"Die CDU hat kein Ziel mehr"
Für Ex-SPD-Chef Franz Müntefering haben vor allem Frauen wie Angela Merkel und zuvor bereits Rita Süssmuth der CDU "ein neues Gesicht" gegeben. Allerdings präge die Partei heute das Land nicht mehr, sagte er anlässlich des Aufrufs zur Gründung der CDU vor 70 Jahren.
Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering attestiert der CDU einen ausgeprägten Machtinstinkt. Anlässlich des Aufrufs zur Gründung der Partei vor 70 Jahren sagte Müntefering am Freitag im Deutschlandradio Kultur: "Bei der Union ging es von Anfang an darum, Macht zu haben und gestalten zu können. Ich glaube, dass das ein politischer Instinkt ist, den man auch haben muss." Kanzler wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl hätten nicht lange gefackelt: "Wenn sie regieren konnten, haben sie regiert und haben das Bestmögliche daraus gemacht."
Heute allerdings präge die CDU nicht mehr das Land, sagte Müntefering: "Ich glaube, dass sie kein Ziel mehr hat wie sie das 1945, 47, 49 hatte und wie das auch bei Helmut Kohl noch war, dass sie nicht mehr genau weiß, wohin die Reise eigentlich gehen soll." Die CDU habe sich stark verändert: Vor allem Frauen wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen und zuvor bereits Rita Süssmuth hätten der früher klar orientierten, christlich-demokratischen Partei "ein neues Gesicht" gegeben: "Die sozialdemokratische Idee hat sich ja an weiten Stellen da durchgesetzt", sagte Müntefering. Die CDU habe die vom ehemaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder betriebene Orientierung hin zur Mitte übernommen und dessen Politik fortgesetzt.
Müntefering, der aus einer konservativ geprägten Familie stammt, hat nach eigenen Angaben selbst nie die Christdemokraten gewählt: Als er mit 25 Jahren "ein bisschen spät berufen" SPD-Mitglied wurde, habe ihn die CDU angerufen und gefragt, warum er das tue. Er habe geantwortet: "Ich bin zur SPD gegangen, weil ich euch kenne."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Korbinian Fernzel: Es müsste jetzt stilecht im Hintergrund rauschen und knistern, wenn ich Ihnen dieses Zitat vorlese: "Deutsche Männer und Frauen, wir rufen euch auf, alles Trennende zurücktreten zu lassen! Folgt unserem Ruf zu einer großen Partei, die mit anderen Parteien der neuen Demokratie am Aufbau Deutschlands arbeiten will!" Heute vor 70 Jahren erschien dieser Gründungsaufruf für eine Partei, die in der Tat eine große geworden ist: Die Christlich Demokratische Union, die CDU und zwar als wirklich neue Formation über die Konfessionsgrenzen hinweg und auch über so manche andere – die erste deutsche Volkspartei.
Wir wollen kritisch gratulieren und das tun wir mit einem Mann, bei dem ich mir sicher bin, dass er eins noch nie gemacht hat – CDU gewählt. Der ehemalige Vorsitzende der SPD und Vizekanzler Franz Müntefering. Guten Morgen!
Franz Müntefering: Guten Morgen, Herr Frenzel, ich grüße Sie!
Frenzel: Was ist die CDU für Sie, Ihr liebster Feind?
Müntefering: Nein, Feind ist das falsche Wort, das ist ein politischer Konkurrent, ein politischer Gegner auch, aber ganz zu Beginn in alten sozialdemokratischem Respekt, Gratulation, 70 ist noch nicht so viel, die CDU ist jünger als ich, aber immerhin, es lohnt sich schon, zu gratulieren.
Frenzel: Und deutlich jünger als Ihre Partei. Wir haben ja im letzten Jahr die 150 gefeiert. Wenn wir auf diese CDU gucken und auf die Bundesrepublik, war es gut für die Bundesrepublik, dass diese Partei, dass die CDU entstanden ist?
Die Gründung der CDU hat das Zusammenwachsen erleichtert
Müntefering: Ja, das war gut, das hat das Zusammenwachsen erleichtert. Man war ja in einer katastrophalen Situation, man war beschämt über das, was Deutschland ausgelöst hat. Die Sozialdemokraten waren stolz darauf, gegen das Ermächtigungsgesetz gewesen zu sein, aber es musste neu angefangen werden, das war gut, dass man sich auf den Weg gemacht hat und gesagt, wir wollen Demokraten werden und sein und wollen neu beginnen.
Frenzel: Dieser recht freundliche Ton zwischen Union und SPD, den Sie ja jetzt auch anschlagen, den wir kennen in Zeiten der großen Koalition, der ist ja historisch betrachtet ein relativ junges Phänomen. Wir haben mal einen Konrad Adenauer rausgeholt aus dem Jahre 1957, da klang das so von Seiten der Union:
Konrad Adenauer: Die Politik, die die sozialdemokratische Führung will, macht Deutschland zum russischen Satelliten.
Frenzel: Franz Müntefering, Sie waren ein junger Mann, als diese Adenauer-CDU herrschte. Da fühlte sich das bestimmt anders an für Sie, oder?
Müntefering: Na ja, ich meine, das ist schon richtig, die CDU-Gründung, das war gut. Was dann passierte, war natürlich auch, dass die CDU gewann, das war ihr Glück, durch die D-Mark, durch den Marshallplan und dadurch, dass Deutschland – West und Ost – der Puffer wurde zwischen West und Ost in der Welt, in der bipolaren Welt. Daraus entstand das Sicherheitsgefühl und das konnte die CDU liefern, auch unter dem Schutzschild der USA, und das hat sie groß gemacht.
Das waren nicht nur, aus unserer Sicht dann, erfreuliche Töne und Tatbestände, aber es war zunächst mal ein genialer Gedanke zu sagen, wir müssen was Neues anfangen, die alten Namen gehen nicht mehr – aus der SPD eben. Und ja, insofern war das politisch, taktisch klug. Was dann daraus gemacht wurde, auch der Hinweis bei Adenauer, die Verbindung der Sozialdemokratie zum Kommunismus, zu den Verbrechen des Kommunismus, war schon eine schwierige Sache. Da hat die Union, die CDU, lange dazu beigetragen, dass die deutschen Taten und Geschehnisse verharmlost wurden, und der Hinweis darauf, dass der Kommunismus ja auch ein verbrecherisches System ist, das war schon ein großes Ärgernis, ja.
Bei der Union ging es von Anfang an darum, Macht zu haben
Frenzel: Gab es für Sie, trotz aller Distanz, die da ja auch zum Anklang kommt, Sie als jungen Mann Unionspolitiker, die Sie beeindruckt haben, die Sie vielleicht sogar geprägt haben als späteren Politiker?
Müntefering: Keine Großen, keine Überregionalen. Ich bin groß geworden in einer Familie, die war früher Zentrum und dann CDU, das heißt, ich habe das alles richtig miterfahren und musste daraus mich hin entwickeln zum Sozialdemokraten. Die CDU war die dominierende Partei, ganz klar, aber sie war natürlich auch hinreichend miefig, das war in Deutschland damals so.
Ich erinnere mich an Wuermeling, den zuständigen Familienminister da, der hat sich ausgelassen über die gemeinschaftszersetzende Berufstätigkeit der Frauen – solche Geschichten ließen da natürlich auch eine Distanz zu vielen modernen, liberalen Positionierungen, die wir heute haben, auch bei der Union. Das war für uns, für meine Generation, keine Zukunft, aber man hat mit Respekt gesehen, dass sie eine Sozialstaatspartei wurden und eine europäische, das sind sie auch geblieben und das ist auch gut so.
Frenzel: Ich erinnere mich an einen Franz Müntefering, der seinen Genossen einbläute, Opposition ist Mist. Da haben Sie doch wiederum bestimmt was von der CDU gelernt in dieser Aussage, oder?
Müntefering: Ja, das war mir immer nicht so ganz geheuer, dass wir da so grundsätzlich prinzipiell sind. Bei der Union ging es von Anfang an darum, Macht zu haben und gestalten zu können und ich glaube, dass das ein politischer Instinkt ist, den man auch haben muss. Der war bei Adenauer ja sehr ausgeprägt, bei Helmut Kohl ganz sicher auch, die haben nicht gefackelt – wenn sie regieren konnten, haben sie regiert und haben das Bestmögliche daraus gemacht, und ich glaube nur so geht es.
Frenzel: Jetzt haben wir viel gelobt, Sie dürfen jetzt aber auch mal vom Leder ziehen und vielleicht helfen wir Ihnen, wenn wir diesen Mann mal kurz einspielen, Helmut Kohl:
Helmut Kohl: Erneut bilden CDU/CSU und FDP eine Koalition der Mitte, um einen historischen Neuanfang zu setzen. Was 1949 gelang unter schweren seelischen Wunden und materiellen Lasten, das ist auch heute möglich und notwendig.
Die CDU hat die Politik fortgesetzt, die Gerhard Schröder begonnen hat
Frenzel: Helmut Kohl, 1982 bei seiner Regierungserklärung, als er Ihnen gerade die Macht weggenommen hatte. Franz Müntefering, Helmut Kohl war schon eine Reizfigur, oder?
Müntefering: Ja, das war es ganz klar. Also ich kann mich an die Situation genau erinnern und war sehr deprimiert, als Helmut Schmidt gehen musste, Helmut Kohl kam und habe mal kurz auch dran gedacht, du gehst aus der Politik ganz raus, weil ich nicht glaubte, dass noch irgendwas Gutes kam, aber natürlich dabei geblieben. Und ich setze da noch einen drauf und sage, es war auch richtig, dass Helmut Kohl, wie Willy Brandt und Genscher und Vogel und Schmidt dann die Deutsche Einheit schnell realisiert haben, als sie möglich war, das ist ganz unbestritten richtig. Aber es gab eben auch zwischen uns viele Streitpunkte, die wir miteinander auszutragen hatten.
Frenzel: Helmut Kohl hat ja die CDU vom Kanzlerwahlverein, vom Adenauerverein, zur modernen Volkspartei gemacht in den 70er-Jahren und dann, kann man eigentlich verkürzt sagen, wieder zum Kanzlerwahlverein, nämlich zu seinem eigenen. Passiert gerade das Gleiche mit Angela Merkel, Kanzlerin-Wahlverein?
Müntefering: Man muss schon sehen, da ist ja noch was passiert zwischendurch: Wir haben mit Gerhard Schröder 98, als wir Rot-Grün regieren konnten, hin auf die Mitte orientiert. Was immer übersehen wird, dass mit dem Ende der Bipolarität, mit der Deutschen Einheit, mit dem Ende des kommunistischen Reichs, sich auch die Lage der demokratischen Parteien verändert hat. Das ist auch noch nicht zu Ende diese ganze Entwicklung, das geht noch weiter, das ist ganz klar, und was daraus wird, das kann man noch gar nicht so ganz genau beschreiben.
Die Mitte ist dominierend geworden und es war richtig von uns da hinzugehen. Und 2005, als dann daraus die große Koalition entstand, hat die CDU weitgehend ihre Leipziger Beschlüsse liegenlassen und aufgegeben und in die Schublade gesteckt und haben die Politik weitergemacht, die wir mit Gerd Schröder begonnen hatten. Da hat eine ganz seltsame Veränderung stattgefunden bei uns im Land, und das ist ja eines der Rätsel, an denen wir jetzt immer noch arbeiten und versuchen, auch sozialdemokratische Mehrheiten daraus zu entwickeln.
Man wird fragen: Wo ist eigentlich die Substanz in dieser CDU?
Frenzel: Aber ist das gut für das Land, schlecht für die SPD, kann man das so zusammenfassen, dass die Union diesen Weg gegangen ist?
Müntefering: Es ist jedenfalls gut für das Land, und die sozialdemokratische Idee hat sich an weiten Stellen da durchgesetzt, das ist ganz klar. Das war auch in der großen Koalition so geblieben und zwar so, dass dann anschließend 2009 die CDU im Grunde verdorben war, um mit der FDP noch zusammen regieren zu können. Da haben Frau Merkel oder Frau von der Leyen sicher dabei – vorher auch Frau Süssmuth schon, das waren immer Frauen –, die haben der CDU da schon ein neues Gesicht gegeben, das ist ganz klar, und wir müssen gucken, dass wir das auch personell wieder ausgleichen.
Frenzel: Haben Sie denn den Eindruck, dass diese CDU dieses Land noch prägt, wenn sie im Prinzip ja alles ist, wenn sie sich so breit öffnet, wie sie sich geöffnet hat?
Müntefering: Nein, ich glaube, dass sie kein Ziel mehr hat, wie sie das 1945, 47, 49 gehabt hat und wie das auch bei Helmut Kohl noch war, dass sie nicht mehr genau weiß, wohin die Reise eigentlich gehen soll und dass das die große Frage ist. Gestaltet man das, was vor uns ist, die Zukunft, oder beharrt man und glaubt, man kann dadurch Sicherheit gewinnen. Und ich bin sicher, die Klugen in der CDU, die werden wissen, dass die 30 Jahre, die jetzt vor ihnen sind, bis sie dann endlich mal 100 werden, dass die schwieriger und ungewisser sind als die 70 Jahre, die sie hinter sich haben.
Das war eine klar orientierte, christlich-demokratische Partei, aber da aus dieser großen christlichen deutschen Leitkultur, da ist inzwischen auch geworden – Muslime und Islam gehört auch zu Deutschland dazu und die Kernkraftwerke weg und neues Familienbild und so, und das ist eine große starke Veränderung, die da ist. Und ich bin sicher, es wird der Punkt auch kommen, wo die große Frage ist, wo ist eigentlich die Substanz in dieser CDU, abgesehen davon, dass sie Machtinstinkt hat, und da ist sie vielleicht immer resoluter gewesen als wir.
Frenzel: Herr Müntefering, ich habe ja anfangs die Vermutung aufgestellt, Sie hätten noch nie CDU gewählt. Jetzt haben Sie die Chance auf jeden Fall heute in den Agenturen zu landen. Haben Sie mal CDU gewählt?
Müntefering: Nein, das hätte ich auch nie getan. Wie gesagt, ich bin in solchen Kreisen groß geworden. Als ich dann mit 25 ein bisschen spät berufen zur CDU ... Zur SPD, pardon, gegangen bin, da hat die CDU mich angerufen vor Ort und hat gesagt, ja, wieso machst du das, ist ja gut, wenn du dich engagierst, aber. Ich habe gesagt, ich bin zur SPD gegangen, weil ich euch kenne, und das war ein bisschen frech, aber das war wirklich ehrlich gemeint. Ich hätte damals nie CDU gewählt, nein.
Frenzel: Würde denn der junge Franz Müntefering in die CDU eintreten?
Müntefering: Nein, auf gar keinen Fall. Es gab damals sogar – das ist auch ein bisschen komisch heute –, es gab eine interessante FDP, den Karl-Hermann Flach und andere, das waren Leute, die waren uns viel näher. Diese kleine Koalition zwischen SPD und der FDP, die hatte damals eine Logik, aber das ist leider von Westerwelle und anderen dann 2005 abgelehnt worden, sowas weiterzumachen, und da hat sich machtpolitisch was verändert. Und es kam dann halt dazu, der Bruderkuss von Gysi mit Lafontaine, und das Land ist im Grunde ein Land, das sozialdemokratisch bestimmt ist von der Idee her, aber die Linke hat sich eben selbst da aus der Regierung rauskatapultiert.
Frenzel: Franz Müntefering, SPD-Chef und Vizekanzler. Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Müntefering: Ja, bitte schön!
Frenzel: 70 Jahre CDU war das Thema.