Lothar Rochau mit Ines und Peter Godazgar: "Marathon mit Mauern. Mein deutsch-deutsches Leben."
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2021
280 Seiten, 18 Euro
Ex-Jugenddiakon Lothar Rochau
Lothar Rochau galt in der DDR als Staatsfeind, denn seine Jugendarbeit war dem SED-Regime ein Dorn im Auge. © imago / VIADATA
"Ich wollte mit dem Leben in der Lüge aufräumen"
38:16 Minuten
Lothar Rochau hat immer für eine bessere DDR gekämpft. Dafür kam er ins Gefängnis. 1983 kaufte ihn der Westen frei, doch der engagierte Diakon empfand es als Niederlage. Als die Mauer fiel, kehrte er als einer der Ersten in den Osten zurück.
Der November ist für Lothar Rochau ein besonderer Monat. Wenn dann an den Fall der Mauer gedacht wird, lässt auch der gebürtige Thüringer sein Leben Revue passieren. Damals, als er von der Öffnung der Grenzen erfuhr, lässt er in Darmstadt, wo er mit seiner Familie seit sechs Jahren lebt, alles stehen und liegen.
Gleich am 10. November 1989 kehrt er zurück nach Halle an der Saale, wo er seit Ende der 1970er-Jahre als Jugenddiakon der evangelischen Kirche gearbeitet hatte. Für seine Familie, die er damals nach seiner erzwungenen Ausreise aus der DDR in den Westen nachholen konnte, war das nicht nachvollziehbar.
"Es war ja alles in einer totalen Umbruchsituation in der DDR, es war völlig unklar, wo das ganze Schiff hinsteuert. Ich wollte unbedingt den Neuaufbau, den Wiederaufbau mitgestalten", erzählt Rochau.
Im "Roten Ochsen"
Seine "offene Arbeit" mit Jugendlichen in Halle-Neustadt war dem SED-Regime ein Dorn im Aug. Langhaarige junge Leute, die trampen und Rockmusik hören, Menschenrechtsdebatten führen oder sich für Frieden und Umwelt engagieren. Es dauert nicht lange und Rochau wird zum Staatsfeind erklärt.
"Ich bin zum 1. März 1983 entlassen worden – von meiner eigenen Kirche. Das ist bis heute etwas, was für mich nicht aufgearbeitet worden ist", sagt Rochau. "Mit dieser Entlassung war ich natürlich vogelfrei. Die Rolle, die die Kirchenleitung einnahm, war mehr als zwiespältig. Es waren in der Kirchenleitung auch drei hochkarätige IMs. An meinem Glauben hat es mich nicht zweifeln lassen, wohl aber an der Kirche."
Im Sommer 1983 wird Rochau verhaftet und landet im Gefängnis "Roter Ochse". Die Zelle teilt der 31-Jährige mit einem Spitzel. Sein Verteidiger ist kein geringerer als Wolfgang Schnur, Kirchenanwalt, der jahrzehntelang auch für die Stasi aktiv war. Er rät ihm zur Ausreise – für die Schnur selbst später Geld kassiert.
"Er hat immer wieder deutlich gemacht, dass, wenn ich nicht in den Westen gehe, viele junge Leute und viele Familien, die lange auf die Ausreise warten, nicht ausreisen können. Er war ein Meister des Differenzierungs- und Zersetzungsprozesses der Staatssicherheit, er war auch ein Meisterspion der Stasi und hat auch immer wieder gegenüber der evangelischen Kirche diese doppelte Rolle gespielt."
Aber damals durchschaute Rochau das perfide Spiel des Anwalts nicht. Er vertraut ihm.
Aus dem Gefängnis in die Freiheit
Am 1. Dezember 1983 sitzt Rochau in einem Bus Richtung Westen. Das fühlt sich für ihn nicht gut an.
"Ich bin aus dem Gefängnis heraus in die Freiheit gekommen und kam mir ein Stück wie ein Verlierer vor", erzählt Rochau. "Ich hatte immer dafür gekämpft, dass dieser Sozialismus eine Chance hat, für einen Sozialismus, der die bürgerlichen Freiheitsrechte ernst nimmt. Dafür wollte ich einstehen, ich wollte mit dem Leben in der Lüge aufräumen."
Der Westen empfängt ihn nicht mit offenen Armen. Erst folgen Verhöre unter anderem vom Verfassungsschutz. "Ich war irritiert", sagt Lothar Rochau. Dann dauert es, anders als versprochen, lange, bis er bei der evangelischen Kirche in Darmstadt Arbeit findet. "Die Kirche war sehr bürgerlich. Ich fragte mich: Wie kann denn in dieser reichen Kirche ein Jesus andocken?"
Es gelingt ihm, nicht nur seine Frau und seinen Sohn in den Westen zu holen, sondern noch mehr als 30 weitere Angehörige und Freunde. Er engagiert sich bei den Grünen, ist ehrenamtlich Seelsorger im Gefängnis – aber, sagt Lothar Rochau: "Ich bin nie so richtig angekommen."
Und so kehrt er, als er im November 1989 von der Öffnung der Grenze erfährt, sofort in seine alte Heimat zurück, allein. Seine bewegende Lebensgeschichte hat Rochau jetzt aufgeschrieben: "Marathon mit Mauern. Mein deutsch-deutsches Leben".