Der Ausstieg aus der Szene ist nie ganz abgeschlossen
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Er ist einer der bekanntesten deutschen Ex-Neonazis, weil er wie kaum ein anderer das Erlebte reflektiert. Neun Jahre nach seinem Ausstieg aus der rechten Szene konzentriert Christian Weißgerber seine Energie auf Aufklärungsarbeit und Prävention.
"Ich fand Nazis, sowohl die historischen als auch die Neonazis, wann immer ich auf die getroffen bin, faszinierend und spannend. Auch, dass man sich vor denen gefürchtet hat, fand ich spannend."
Er spricht bedächtig und überlegt. Seine leise Stimme und die zurückhaltende Art scheinen im Widerspruch zur körperlichen Präsenz und muskulösen Erscheinung. In seinen geweiteten Ohrläppchen stecken grüne Stöpsel, auf dem Kopf trägt er eine karierte Schiebermütze. Ein leicht alternativ daher kommender Grübler. Aber ein Ex-Nazi?
Ausbrechen, indem er andere Menschen erniedrigt
1989 in Eisenach geboren, wächst Christian Weißgerber in den Umbrüchen der Wendezeit auf und inmitten einer heimischen Situation, die er als "broken home" bezeichnet: Der alleinerziehende Vater ist gewalttätig, Schikanen gehören für ihn und seine ältere Schwester zum Alltag, Armut ebenfalls.
"Es ist durchaus so, dass ich in meiner Jugendzeit relativ früh Krisenerlebnisse, Ohnmachtsgefühle hatte. Eine Möglichkeit daraus auszubrechen war, indem ich andere Leute erniedrigt habe. Zum anderen aber auch, mich dadurch zu erheben, indem ich angefangen habe, mich mit Nazimusik zu beschäftigen, aber auch mit geschichtsrevisionistischen oder verschwörungserzählerischen Geschichten, die dazu geführt haben, dass ich dafür eine bestimmte Anerkennung erhalten habe."
Doch seine persönliche Situation habe nur einen geringen Anteil an seinem politischen Werdegang gehabt, sagt Christian Weißgerber. Viele seiner früheren Nazikameraden seien aus sehr heilen und wohlhabenden Elternhäusern gekommen. Und: Nein, er sei auch nicht in die Szene "hineingeraten". Vielmehr habe er diese Kontakte aktiv gesucht und Nazi werden wollen. Mit 14 habe er dabei an vieles anknüpfen können, was schon damals zur gesellschaftlichen Norm, zum Konsens gehört habe.
Geschichtsrevisionismus in der Begabtenklasse
"Ich hatte relativ früh das Gefühl, dass ich Dinge aufgreife, die in meinem Umfeld ganz normal waren. Sowohl daheim als auch in der Schule waren Alltagsrassismen ganz normal. Man ist zum Einkaufen auf den 'Fidschimarkt', das wurde ganz ohne jegliche Bösartigkeit einfach so erzählt. Es ist so gewesen, dass es in der Klasse ganz normal war, dass Nazirockmusik auf Klassenfahrten, aber auch sonst zu hören war. Das wurde einfach als spaßig, toll empfunden. Ich hab das dann einfach, so hab ich es empfunden, ernst genommen und diesen spaßigen Anfängen einfach einen bestimmten erzählerischen Rückhalt gegeben, mich in diese Richtung gebildet, könnte man sagen."
Zum Beispiel mithilfe geschichtsrevisionistischer Theorien, denen auch die Geschichtslehrer nichts entgegensetzen konnten, weil sie sich damit nicht auskannten. Er geht auf ein humanistisches Gymnasium in eine Begabtenklasse, mit fehlender Bildung oder Mangel an Intelligenz hat seine Geschichte nichts zu tun – das, so betont er, sei eh ein krudes Vorurteil.
"Damals gab es schon eine Vielfalt und Braunstufen innerhalb der Szene, das hat sich noch einmal verstärkt. Weil jetzt irgendwelche völkischen Nazis neben Parteibonzen, damals aus der NPD, den typischen Skinheads und damals auch den Autonomen Nationalisten, die sich einen klar linken Lifestyle aneignen wollten, gibt es heute eben Braunstufen, die ins Blaue überschlagen, das heißt Leute, die in der Jungen Alternative am Start sind."
In seiner aktiven Nazizeit war Christian Weißgerber unter anderem einer der Wortführer bei den Autonomen Nationalisten. Weißgerber war kein Mitläufer, sondern ein aktiv Gestaltender. Er kann deshalb auch einordnen und rhetorische Strategien rechter Bewegungen entlarven. Mithilfe solcher Strategien seien altbekannte rechte Ideologien inzwischen längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Aussteiger klärt über Rassismus und Nationalismus auf
Christian Weißgerber verschränkt die Arme. Auf seinem rechten Unterarm lodern rote Flammen. Die Zeichen aus seiner Nazizeit habe er inzwischen übertätowieren lassen, ganz komplett sei das noch nicht – so wie ein Ausstieg auch ein Prozess sei und nie ganz abgeschlossen: Persönliche Enttäuschungen und inhaltliche Differenzen, aber auch polizeiliche Repressalien führten für ihn zum Umdenken. Doch auch wenn er seit neun Jahren komplett aus der Szene raus ist, begleite ihn die Auseinandersetzung damit ständig:
"Wenn Menschen sich aus nationalistischen oder rassistischen Politiken zurück ziehen, dann merken sie irgendwann, dass alle Strukturen, die sie aufgebaut haben, alle Menschen, die sie verletzt haben oder denen sie irgendwelches organisatorische Know-How beigebracht haben, dass das alles fortlebt über ihre Abwesenheit in der Szene hinaus. Das muss deshalb bedeuten, Verantwortung zu übernehmen und in den Grenzen der eigenen Möglichkeit gegen diese Strukturen vorzugehen. Deshalb mache ich Aufklärungsarbeit, versuche, mit Menschen darüber zu sprechen, wie nationalistische und rassistische Politiken funktionieren. Das ist das, was ich für meine sinnvolle Aufgabe halte."