Der "Kompressor" beschäftigt sich in einer Serie damit, "wo Kunst noch wehtut". Provokation, Tabubruch, Schock: All das kann, soll Kunst vielleicht auch auslösen. Aber womit kann man überhaupt noch schocken? Ist ein Tabubruch überhaupt noch möglich, in einer Zeit, in der alle Grenzen ausgetestet zu sein scheinen? Unsere Korrespondenten und Autoren porträtieren Künstlerinnen und Künstler, die in ihrem jeweiligen Heimatland für Diskussionsstoff sorgen.
Blut und Schreie auf Vietnams Straßen
05:19 Minuten
Mai Khoi war ein Popstar in Vietnam. Dann wurde sie zur Aktivistin – durch Begegnungen mit einem repressiven Staat, der versucht, sie und andere kritische Stimmen kleinzuhalten.
Mai Khoi singt von Schreien in den Straßen, von Uniformierten, die Menschen verhaften, von Blut, das fließt. Sie singt über die Menschen, die anderen so etwas antun – und die Busse fahren daran vorbei, an den Schreien und den Schlägen.
"Busfahrt" heißt das Lied, dass die vietnamesische Sängerin Mai Khoi im Herbst 2018 in New York präsentierte. Zu Hause in ihrer Heimat wäre das nicht möglich, denn die zierliche Frau mit den langen schwarz-grauen Haaren gilt in Vietnam als Staatsfeind. Sie selbst bezeichnet sich als Regimekritikerin:
"Ich kritisiere die Korruption, dass man seine Meinung nicht frei äußern kann, die manipulierten Wahlen, die Nichtachtung der Menschenrechte. Ich kritisiere das ganze System der Zensur. Damit kann sich Kunst und Musik nicht frei entfalten."
Mai Khoi braucht für alles eine Erlaubnis
Für ihr Engagement bezahlt Mai Khoi einen hohen Preis. Für jedes Album, das sie veröffentlichen will, für jedes Konzert, selbst in ihrem eigenen Haus, braucht sie eine Erlaubnis von den vietnamesischen Behörden.
Die Liste der Repressalien ist lang: "Mein Vermieter zwang mich, mein Haus zu räumen, auf Druck der Behörden. Meine Konzerte wurden verboten. Ich wurde am Flughafen verhaftet und verhört. Ich wurde unter Beobachtung gestellt. Sie haben versucht, mich von den Medien, von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Sie haben mich davon abgehalten, Geld zu verdienen."
Ihre Musik veröffentlicht Mai Khoi hauptsächlich online, ihre Songs kann man bei Youtube oder auf ihrer eigenen Internetseite hören. Öffentlich auftreten kann sie nur im Ausland, wie zum Beispiel auf dem Oslo Freedom Forum im vergangenen Jahr.
2016 kandidierte sie fürs Parlament in Hanoi
Doch die Sängerin kämpft nicht nur mit ihrer Musik. 2016 versuchte Mai Khoi, bei der Wahl zur Nationalversammlung ein Mandat zu erringen. Die unabhängige Kandidatin löste eine Debatte aus, auch wenn Mai Khoi es letztendlich nicht ins Parlament in Hanoi geschafft hat.
Dass sie einmal eine Dissidentin in Vietnam sein würde, hatte sich zu Beginn ihrer Karriere nicht abgezeichnet, im Gegenteil. Ihr Vater, ein Musiklehrer, gab ihr Gitarrenunterricht, da war sie acht Jahre alt. Später ging sie auf das Konservatorium in Ho-Chi-Minh-Stadt.
Doch das Studium brach sie ab, tingelte durch Bars und Klubs, bis sie 2010 den größten Musikpreis des Landes gewann. Mai Khoi war stolz auf das Lied und den Preis. So stolz, dass sie sich auf einer Seite die Haare so abrasierte, dass nur noch die Initialen des Preises erkennbar waren.
Dafür wurde die Sängerin heftig kritisiert, zu westlich das Ansinnen. Zu einer Aktivistin wurde Mai Khoi aber erst durch Treffen mit vietnamesischen Künstlern, die in ihrem Land für ihre offenen und klaren Worte ebenfalls geächtet wurden.
Von der Popsängerin zur Künstlerin und Aktivistin
Die 36-Jährige hat es nie bereut, diesen Weg eingeschlagen zu haben.
"Im Moment arbeite ich an einem experimentellen Musiktheaterstück: der Mai-Khoi-Liederzyklus. Da werde ich die Geschichte meines Lebens erzählen – über meine Wandlung von einer Popsängerin zu einer Künstlerin und Aktivistin. Ich nutze dazu Musik, Performance und auch Videokunst."
Sie fühle sich großartig, sagt Mai Khoi. Das Einzige, was sie wirklich bereue sei, dass sie nicht schon viel früher eine Regimekritikerin geworden ist.