, könnte ich dir die machen. Aber ich muss noch warten.’ Und dann habe ich den die ganze Zeit beobachtet, weil wegen Staatssicherheit und alles, die waren da auch unterwegs. Und dann habe ich das für gut befunden, den Menschen. Und dann kam er nach einer halben Stunde wieder und dann habe ich sie ihm verkauft." Und so geht es munter weiter.
"Die letzten Karten waren dann Wessis gewesen, und das war aber Westgeld dann." Hinter der Tribüne entdeckt Frank einen Würstchenstand. "Und da stand Ketchup-Wurst oder irgendwas, für unsere Gäste. Für unsere Gäste. Das haben sie so ein bisschen unterstrichen. Also folgerichtig: nur für Westgeld!"
Der TV-Kommentator: "... bisher erst eine wirklich gute Möglichkeit .... für die Gastgeber ... für die Nummer 6, für Vorstopper Mewes." Das Westfernsehen überträgt die Partie live. Die Stasi schirmt den Gästefanblock ab. Der TV-Kommentator: "...Steinbach ist das hier, einer der Mittelfeldspieler..."
Frank Voigt berichtet weiter: "Dann bin ich kurz vor der Pause herumgelaufen bis zu dem Würstchenstand." TV-Kommentator: "...und der Halbzeitpfiff ... 2:0 führt der FC Magdeburg... bleibt zu hoffen, dass die Borussen ..."
Frank erzählt von seinem Erlebnissen: "Gladbach-Fans in ihren T-Shirts kamen dann die Treppe runter; und da habe ich mich eingereiht. Ich konnte meine Wurst ja in Westgeld bezahlen. Und dann sind die wieder hoch, wurden aber gefragt: ‘Schmeckt die Wurst?’ Oben diese Jungschen von der Staatssicherheit, die wollten jetzt den Dialekt hören, dass es auch wirklich Gladbach-Fans sind. Und da habe ich schnell abgebissen und dann haben sie auch die gleiche Frage gestellt, Sicherheitsfrage: ‘Schmeckt denn die Wurst?’ Und ich dann ‘.... Hmhmhm...’ Und dann war ich drin."
Der TV-Kommentator: "... Mill, der heute eine enttäuschende Leistung bot, hat in Mewes einen robusten Gegenspieler ..."
Dazu Frank: "Und dann habe ich mich nach einer Viertelstunde umgeschaut: alles ruhig und denn bin ich mit meinem Nachbarn ins Gespräch gekommen, dass ich Ossi bin, Berliner sogar.
Der TV-Kommentator: "... und das 2:1. Ringels der Torschütze..."
Und Frank: "Und dann haben wir uns unterhalten. Da haben wir so ein bisschen erzählt, und da sind wir auf das Fernschach gekommen: ‘Spielst du Schach?’ Was man so fragt. So, und da haben wir Fernschach gespielt über die Jahre. Und dann wurde das Geschehen abgebrochen, ohne einen Brief, ohne ein Telefonat von seiner Seite. Ich habe dann noch zweimal geschrieben. Aber es kam dann keine Antwort mehr zurück."

Schachzüge in der Stasi-Akte

Für Frank ist die Bundesrepublik bis zur Wende unerreichbares Terrain. Dann kommt die Einladung nach Mönchengladbach. Sein Fernschachpartner ist im Bonner Außenministerium beschäftigt. Eines Tages wurde er nach Ostkontakten gefragt. "Und da haben sie gesagt, er muss das unterbinden, weil die Briefe werden alle fotografiert für die Staatssicherheit. Und dem war dann auch so gewesen. Als ich meine Akten dann aufgemacht habe ...", berichtet Frank, während er in der Akte über ihn blättert.
Das Wichtigste hat Frank fotokopieren lassen. "Ich hatte viele Seiten." Der Vater war Chauffeur, die Stiefmutter Sekretärin. Beide im Staatsdienst. "Als ich dann in die Normannenstraße gegangen bin, da habe ich es aufgeklappt und dann – bei einigen Schriftstücken sind mir dann so ein bisschen die Tränen gekommen. Soweit konnte man nicht denken, was sie alles wissen. Ist halt so gewesen."
Säuberlich archiviert vom Minsterium für Staatssicherheit der DDR, der Briefwechsel mit dem Fernschachpartner vom westdeutschen Außenministerium. "Ich meine, die Züge werden sie danach gespielt haben. Alles schön mit Handschuhen angezogen, damit keine Fingerabdrücke auf den Briefen entstehen. Und dann wird der Brief gelesen. Und wenn da solche Züge drinnen sind, kann ich mir vorstellen, dass sie dann ein Schachbrett aufgebaut haben um zu schauen, ob das Züge sind oder verdeckte Botschaften." Nach der Wende verliert sich der Kontakt. Über Fernschach hinaus gibt es wenig Gemeinsamkeiten.

Der Fernschachweltmeister aus der DDR

Unzählige Briefe aus dem westlichen Ausland waren adressiert an Fritz Baumbach, den Fernschachweltmeister aus der DDR. "Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass da was überwacht wurde, obwohl wir auch natürlich mit Westlern Text immer mit drauf hatten", sagt Fritz Baumbach. "Wahrscheinlich haben sie gedacht: Leute, die Fernschach spielen, sind ohnehin verrückt, die sind ungefährlich." Baumbach ist mittlerweile 83 Jahre alt, wohnt in Berlin und spielt noch immer Fernschach, jetzt allerdings am Computer.
"Ich gehe mal hier rein und werde mal eine aktuelle Partie aufrufen, in der ich gerade ganz schlecht stehe"; sagt er. "So, das ist die Stellung, wo ich jetzt am Zug bin. Hier sind meine kleinen Helfer." Mit der Maus zeigt er auf die Icons auf dem Monitor. Houdini und Stockfish sind Schach-Engines. "So, nun mache ich den Stockfish an. Der analysiert jetzt richtig schnell. Das geht auch ruckzuck hier. Und die Partie ist in der Tat auch für mich verloren. Er hat auch einen Springer, ich habe keinen. Also, die habe ich... oder er hat gut gespielt, muss ich einfach mal sagen."
Baumbach spielt mehrere Partien parallel. Gegner findet er auf Fernschachservern, zum Beispiel dem des Deutschen Fernschachbundes. Er sagt:"Man loggt sich ein und guckt, ob der Gegner gezogen hat. Und wenn ja, hat man dann drei Tage Zeit, je nachdem, manche haben auch fünf Tage, um seinen Antwortzug abzuschicken. Es schleicht sich bei dieser Computerunterstützung ein, dass man nach der Partie, selbst wenn man sie gewonnen hat, nicht mehr so die richtige Freude empfindet, weil man nicht weiß: was hat man eigentlich selber geleistet? und was hat die Blechkiste geleistet?"

Nächtelang Schachliteratur gewälzt

Früher wälzte Baumbach nächtelang Schachliteratur und hoffte, der Gegner würde seine Taktik nicht durchschauen. "Und dann hat man gewartet, vierzehn Tage, bis der Zug kam. Und ich weiß noch, einmal, wie ich dann am Briefkasten war und durch die kleinen Ritzen schon dessen Schrift sah. Und das ist ein spannender Moment. Dann macht man den Briefkasten auf und guckt vorsichtig drauf: Ah, er hat es nicht gesehen. Du wirst die Partie gewinnen."
Fernschachspieler sind geduldige Tüftler, können ihr Wissen, wenn sie dem Gegner gegenübersitzen, aber oft nicht aufs Brett bringen. Baumbach war eine Ausnahme."Ich hatte mit 35 Jahren meine beste Zeit, war DDR-Meister und habe an der Olympiade mitgespielt. Die beste Fernschachzeit kam mit 50."
Kurioser Höhepunkt seiner Karriere war die zehnte Fernschacholympiade. Sie begann 1988 und als sie sieben Jahre später endete, existierte der Staat, für den die Mannschaft angetreten war, schon einige Jahre nicht mehr.Die letzte DDR-Medaille rückte Fernschach kurzzeitig ins Rampenlicht. Er sagt: "Und da war also gewaltiger Andrang von Leuten, die das miterleben wollten. In Magdeburg hat das stattgefunden. Das haben wir extra noch organisiert. Also, es war ganz großer Bahnhof bei dieser Bronzemedaille. Dann drei Jahre später haben wir Gold gewonnen mit einer gemeinsamen Mannschaft, und da war nur der Reporter von der 'Magdeburger Volksstimme' da."
Ob per Brief oder am Bildschirm. Fernschach ist zeitaufwendig. Baumbach hat Familie und arbeitet immer noch als Patentanwalt. Heute spielt im Grunde Computer gegen Computer, und wer keinen Bedienungsfehler macht, hat gute Chancen auf ein Remis. "Und viele prophezeien auch schon, dass das Schachspiel sich dem Ende nähert, den Tod letztlich erleiden wird durch den Computer. Fernschach sowieso, da bin ich auch der Meinung: Langfristig hat das keine Chance. Wenn bloß noch alles Remis wird, das ist ja auch langweilig. Das spielen die Leute auch nicht mehr, haben keine Lust mehr dazu."

Evolution zum Blitzfernschach

Warum nicht einfach die Bedenkzeit verkürzen? Blitzfernschach. Das Internet macht es möglich. Es ist Dienstagnachmittag kurz vor fünf. Die Fenster des Büros in Hamburg sind abgedunkelt. Jan Gustafsson streift ein Sakko über und nimmt hinter dem Schreibtisch Platz. Kamera und Scheinwerfer sind auf ihn gerichtet, der Kaffebecher gefüllt. "Lampenfieber hält sich in Grenzen, wobei die Shows natürlich schlecht werden können, wenn ich nichts zu sagen habe. Häufig bin ich zu müde", sagt Gustafsson. Er ist 39 Jahre alt, mehrfacher Blitzschachmeister und Mitbegründer der Webseite Chess24. "Man kann spielen, man kann sich Lehrvideos angucken, man kann die großen Turniere verfolgen, wir haben viele Live-Kommentare zu allen großen Turnieren, die so stattfinden in der Schachwelt. Wir hoffen, dass es für alle Schachinteressierten etwas anzubieten hat.
Jetzt geht es gleich los: "So, Sportfreunde, Hallo und Herzlich Willkommen zu einer neuen, lang erwarteten Sendung Geschwätzblitz, die unglaublich populäre Show, in der Chess24-Premium User die große Ehre haben, gegen einen Großmeister, ich würde sagen in den besten Jahren, anzutreten." Auf dem Bildschirm prüft Jan die Anmeldungen. "Ihr kennt die Regeln. Fordert mich heraus zu einer Party, fünf Minuten Schach. Und solltet ihr Chess24 Premium User sein, haben wir vielleicht gleich die große Ehre gegeneinander zu spielen."
Die Wahl fällt auf ‘Topschachspieler’, der jetzt irgendwo da draußen am Rechner sitzt. "Bist du da, Topschachspieler? Ist ein ambitionierter Name. Also, sich selber Topschachspieler zu nennen, ich glaube, selbst mit meinem gigantomanischen Ego würde ich das, glaube ich, nicht machen." Schlagfertiger Humor, ohne überheblich zu sein. Gustafsson kommt bei Schachfans gut an. Er war zweimal deutscher Jugendmeister, dann in der Sportfördergruppe der Bundeswehr, spielt in mehreren europäischen Ligen und ist immer noch Nummer zwei der deutschen Rangliste.

Suchtgefahr beim Blitzschach

"Es gibt, glaube ich, viele Leute, die vom Schach leben, aber nicht nur als Spieler, sondern die Training geben, das ist sehr populär, oder schreiben, die also im Umfeld tätig sind. So als reine Spieler – ist schwer zu sagen – ich würde sagen, so fünfzig Leute auf der Welt können gut davon leben, die Top Ten sehr gut und darunter, ja, wird's schwierig. Was heißt schwierig?" Gustafsson hat seinen Gegnern Tausende Stunden Schach voraus, erfasst Situationen mit einem Blick und muss nicht grübeln.
Er sagt: "Nicht ständig, aber es kommt schon vor. Ich habe auch ein Handicap, weil ich nebenbei noch Blödsinn rede und mich nicht voll auf Schach konzentriere. Aber es gibt auch starke Nutzer natürlich. Ach, mir fällt wieder nichts ein. Das ist frustrierend, wenn man so unkreativ ist wie ich." Es macht Spaß, dem Großmeister beim Denken zuzuhören. "Springer e4. Da kommt er schon wieder angehoppelt. Ach komm, gib her den Lachs."
Der Gegner hat gehörig Stress. "20 Sekunden, Pantherchess. Jetzt nicht nervös werden in so einer Situation. Noch ist alles drin. Du musst nur die Ruhe bewahren. Und Pantherchess gibt sich geschlagen. Gute Partie von Pantherchess." Nach anderthalb Stunden tut der Kaffee seine Wirkung. "Ich muss echt", sagt Gustafsson. "Bitte verlier schnell auf Zeit, denn ich muss diese Partie wegen eines akuten Bedürfnisses schnell beenden. So, wie kann ich hier möglichst viele Verwirrung stiften? Ich fühle mich ein bisschen schlecht jetzt. Aber nicht schlecht genug, um diese Show nicht a tempo zu beenden und meinen Bedürfnissen nachzukommen. Bis zum nächsten Mal. Es hat mir großen Spaß gemacht. Tschüss."
Schachautor Arno Nickel sagt: "Blitzschach ist heute eine sehr verbreitete Form des Internetschachs. Das hat sogar teilweise Suchtcharakter. Manche Leute, die kommen da nicht weg, die sind so im Spielrausch: ‘Mein Gott, jetzt sitze ich hier schon drei Stunden. Ich wollte doch eigentlich nur eine Stunde spielen.’" Blitzschach-Spieler schulen ihr Reaktionsvermögen, meint Nickel. "Es könnte auch sein, dass sie teilweise auch zu einer gewissen Oberflächlichkeit neigen durch dieses ständige Blitzschach und dass sie vielleicht auch zu sehr aufs Ergebnis orientiert sind und gar nicht mehr auf den kreativen Prozess."

"Da dauerte ein Zug einen Monat"

Nickel betreibt den Schachladen "Lasker’s" in Berlin und ist Mitglied der deutschen Fernschachnationalmannschaft. Schach erfordert Geduld, sagt er. "Ich habe als Schüler angefangen zu spielen, weil ich auf einem Internat war, wo ich keine Gegner hatte, und wollte mich verbessern im Schach. Und spielte also mein erstes internationales Turnier gegen verschiedene Spieler aus Europa und einer war aus Sibirien. Da dauerte ein Zug einen Monat. Da wusste ich schon gar nicht mehr, wenn die Antwort kam, was ich überhaupt selbst gespielt hatte." Irgendwann in diesem Jahr wird Nickel mit der Mannschaft Weltmeister werden, denn sie sind vom ersten Platz nicht mehr zu verdrängen.
Er vermisst Kreativität und Spontanität, die Fernschach früher auszeichneten. "Da war man auch total überrascht, wenn man die Antwort vom Gegner bekommen hat. Heute weiß man das meistens schon, aufgrund der Computervorhersagen, was überhaupt zu erwarten ist." In einer Partie riet der Computer dazu, die Damen nicht zu tauschen, um die Stellung komplexer zu halten. "Aber ich habe dann in der Analyse festgestellt: es geht nicht weiter, es ist ein endloses Herumgeziehe. Und ich habe dann gegen die Computerempfehlung einfach mal das Turmendspiel simuliert und zu meiner Überraschung in sehr aufwendiger Analyse einen Gewinnweg gefunden."
In Berlin begann das organisierte Schachleben 1829 mit einer Aufforderung aus Breslau zum Städtewettkampf. In seinem Buch "Julius Mendheim. Auf den Spuren eines genialen Schachmeisters" lässt Nickel Partien des 19. Jahrhunderts Revue passieren. "Die Züge waren teilweise Stadtgespräch. Da hat man sich in der Kantine drüber unterhalten: was kommt denn da aus Breslau? Sind die verrückt geworden? Die opfern einen Springer! Das waren spannende Schachzeiten." Seit damals sind nicht nur Millionen Partien gespielt, sondern auch archiviert worden. Das Schachspiel hat sich weiter entwickelt.
"Sie müssen sich vorstellen, dass es Datenbanken gibt mit ungefähr sechseinhalb Millionen Partien, die überhaupt erfasst wurden im Schach. Und im Fernschach sind es immerhin auch inzwischen schon an die 800.000 Partien. Und da findet man schon, wenn man sich gut in einer Datenbank orientieren kann, entsprechendes Material, um zu sehen, wie aussichtsreich eine Variante ist."

Fernschach gegen einen Toten

Wolfgang Eisenbeiss ist 87 Jahre alt, wohnt in St. Gallen und hat sich für das Interview extra Internettelefonie installieren lassen. 1985 hat er die wohl ungewöhnlichste Fernschachpartie organisiert, zwischen dem russischen Großmeister Viktor Kortschnoi und dem ungarischen Großmeister Geza Maroczy, der bereits 34 Jahre tot war. "Ich hatte schon seit längerer Zeit die Idee, einen Beweis erbringen zu wollen hinsichtlich eines Weiterlebens nach dem Tode. Ich befasse mich spirituell mit diesen Fragen, und es hat mich einfach gestört, dass selbst innerhalb der Theologie da Meinungen vertreten sind: ‘Das Leben geht nicht weiter. Es gibt kein Jenseits.’ Das ist ja furchtbar, nicht wahr, und ich möchte da Klarheit reinbringen."
Doch was würde Zweifler überzeugen? Eisenbeiss bittet ein Medium, das die Gabe hat, Botschaften aus dem Jenseits empfangen und dorthin senden zu können, Kontakt zu verstorbenen Schachgroßmeistern aufzunehmen. Die Gewünschten winken ab. "Aber es hat sich ein Geza Maroczy gemeldet, Schachspieler, und einer der fünf besten Spieler der Welt um 1900 herum. Der hat von dem Wind bekommen drüben und gesagt: ‘Ich möchte mich da gerne einschalten und diesen Beweis erbringen.’" Um ganz sicher zu gehen, muss Eisenbeiss dem Jenseitigen auf den Zahn fühlen. Er findet eine außergewöhnliche Schachpartie. "Nämlich San Remo 1930 im Turnier dort gegen einen Romi, R-O-M-I. Und da stand er praktisch total auf Verlust. Und da hat der Maroczy aber genial noch einen Ausweg gefunden. Und so ein Ereignis vergisst ein Schachspieler nie, ob er nun hier lebt oder in einer anderen Welt jemals leben sollte. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, von eigenen Partien: wenn dir sowas glückt, das vergisst du nie."
Robert Rollans, das Medium, das vom Schachspiel nur so viel versteht, dass es die Figuren aufstellen und setzen kann, übermittelt die Frage ins Jenseits: "‘Sagt dir der Name Romi etwas?’ Da hätten ja alle Glocken läuten müssen. Und da sagt er: ‘Nein, kenne ich nicht. Wer ist das? Aber falls du meinst, ob ich mit einem Romih gespielt habe, der am Schluss noch ein h hat im Namen. Ja, dann kann ich dir eine ganz hochinteressante Geschichte erzählen.’"

Suche in Bibliotheken

Massimo Romi, italienischer Schachspieler kroatischer Herkunft, wurde in der Literatur stets unter seinem italienischen Namen geführt. Sollte er 1930 tatsächlich noch unter seinem alten Namen angetreten sein? Aufschluss kann nur das Turnierbuch gegen. Eisenbeiss lässt in allen Bibliotheken suchen. "Es ist mehr als ein Monat ins Land gegangen, da habe ich aus Holland von einer königlichen Bibliothek eine Zuschrift bekommen und dieses Turnierbuch. Ha, da habe ich natürlich mit erhobenem Herzen das aufgemacht, war ganz aufgeregt. Und da ist ein Foto drinnen, wo alle diese Teilnehmer abgebildet sind, und links außen steht da der Romih, mit einem 'h' geschrieben. Also, der Jenseitige hat absolut recht gehabt."
Doch wer soll nun der Gegner sein? "Ich muss natürlich, um die Sache etwas griffig zu machen, einen guten Spieler nehmen. Und da habe ich den Viktor Kortschnoi gefragt: ‘Würden Sie da mitspielen?’" Der zweimalige Vize-Weltmeister Viktor Kortschnoi, in den siebziger Jahren aus der Sowjetunion emigriert, tritt seitdem für die Schweiz an. "Ich hab natürlich gedacht, die Partie sei etwa in einem Monat fertig. Nein, das ging sieben Jahre und acht Monate, die Partie. Die Züge sind einfach ganz langsam gekommen.
Und zeitweise, nach dem 28. Zug, hat Kortschnoi dann geschrieben: ‘Ich glaube nicht, dass ich die Partie gewinnen kann.’ Also, er hat mit einem Remis gerechnet. Aber er hat es dann doch noch hingekriegt und hat halt die Partie eben gewinnen können." Vor allem in der Eröffnungsphase offenbart Maroczy Schwächen. "Er spielt altmodisch", findet Kortschnoi. Der früher elegante Angriffszug mit der Dame wirkt heute wie ein romantischer Husarenritt. Schwarz kennt eine Antwort, die den Jenseitigen in Verlegenheit bringt. Dass er es dennoch ins Endspiel schafft, verlangt Hochachtung.
"War eine gute Partie, die überall einsehbar ist", sagt Eisenbeiss. Bemerkenswert ist ein Satz, dessen Bedeutung erst Jahre später klar wird. "Da hat schon in der ersten Sitzung der Jenseitige durchgegeben: ‘Und du, lieber Rollans’, – das ist das Medium –, ‘wirst diese Partie bis zum Ende begleiten.’ Und wenige Tage nach dem Ende der Partie ist das Medium gestorben. Schön! Verstehst du? Es sieht fast so aus. als hätte man sein Leben etwas verlängert. Es heißt ja, es kann dir in deinem Leben etwas dazu gegeben werden, wenn nämlich du noch etwas leisten kannst, dass die geistige Welt dir dann anrechnen kann."

Das Feature ist eine Wiederholung vom 10. März 2019.

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