Sicherheit mit Nebenwirkungen

Die Einsamkeit im Exil

Illustration einer jungen Frau die am Fenster steht und nach draußen schaut
Die Exil-Arbeit sei für die Menschen, deren Leben in geordneten Bahnen verlaufen, meistens unsichtbar, sagt Iryna Herasimovich. © Getty Images / iStockphoto / abc17
Ein Einwurf von Iryna Herasimovich · 16.12.2022
Nach der Anfangseuphorie ist das Leben im Exil vor allem eins: ein einsamer Kampf. Wie mag es erst jenen gehen, die die Sprache des neuen Landes nicht beherrschen, fragt sich die in Zürich lebende Literaturübersetzerin Iryna Herasimovich aus Belarus.
Ich bin ins Exil nicht gegangen, sondern reingerutscht. Am Anfang hat es sich wie eine große Erleichterung angefühlt, eine Rettung: Es stellt sich eine Art Euphorie ein, weil man nicht mehr wegen der vorbeifahrenden Polizeiautos zusammenzuckt und wenn man in der Nacht nicht ängstlich halb wach liegt, weil die Polizei wegen einer Hausdurchsuchung kommen könnte. In der Euphorie, der Gefahr entkommen zu sein, habe ich unterschätzt, was für harte Arbeit ein Exil ist. Nicht nur hart, sondern vor allem einsam ist diese Arbeit, denn von außen, für die Menschen, deren Leben in geordneten Bahnen verlaufen, ist sie meistens unsichtbar.

Privater Schutzraum im Exil besonders wichtig

So versuche ich einem Künstlerfreund aus der Schweiz zu erklären, wie wichtig es für mich ist, meine Wohnung im Schweizer Exil halbwegs einzurichten. Dass man einen Schutzraum des Alltags braucht, wenn alle Stricke gerissen sind. Ja, unterbricht der Freund mich mit leichter Ironie, wir wollen alle unser bürgerliches Leben aufbauen.
In diesem Moment wird mir bewusst, wie viel Bedarf an Selbsterklärung, an Selbstübersetzung sogar im engsten Freundeskreis nötig ist, wie getrennt sich unsere Realitäten anfühlen, auch wenn wir seit Jahren befreundet sind. Er kann es sich leisten, über das bürgerliche Leben zu ironisieren, für mich, eine Übersetzerin aus der alternativen Kulturszene in Belarus, war so ein Leben nie denkbar, geschweige denn jetzt im Exil.

Spagat zwischen altem und neuem Leben

Das Wort Exil hat die Verbannung im Fokus. Verbannung ist aber kein Raum für das Leben, den muss man sich erst einrichten, und zwar im Spagat zwischen zwei Realitäten - der des neuen Landes und der des verlassenen.
Im neuen Land fühle ich mich manchmal wie ein kleines Kind: Von der Müllentsorgung bis zum Steuersystem muss alles neu gelernt werden. Ständig müssen Entscheidungen getroffen werden - ganz konkrete Entscheidungen: Soll ich einen Kredit aufnehmen, um die Kaution für die Wohnung zu bezahlen? Ist das ohne langfristige Aufenthaltsbewilligung überhaupt möglich? Doch selbst bezahlen? Aber wie soll ich dann die Familie finanziell unterstützen, der es in Belarus angesichts der Sanktionen immer schlechter geht? Was soll man zuerst kaufen, wenn man alles kaufen muss?
Viele Entscheidungen sind übrigens mit Geld verbunden, denn es ist nun mal das Geld, das unser Leben in vielem organisiert. Aber über Geld spricht man selten offen, und so werden die Anstrengungen des Exils noch unsichtbarer.
Exilleben zu gestalten, ist eine große Leistung 
Manchmal träume ich davon, dass mich jemand an die Hand nimmt und sagt: Komm, ich mache das für dich. Oder zumindest sieht, wie hart ich arbeite. Aber viel häufiger tun die Menschen so, als gäbe es keinen Unterschied zwischen ihren Lebenssituationen und meiner. Das fühlt sich ungerecht an, als würden wir die gleiche Strecke laufen, nur ich mit einer großen Last.
Dabei habe ich gute Voraussetzungen für mein Leben in der Schweiz: Ich beherrsche die deutsche Sprache, ich kannte die Schweiz vorher und habe hier als Übersetzerin jede Menge Kontakte. Wie es den Menschen geht, denen weder das Land noch die Sprache vertraut sind, die keine freundschaftlichen Verbindungen am Fluchtort haben, wie enorm ihre Belastung sein muss, das kann ich mir gar nicht vorstellen.
Die üblichen Sorgen, die man im Leben hat, wie zum Beispiel Krankheiten, gehen ja auch nicht weg, weil man im Exil lebt. Sie werden eher multipliziert: Man muss erst lernen, wie das Gesundheitssystem funktioniert, die in Belarus verbliebenen Eltern werden krank und man kann sie nicht besuchen, ohne das Risiko einzugehen, verhaftet zu werden.
In all dem das Gleichgewicht zu behalten, überhaupt zu überleben, das Leben zu gestalten, ist eine Leistung. Und es ist wichtig, dass sie als solche gesehen und anerkannt wird.

Iryna Herasimovich ist Literaturübersetzerin zahlreicher deutschsprachiger Autor:innen ins Belarussische. Sie arbeitet auch als Dramaturgin und Kuratorin im Bereich bildende Kunst und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2021 ist sie Doktorandin am Slavischen Seminar der Uni Zürich.

Porträt von Iryna Herasimovich vor einem Fenster, dahinter ist eine bewaldete
© Nikita Fedosik
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