"Die Opposition sollte nicht den wehleidigen Märtyrer geben“
Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse wirft der Opposition im Interview mit Deutschlandradio Kultur Märtyrergebaren vor. Dass sie so klein sei, sei nicht Schuld von Union oder SPD, sondern die des Wählers. Zugleich spricht er sich dafür aus, die Rechte der Opposition im Bundestag "in einer verbindlichen Form" zu definieren.
Jörg Degenhardt: Nie mehr Gurkentruppe – das schwarz-gelbe Gezänk aus vergangenen Regierungstagen, das wollten Union und SPD in ihrer Koalition unbedingt vermeiden. Bisher ist ihnen das zwar gelungen, gleichwohl hält nach einer aktuellen Umfrage fast jeder zweite Bundesbürger den Start von Schwarz-Rot für misslungen. Immerhin ist da noch die Hälfte, die da sagt, ja, war in Ordnung, oder die keine Meinung hat. In den ersten Wochen der neuen Regierung hatten Union und SPD bekanntlich Streit wegen der Zuwanderungspolitik, Meinungsverschiedenheiten gab es über den Mindestlohn, die Finanzierung der Rentenpläne und die Vorratsdatenspeicherung. Und so sehen es die Handelnden selbst: Volker Kauder, Fraktionschef von CDU/CSU, und Thomas Oppermann, der der SPD-Bundestagsfraktion vorsteht.
O-Ton Kauder: Also ich habe ja klare und deutliche Wort gefunden, dass ich mir das anders vorgestellt hätte und anders gewünscht hätte, und dass die Menschen von einer Regierung erwarten, dass sie die gemeinsamen Ziele, die formuliert sind im Koalitionsvertrag, auch angeht. Es wird jetzt eine Regierungsklausur geben, wo man den Fahrplan für die nächsten Monate beschließt.
O-Ton Oppermann: Wir haben eigentlich noch gar nicht richtig mit der Arbeit begonnen, das geht jetzt gerade erst los. Wir sind keine Wunschkoalition, und die Menschen erwarten aber von uns, dass wir diesen Koalitionsvertrag, der ja zum Beispiel eine riesige Mehrheit bei den SPD-Mitgliedern gefunden hat, dass wir den jetzt Punkt für Punkt umsetzen. Reden ist gut, aber Handeln ist besser.
Degenhardt: Handeln ist besser, sagt Thomas Oppermann von der SPD-Bundestagsfraktion. Trotzdem wollen wir reden. Wolfgang Thierse kennt als ehemaliger Präsident und Vizepräsident des Deutschen Bundestages eigentlich alle möglichen Koalitionen von Schwarz-Rot bis Rot-Grün, und als kritischer Beobachter hat er natürlich auch Schwarz-Gelb erlebt. Guten Morgen, Herr Thierse!
Wolfgang Thierse: Guten Morgen!
Degenhardt: Können Sie den Unmut der Zeitgenossen nachvollziehen, die nach so kurzer Zeit schon am mosern sind, wenn es um die Arbeit der Koalition geht?
"Höchst unterschiedliche, in mancher Hinsicht auch gegensätzliche Parteien"
Thierse: Worüber mosern die Deutschen nicht, die Bevölkerung? Fragen Sie mal nach allen möglichen anderen Themen – die Unzufriedenheit ist groß. Aber verwunderlich ist es nicht, wenn man bedenkt, dass durch die Wahlen, also die Weisheit des Wahlvolks, und ein bisschen auch durch die Grünen, diese Große Koalition zustande gekommen ist, also die Koalition von zwei Parteien, die in der Geschichte der Bundesrepublik immer die natürlichen Hauptgegner, die Hauptkonkurrenten füreinander waren, und die sich jetzt zusammenraufen mussten. Deswegen haben die Koalitionsverhandlungen so lange gedauert. Und natürlich bleibt auch, dass es höchst unterschiedliche, in mancher Hinsicht auch gegensätzliche Parteien sind. Das muss sich bemerkbar machen, also soll man sich nicht darüber wundern.
Degenhardt: Haben Sie sich denn schon ein Urteil gebildet über den Start der Koalition?
Thierse: Er ist nicht so schlecht wie bei Schwarz-Gelb. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass nicht alle möglichen Minister als erstes in Interviews ihre Vorschläge machen sollen, dass sie im Kabinett meinetwegen die Fetzen fliegen lassen, aber nicht ganz schnell in Interviews unterschiedliche Äußerungen von sich geben, die jeweils dazu führen, dass der Koalitionspartner sich aufregt.
Degenhardt: Herr Thierse, Sie haben über so viele Jahre im Bundestag gesessen, verfügen über einen großen Erfahrungsschatz. Haben Sie jemals eine Koalition erlebt, die mit Bravour in die neue Legislaturperiode gestartet wäre?
Thierse: Ja, man vergisst das ja immer. Also, auch ich bin ein normal vergesslicher Mensch, aber wenn ich mich richtig erinnere, gab es immer eine Zeit des Zusammenraufens bei Koalitionen. Auch bei Rot-Grün, die 1998 nach einer langen schwarz-gelben Regierungsphase begann, voller Euphorie, ein großes Projekt, und trotzdem gab es auch da Anlaufschwierigkeiten, und am Ende der ersten rot-grünen Legislaturperiode waren beide Parteien nicht recht zufrieden mit sich.
Degenhardt: Wir erinnern uns gut an den Auszug von Oskar Lafontaine seinerzeit, der das Amt des Bundesfinanzministers von heute auf morgen abgegeben hat und sozusagen die Flucht ergriffen hat. Lange ist es her. Wie kann es denn Ihre Partei, die SPD, schaffen, aus dieser Koalition nicht am Ende nach vier Jahren als Verlierer hervorzugehen. Muss sie dazu ständig Krach schlagen und sich mit Vorschlägen gewissermaßen als Opposition in der Regierung profilieren, wie das jetzt zum Beispiel mit Frau Schwesig passiert ist?
"Lebensarbeitszeit vernünftiger verteilen"
Thierse: Frau Schwesig hat in einem Interview sozusagen eine Idee entwickelt, von der sofort klar war, auch im Kontext dieses Interviews, dass es eine langfristige Vorstellung ist. Darüber wird in dieser Gesellschaft ja auch vernünftigerweise geredet, dass die Lebensarbeitszeit im Grunde falsch verteilt ist, dass junge Leute, also 30-Jährige, 35-Jährige alles gleichzeitig machen müssen – Karriere, Familiengründung und so weiter. Also, dass man darüber nachdenken muss, wie man Lebensarbeitszeit vernünftiger verteilt, wenn wir denn überhaupt eine kinderfreundliche Gesellschaft sein wollen. Das, glaube ich, steht einer Familienministerin gut an. Aber die Frage war ja anders, noch grundsätzlicher. Natürlich gilt es für beide Parteien, aber für die SPD in besonderer Weise, die ja noch das Trauma von der letzten Großen Koalition mit sich schleppt, also dem verheerenden Wahlergebnis dann im Anschluss. Es geht darum, dass beide in einer großen Koalition ihre Profile zeigen, wahren, schärfen können. Und ich bin sicher, dass auch in den kommenden dreieinhalb Jahren dieser Koalition es immer wieder Konflikte gibt, weil eben diese beiden großen Volksparteien ja auch hinreichend unterschiedlich und gegensätzlich sind. Und auch die SPD, auf andere Weise die CDU, und erst recht die CSU ein Interesse daran haben, dass sie in dieser großen Koalition auch unter Merkel sichtbar, kenntlich und damit dann auch wählbar bleiben.
Degenhardt: Sie haben Frau Merkel angesprochen. Die beiden Parteien streiten sich in einem – ja, man kann sagen, noch normalen Stadium. Das Publikum klatscht wenig Beifall, aber ungerührt steht die Kanzlerin da. Die Umfragen sprechen eindeutig für sie. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass das alles die Kanzlerin, ihr Ansehen, nicht tangiert?
Thierse: Das ist ja eben die widersprüchliche Gemengelage. Einerseits wünschen sich die Wähler, dass Parteien, die sie wählen wollen und sollen, kenntlich bleiben, unterschiedlich sind, Kanten haben. Und andererseits ist eine Politikerin hoch beliebt, die genau das Gegenteil symbolisiert. Die nicht scharfkantig ist, die nicht provoziert, die nicht führt in der Weise, dass sie sagt, jetzt wird das so und so gemacht, die nicht öffentlich Konflikte eingeht. Das ist eine widersprüchliche Gefühlslage der Deutschen, aber die ist nicht ganz neu. Das war immer schon so, dass einerseits ein riesiges Harmoniebedürfnis da ist, und andererseits der ständige Vorwurf, die seien ja alle gleich, die unterschieden sich ja gar nicht mehr voneinander.
Degenhardt: Große Koalition, winzige Opposition. Die Grünen und die Linken verfügen zusammen nur über 20 Prozent der Sitze im Bundestag. Für die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und andere Rechte ist aber ein Quorum von 25 Prozent notwendig. Also braucht die Opposition mehr Rechte, wenn sie den Regierenden genauer auf die Finger schauen soll. Müsste etwa die Geschäftsordnung geändert werden? Was sagt der ehemalige Präsident beziehungsweise der Vizepräsident des Bundestages dazu?
"Die Redezeit der Opposition wird deutlich erhöht"
Thierse: Zunächst mal finde ich es ein bisschen komisch, dass die Opposition sich jetzt als Märtyrer aufführt und sich als die verfolgte Unschuld gibt. Dass sie so klein ist, ist nicht Schuld von CDU/CSU und SPD, sondern Schuld der Wähler, und das sollte man also nicht ursächlich der Großen Koalition vorwerfen, wie es jetzt gelegentlich erscheint. Wenn ich den Märtyrer Gregor Gysi höre, der immerfort mit moralisch erregtem Zeigefinger auf die beiden großen Parteien zeigt. Nein – das beiseite gelassen –, ich halte es für vernünftig, dass in einer verbindlichen Form die Regelungen, die Rechte der Opposition definiert werden. Ich glaube auch, dass das inhaltlich unstrittig ist, das Recht der Opposition, auch wenn sie kleiner ist als bisher, bei den 25 Prozent, Untersuchungsausschüsse, Enquete-Kommissionen et cetera einzusetzen. Man hat ja auch im Grunde schon fast vereinbart, dass die Redezeit der Opposition deutlich erhöht wird gegenüber dem, was nach dem Wahlergebnis ihr zustünde – also ich glaube, da sollte die Opposition nicht den wehleidigen Märtyrer geben. Da müsste sie schließlich den Wählern vorwerfen, dass sie Schuld daran seien.
Degenhardt: Sie sind, Herr Thierse, nach vielen, vielen Jahren im Bundestag nicht mehr dabei, ich sagte es, nicht mehr angetreten zur letzten Wahl. Spüren Sie eigentlich schon so etwas wie Entzugserscheinungen?
Thierse: Ach, es hält sich in Grenzen. Ich war 24 Jahre Abgeordneter. Ich habe, wie Sie schon einleitend gesagt haben, alles erlebt – Koalition, Regierungszeit, Oppositionszeiten. Ich sehe das jetzt aus einer gewissen Halbdistanz und bin nicht darüber traurig, dass ich jeden Alltagsärger nun mitmachen muss und mich auch echauffieren muss – das ist eine ganz gute Situation. Man kann mit einer großen Erfahrung auf das blicken, was jetzt passiert, weil ich im Grunde alles schon mal erlebt habe.
Degenhardt: Sagt Wolfgang Thierse, SPD, ehemals Präsident und Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Über den Start von Schwarz-Rot sprachen wir, und die Mini-Opposition, die vielleicht mehr Rechte bekommen sollte, um ihre Aufgaben angemessen wahrnehmen zu können. Herr Thierse, vielen Dank für das Gespräch!
Thierse: Auf Wiederhören!
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