Existenzangst und fehlende Kontakte

Wie die Coronakrise die psychische Gesundheit beeinträchtigt

28:09 Minuten
Illustration: Menschen mit Gesichtsmasken laufen vor einem riesigen Virus davon.
Die Corona-Pandemie löst zum Teil krankhafte Ängste aus. © Getty / fStop Images / Malte Müller
Von Catalina Schröder |
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Machen Social Distancing, Homeoffice und Kontaktsperren krank? Noch ist es zu früh, das einzuschätzen, sagen Psychologen. Doch es könnte eine Welle psychischer Folgeerkrankungen auf uns zurollen: mit Depressionen, Belastungsstörungen und Suiziden.
In der Telefonseelsorge der Diakonie in Hamburg ist in diesen Wochen viel zu tun. Seit Ende März gehen dort täglich rund 50 Prozent mehr Anrufe ein. Zu viel für die rund 90 Ehrenamtlichen, von denen hier rund um die Uhr immer zwei im Einsatz sind: Im Schnitt können die Mitarbeiter in diesen Wochen nur knapp jeden dritten Anruf entgegennehmen. Das macht rund 80 Gespräche innerhalb von 24 Stunden.
"Das Eigentümliche ist, dass wir gar nicht oftmals direkt über Corona sprechen, sondern wir sprechen über deren Alltagssorgen, die sie auch ohne Corona vermutlich hätten: Beziehungssorgen, ausgenommen jetzt die finanziellen Sorgen. Da spielt Corona eine große Rolle", sagt Pastorin Pastorin Babette Glöckner, die die Telefonseelsorge leitet.
"Zu Beginn der Krise war es schon so: Oh, wie ungewohnt ist das denn? Es kamen ganz unterschiedliche – ich sage mal – Ängste, die wir gehört haben, die jetzt ein Stückchen abebben, weil es so eine Form von Gewöhnung gibt, aber auch Aufatmen. Na, da normalisiert sich wieder was. Wir dürfen schon mal wieder mehr in Kontakt kommen und so. Was immer noch am Telefon ist, ist so die unterschwellige Sorge: Wenn das mal aufhört, war es das dann oder kriegen wir das noch viel schlimmer? Ist das jetzt nur der Anfang? Wann hört es eigentlich wirklich auf? Hört es auf? Der Umgang mit der totalen Unsicherheit. Etwas ist außer Kontrolle, und wir haben es jedenfalls nicht in Kontrolle. Das ist total schwer auszuhalten."

"Seelisch der größtmögliche Störfall"

Eine Bedrohung schwappte in den Alltag: Das Virus kann jeden treffen, egal ob jung oder alt, ob arm oder reich. Warum tötet es den einen und verursacht beim nächsten nur einen Schnupfen? Was würde es in meinem Körper anrichten, wenn es mich träfe? Eine merkwürdig abstrakte und doch auch sehr konkrete Bedrohung des Lebens, die praktisch alle Alltage umkrempelte. Eine wirkliche "Großlage". Nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg waren Schulen, Kitas, Fitnessstudios und Restaurants über Wochen geschlossen. Nie zuvor haben so viele Menschen im Homeoffice gearbeitet und das Haus gehütet.
Was macht es mit uns, wenn wir Angehörige wochenlang nicht sehen dürfen? Was heißt es, wenn wir Kontakte zu Freunden monatelang nur per Telefon, Video und Chat aufrechthalten? Welche Erfahrungen, welche Ängste bleiben?
Darauf kann es im vierten Monat der Pandemie nur erste Antworten geben. Denn die Erforschung der psychischen Langzeitfolgen wird Fachleute in aller Welt noch lange Zeit beschäftigen.
"Wir sind während der Coronakrise durch verschiedene Phasen hindurchgegangen", erklärt der Psychologe Stephan Grünewald. "Der psychologische Ausgangspunkt hängt mit einer sehr großen Ohnmachtserfahrung zusammen. Das heißt, wir haben seit dem Beginn der Corona-Epidemie die Erfahrung gemacht: wir sind einer Bedrohung ausgesetzt, die wir nicht verstehen, die wir nicht fassen, die wir sinnlich nicht wahrnehmen können. Weder riechen, noch schmecken, noch hören. Das heißt, wir haben kaum eine Handhabe und das ist seelisch eigentlich der größtmögliche Störfall, weil wir handlungsunfähig sind."
Stephan Grünewald leitet das Rheingold-Institut für tiefenpsychologische Marktforschung in Köln. Zusammen mit Kollegen hat er eine erste Studie zum Umgang der Deutschen mit dem Lockdown durchgeführt.
Porträtaufnahme des Psychologen Stephan Grünewald.
Der mit der Pandemie verbundene Kontrollverlust ängstigt viele Menschen, sagt der Psychologe Stephan Grünewald.© imago / Sven Simon
Die Ohnmachtserfahrung und die erlebte Handlungsunfähigkeit sind für Stephan Grünewald die Erklärung für das Phänomen Hamsterkauf, das wir in den ersten Wochen der Pandemie im Supermarkt beobachten konnten:
"All das, was wir während der Krise jetzt beobachten, war sehr stark davon bestimmt, die Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Angefangen von den Hamsterkäufen, wo man sich zeigt: Ich bin wieder handlungsfähig! Über das Horten von Toilettenpapier. Gerade in der Krise ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass man noch geschäftstüchtig ist. Gerade das Toilettenritual ist sozusagen der persönliche Inbegriff und Beginn von Kontrolle. Früher, als Kinder sind wir dafür gelobt worden, wenn wir das kontrolliert zu Wege brachten, und in Situationen, wo sich uns die Kontrolle entzieht, wollen wir zeigen: wir sind dennoch geschäftstüchtig und kontrolliert."

Ein Teil der Bevölkerung genießt die Entschleunigung

Lebensmittelknappheit bzw. Angst davor kennen die meisten allenfalls als Nachricht aus weit entfernten Kriegsgebieten. Im sicheren Deutschland, so haben wir lange geglaubt, kann uns so etwas nicht treffen. In ihrer Studie haben Stephan Grünewald und seine Kollegen sehr genau erfragt, wie die Menschen mit diesen Erfahrungen zurechtgekommen sind.
"Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der leidet sehr stark unter dem Lockdown, beziehungsweise hat da sehr stark drunter gelitten. Das waren Menschen, die hatten existenzielle Sorgen. Sie konnten ihr Restaurant, ihre Event-Agentur... ihrer Tätigkeit nicht mehr nachgehen. Die fühlten sich überfordert durch Homeschooling und Homeoffice", sagt Grünewald.
"Ein anderer Teil der Bevölkerung beschrieb aber in den Tiefeninterviews eine komplett andere Wirklichkeit: Die schwärmten sozusagen von einer paradiesischen Zeit der Entschleunigung. Eine junge Mutter beispielsweie sagte in dem Tiefeninterview: Das ist jetzt die schönste Zeit in meinem Leben. Ich habe ganz viel Zeit für meinen Säugling. Die Verwandten müssen draußen bleiben. Junge Studenten beschreiben, wie sie in ihre Kernfamilien zurückkehren, da sehr gut versorgt werden und jeden Abend finden vorweihnachtliche Spiele-Sessions statt. Liebespaare beschreiben, dass sie noch nie so viel Innigkeit und Sex erlebt hätten wie in dieser Corona-Lockdown-Zeit. Das heißt, wir erleben im Moment eine sehr stark polarisierte Wirklichkeit."
Die einen machen positive Erfahrungen, die anderen leiden. Auch das macht diese Krise besonders. Im Guten wie im Schlechten verstärkt sie Vorlieben, Charakterzüge und Probleme, die jeder von uns in und mit sich herumträgt.
In seiner Praxis trifft der Zwickauer Psychologe Sven Quilitzsch allerdings eher auf diejenigen, die unter der Krise leiden. Ähnlich wie bei der Hamburger Telefonseelsorge hat sich auch bei ihm kein Patient ausschließlich wegen der Coronafolgen gemeldet. Aber Quilitzsch hat beobachtet, dass es häufig den Patienten besonders schlecht geht, die schon vor Corona unter Depressionen litten:
"Gerade beispielsweise bei der Behandlung von Depressionen ist die Aktivierung oder die sportliche Betätigung etwas Essenzielles, und viele Angebote sind da halt jetzt weggebrochen. Selbsthilfegruppen beispielsweise, mit denen habe ich zu tun, die können sich nicht zusammenfinden.
Und das ist schon dramatisch und für Patienten, die sowieso schon belastet sind, eigentlich ein Punkt, der obendrauf kommt. Man muss davon ausgehen, dass eine Krankheit nicht behandelt ist. Das ist ja so, als würden Sie zum Arzt gehen, und der Arzt sagt: Ich habe ja kein Medikament. Das kann ich Ihnen im Moment nicht verschreiben. Dann bleibt die Krankheit einfach da. Die Krankheit wird ja nicht behandelt, oder sie kann dann schlechter behandelt werden, weil die wirksamen Mittel nicht zur Verfügung stehen – wie soziale Kontakte."

Erhöhte Suizidrate als Folge des Shutdowns?

Man müsse davon ausgehen, dass das Risiko steigt, dass die Krankheit dann chronisch wird, warnt Quillitzsch.
"Zu befürchten ist das besonders dann, wenn die Folgen eines Ereignisses noch lange nachwirken: Vier Jahre nach dem Reaktorunglück in Fukushima litten Menschen, die die Region verlassen mussten, beispielsweise fünf Mal häufiger an posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen als Menschen in der sonstigen Bevölkerung."
Die eigentlich Welle an psychischen Folgestörungen rolle jetzt erst auf uns zu, sagt er:
"Ich erwarte mit Erschrecken die Zahlen für dieses Jahr, was die Suizidrate in Deutschland angeht. Ich gehe fest davon aus, dass die auch nochmal steigen werden. Ich hoffe natürlich, dass das nicht der Fall ist. Aber ich befürchte, dass das doch auch eine Folge dieses Shutdowns sein wird, dass wir eine erhöhte Suizidrate haben werden."
Betrachtet man die Situation aus der evolutionsbiologischen Perspektive, dann könnte man sagen: Für monatelanges Abstandhalten sind wir Menschen nicht gemacht. Berührungen – vom Händedruck bis zur innigen Umarmung – sind für unsere sozialen Beziehungen wie biochemischer Klebstoff. Schon in den 50er- und 60er-Jahren zeigte der US-amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher Harry Harlow in Versuchen mit Affenkindern, dass diese lieber verhungern, als auf die Nähe und die körperliche Bindung zu ihrer Mutter zu verzichten. Seine Versuche gelten als Nachweis dafür, dass soziale Bindungen für die emotionale Entwicklung und unser Wohlbefinden enorm wichtig sind.
Heute wissen wir, dass viele von uns besonders gut entspannen können, wenn sie Berührungen spüren: Wenn jemand Angst hat, halten wir seine Hand. Wer vor einem wichtigen Termin aufgeregt ist, dem hilft oft eine kurze Umarmung.
Videokonferenz einer Familie: eine junge Frau sitzt vor einem Bildschirm. 
Videokonferenzen können direkten körperlichen Kontakt nur unzureichend ersetzen: Das haben viele in der Coronakrise erlebt.© imago / Future Images / D. Anoraganingrum
Aber Berührungen lassen sich nicht digitalisieren. Die Psychologin Barbara Lubisch aus Aachen hat insbesondere bei Alleinstehenden beobachtet, dass ihnen der Austausch per Telefon und Video nicht reicht. Auch viele ältere Menschen leiden sehr darunter:
"Es gibt ja auch diejenigen, die sagen: Ich kann zwar telefonieren, aber mit Video umgehen, das kann ich nicht, ich habe auch gar nicht die Möglichkeit, mir das technisch zu beschaffen, und die sich auch sperren dagegen und sagen: Ich möchte auch mal jemanden in den Arm nehmen können, und das reicht mir alles nicht als Ersatz, was jetzt so die Technik hergibt."
Obwohl also alles darauf hindeutet, dass die Krise und ihre Folgen unserem Wohlbefinden eher schaden, begegnet die Psychologin Barbara Lubisch auch Patienten, die psychisch profitieren– allerdings eher kurzfristig:
"Da ist bei manchem sogar eine Entlastung, weil Verschiedenes, was auch Angst auslösend ist, im Moment ja gar nicht ging. Vorträge zu halten war im Moment nicht nötig oder sich in Situationen zu begeben, die einem sonst Angst machen. Vieles ging ja jetzt gar nicht. Da konnte man guten Gewissens sagen: Ich bleib zu Hause und so."
Auch Menschen mit Zwangsstörungen, wie beispielsweise dem Drang, sich häufig die Hände zu waschen, empfinden die Krise zum Teil durchaus als Erleichterung: Ihr Verhalten ist plötzlich gesellschaftsfähig geworden.

Soziale Konsequenzen werden mehr gefürchtet als ökonomische

Zu Sven Quilitzsch und Barbara Lubisch kommen Menschen, die schon vor Corona psychische Probleme hatten. Aber was macht das Virus mit der Psyche der Allgemeinbevölkerung? Damit beschäftigt sich Moritz Petzold. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin und hat gemeinsam mit Kollegen eine Online-Umfrage durchgeführt.
"Ungefähr 60 Prozent der Leute haben Sorgen bezüglich sozialer Konsequenzen. Und das sind deutlich mehr als Menschen, die Ängste vor ökonomischen Konsequenzen berichten. Das sind ungefähr 45 Prozent", sagt er. "Mag natürlich auch damit zusammenhängen, dass die sozialen Konsequenzen im Social-Distancing-Bereich schneller spürbar waren für viele Menschen als die ökonomischen Konsequenzen."
6500 Probanden nahmen an der Onlineumfrage teil, die Petzold und seine Kollegen in der letzten März- und der ersten April-Woche durchgeführten. Die Ergebnisse liegen jetzt vor und wurden in der Fachzeitschrift "Brain and Behavior" veröffentlicht.
Ein Ergebnis: Viereinhalb Stunden dachten die Befragten zum Zeitpunkt der Umfrage täglich über Corona nach. Ein Viertel der Befragten beschäftigte sich sogar mehr als sechs Stunden täglich mit der Pandemie. Enorm hohe Werte. Aus älteren Studien wissen die Forscher, dass Menschen sich in normalen Zeiten durchschnittlich eine halbe Stunde bis Stunde täglich mit sorgenvollen Themen beschäftigen. Zu Beginn der Krise war dieser Wert also um ein Vielfaches erhöht. Tendenziell litten Frauen etwas mehr unter Ängsten als Männer. Allerdings ist unklar, inwiefern das spezifisch für die Corona-Pandemie ist. Denn Frauen leiden im Durchschnitt generell häufiger unter Ängsten als Männer.
Auch das Risiko, sich selbst mit dem Coronavirus zu infizieren, wurde von den Teilnehmern der Umfrage als extrem hoch eingeschätzt: Rund 40 Prozent gingen davon aus, dass sie in den nächsten Monaten selbst erkranken.
"Das hätte bedeutet, dass Anfang Mai ungefähr 30 Millionen Fälle in Deutschland existiert hätten. Das heißt, wir haben hier gesehen: Die Menschen haben das Risiko deutlich überschätzt, dass sie infiziert werden könnten."

Nicht alle Ängste sind Ausdruck einer Erkrankung

Moritz Petzold warnt jedoch davor, Ängste in Zusammenhang mit der Pandemie oder dem Lockdown gleich als pathologisch einzustufen:
"Es ist, denke ich, auch ganz wichtig, das zu betonen, dass es in so einer Situation völlig normal ist, Ängste zu entwickeln, und dass das in der Regel auch von alleine wieder abklingt. Also wenn man jetzt große Sorgen hat, das nicht heißt, dass man irgendeine psychische Erkrankung oder gar eine Angststörung entwickelt."
Eine Erkenntnis, die Moritz Petzold und seine Kollegen aus der Umfrage gewonnen haben, lautet deshalb vereinfacht gesagt: Die Ängste, die viele Menschen entwickeln, sind gravierender als die tatsächlichen Konsequenzen, die die Infektion statistisch betrachtet für sie persönlich hat.
Wenn man über Monate einer Lebensbedrohung ausgesetzt ist, wenn sich der Alltag von Grund auf verändert und es völlig unklar ist, ob das uns vertraute Leben jemals zurückkommt, dann sind die Voraussetzungen wie geschaffen für die Entstehung von Albträumen. Psychologen haben herausgefunden, dass Albträume zunehmen, wenn wir psychisch Belastendes erleben. Sie entstehen, weil unser Gehirn Informationen unterbewusst weiterspinnt und sie dabei dramatischer werden lässt. als sie es eigentlich sind.
"Das kann man sich als Modell ganz vereinfacht so vorstellen, dass sich in der Nacht unser Gehirn die Dinge, die wir so erlebt haben, und die Emotionen, die wir gehabt haben, hervorkramt und sich noch einmal anschaut und dann integriert in den großen autobiografischen Wissensspeicher, ins Langzeitgedächtnis, das wir halt haben. Und dann diese neuen Fragmente einbaut", erklärt die Psychologin Annika Gieselmann von der Universität Düsseldorf. "Und eine Idee, wie Albträume entstehen, ist, wenn dieser Mechanismus nicht richtig funktioniert, dass dieses Negative dann ein Eigenleben entwickelt und sich aufschaukelt, schlimmer wird und wir davon aufwachen."

Albträume sind auch eine Verarbeitungsmöglichkeit

Etwa fünf bis sieben Prozent der Erwachsenen leiden "normalerweise" regelmäßig – also zwischen einmal im Monat und einmal in der Woche – unter Albträumen. Auch wenn es noch keine spezifischen Untersuchungen aus der Zeit der Corona-Pandemie gibt, so weiß man beispielsweise aus einer Studie der US-amerikanischen Psychologen James Wood und Richard Bootzin aus den 90er-Jahren, dass Albträume zunehmen, wenn Menschen Furchterregendes erleben. In der Studie der beiden Wissenschaftler ging es um die psychischen Auswirkungen eines Erdbebens in San Francisco.
"Man hat zwei Gruppen miteinander verglichen: einmal eine aus Stanford und San José. Also das heißt in Regionen, in denen man direkt von dem Erdbeben betroffen war, und hatte dann sozusagen eine Kontroll-Region, die nicht direkt von dem Erdbeben betroffen war, aber natürlich davon gehört hatte aus den Medien und so weiter", so Gieselmann.
"Und aus beiden Regionen hat man Studierende befragt und sie gebeten, ein Traum-Tagebuch zu führen. Und was man gezeigt hat, ist, dass 40 Prozent derjenigen, die direkt von dem Erdbeben betroffen waren, mindestens einen Albtraum berichteten, im Gegensatz zu fünf Prozent in der Kontrollgruppe. Und man kann sich daraus vielleicht ein wenig ableiten, dass Albträume einfach auch viel damit zu tun haben, wie das Gehirn Stress oder einfach auch ein Extrem-Ereignis bewertet, beurteilt. Und dass es gar nicht per se was sein muss, was jetzt eine psychische Störung ausmacht, sondern dass vielleicht ja auch die Träume an sich und dann auch die Albträume einfach ein normaler Mechanismus sind, um die Angst zu verarbeiten, die einfach mit den extremen Ereignissen einhergeht."
Ein Mann sitzt mit seinem Smartphone an einem ansonsten menschenleeren Strand.
Männer leiden in Wirtschaftskrisen am meisten, sagen Psychologen. Doch in der Coronakrise sind mehr als früher bereit, sich Hilfe zu suchen, etwa über die Telefonseelsorge.© imago / Photothek / Florian Gaertner
In den meisten Fällen werden Albträume im Laufe der Zeit weniger und verschwinden irgendwann vollständig. Gelingt das nicht, kann Betroffenen die sogenannte Imagery Rehearsal Therapy – auf Deutsch: Albtraumtherapie - helfen.
"Das sind so die zwei Elemente der Therapie, dass man den Albtraum nimmt und sich dann daraus eine Geschichte macht, die gar nicht mehr so bedrohlich und so Stress erzeugend ist, sondern man nimmt die Geschichte und baut sich zum Beispiel ein angenehmes Ende", erklärt Gieselmann.
"Oder man nimmt die Geräusche und überlegt sich: Was könnten die denn sonst noch bedeuten? Ist vielleicht das Rascheln einfach nur meine Mutter, die wieder reinkommt, weil sie ihren Schlüssel vergessen hat? Und dann ist es gleich gar nicht mehr so bedrohlich, als wenn das jetzt irgendwie ein Mörder ist, der versucht, ins Haus reinzukommen. Und das Gute ist, dass das dann auch hilft, die Träume nachts nicht mehr so schlimm werden zu lassen."
Wovon hängt es aber nun ab, ob wir durch eine Extremsituation wie die Corona-Pandemie unter Albträumen leiden oder nicht? Was führt überhaupt dazu, dass einige von uns massive Ängste entwickeln, während die ungewohnte Situation andere scheinbar überhaupt nicht aus dem Gleichgewicht bringt? Die Hamburger Pastorin Babette Glöckner hat darauf eine ganz klare Antwort:
"Ich würde immer sagen, was das Heilsamste überhaupt ist: Menschen sind Beziehungsmenschen. Beziehung, Beziehung, Beziehung und Beziehungspflege und das nicht erst, wenn ich in eine Krise gerate, sondern dass ich immer gut für mich sorge, an dieser Stelle und in Beziehung bleibe, Freundschaften pflege. Ich sag mal jetzt finanztechnisch investiere, in Beziehungen nicht nur nehme, sondern auch gebe. Solche Sachen, die fördern seelische Gesundheit und Stabilität.
Wenn ich da schlecht aufgestellt bin und dann kommt die Krise, dann werde ich – davon bin ich nach diesen vielen Jahren Telefonseelsorge überzeugt – das schwerer verkraften und durchstehen als jemand, der beziehungsmäßig gut aufgestellt ist. Und jetzt eben dann telefoniert oder skypt oder so, aber immerhin da seine Möglichkeiten hat, Menschen um sich herum, die sich für ihn interessieren, Anteil nehmen."

Vor allem Männerseelen leiden unter Wirtschaftskrisen

Große Pandemien hatten immer auch schwerwiegende ökonomische Folgen. Die spanische Grippe beispielsweise führte in Europa und den USA zu einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um rund 6 Prozent. Die Aktienkurse brachen ein. Menschen verloren ihre Jobs.
Aus einem globalen Gesundheitsproblem, das zwar viele betrifft, aber längst nicht alle, wird schnell eine Wirtschaftskrise, die wirklich alles betrifft. Dass dies sich negativ auf die menschliche Psyche auswirkt, haben Soziologen bereits ausgiebig erforscht. Gerade Männer, die – Gleichberechtigung hin oder her – häufig immer noch die Haupternährer ihrer Familie sind, leiden unter Wirtschaftskrisen besonders. Für sie ist ihr Arbeitsplatz der "primäre Mechanismus der sozialen Integration". So jedenfalls formuliert es Janosch Schobin vom Lehrstuhl für Makrosoziologie an der Universität Kassel.
Wie sehr Männer unter dem Verlust oder dem drohenden Verlust ihres Arbeitsplatzes leiden, merken auch Telefonseelsorgerin Babette Glöckner und ihr Team in Hamburg.
"Es rufen deutlich mehr Männer an, das ist in den letzten Jahren schon angestiegen. Wir freuen uns darüber sehr, weil wir denken: Jetzt haben die uns auch mal entdeckt und entdeckt, dass Reden irgendwie auch sehr guttun kann. Aber jetzt, in den letzten Wochen ist das noch mal richtig angestiegen. Wir haben teilweise Schichten, Dienstschichten, da haben wir ein Drittel Frauen, zwei Drittel Männer am Telefon. Sonst ist es eher umgekehrt."
Daten der Weltgesundheitsorganisation aus 54 Ländern zeigen, dass die Suizidrate insbesondere bei Männern in Folge der globalen Wirtschaftskrise 2007/2008 weltweit angestiegen war. Die höchsten Zuwachsraten gab es mit 6,4 Prozent in den USA und 4,2 Prozent in Europa. Auch hier sahen die Forscher die gestiegene Arbeitslosigkeit als Hauptgrund an.

Elternängste übertragen sich auf die Kinder

Wenn Eltern leiden, weil sie beispielsweise um ihren Job bangen oder ganz allgemein in der ungewohnten Situation der Krise verunsichert sind, dann geht das auch an ihren Kindern nicht spurlos vorüber. Davon berichtet der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Stuart Massey Skatulla aus Offenbach am Main.
"Sie haben ja so viele Eltern sehr, sehr hilflos erlebt. Und wenn Sie sich vorstellen, dass Eltern die Bezugsperson sind, und dann erleben sie ein Elternteil, was vollkommen überfordert ist und hilflos oder selbst an die Grenzen kommt und gegebenenfalls handgreiflich wird - Thema Körperliche Gewalt kommt dann auf. Und dann kommen dementsprechenden Ängste und Regression, sagt man, dass dann Kinder, die zum Beispiel früher ins Bett genässt haben, wieder anfangen, vermehrt ins Bett zu nässen oder wieder kindhaft werden. Oder gleichzeitig bei Jugendlichen, die dann auch dementsprechend das Gefühl haben, für ihre Eltern Verantwortung übernehmen zu müssen, weil sie merken, dass die Eltern ziemlich an die Grenzen kommen."
Als Kitas und Schulen schlossen oder nur noch eine eingeschränkte Notbetreuung anboten, mussten sich viele Eltern plötzlich rund um die Uhr selbst um ihre Kinder kümmern und dabei oft gleichzeitig ihrem Job nachgehen. Für viele eine zu große Aufgabe.
"Ganz, ganz zentral waren so Sachen wie zum Beispiel Tagesstruktur organisieren, also Eltern klarmachen, wie wichtig eine Tagesstruktur ist, dass die Menschen erst einmal morgens angezogen werden, dass die Menschen geregelte Abläufe einbauen, dass sie Pausen nehmen, dass es Mahlzeiten gibt, dass es auch mal Spaziergänge gibt. Also wirklich so Sachen, die du sonst so als Basics sehen würdest."
Bei der Frage, welche Auswirkungen die Coronakrise auf die ganz Kleinen hat, sind Psychologen sich noch nicht einig. Untersuchungen gibt es dazu bislang nicht.
"Wenn es um Masken tragen geht, dann könnte auch eine Sorge geäußert werden über frühkindliche Bindungsstörung. Denn gerade Kinder, die ganz klein sind, sind vollkommen auf die Affekte angewiesen. Man sagt, diesen spiegelnden Glanz in den Augen der Mutter. Das heißt, sie sehen die Gefühle des Gegenübers. Das spiegelt ihnen, das heißt, sie lernen daraus. Das Kind gewinnt daraus dann auch die emotionale Fähigkeit, die – man sagt halt: Die Mentalisierungsfähigkeit. Mein Gegenüber spiegelt mir seine Gefühle.
Andere Positionen sagen halt: Naja, das sind auch Lernmöglichkeiten. Wenn Menschen lernen, auf eine gewisse Art und Weise sich zu kleiden, sie lernen ja auch Socken anziehen, dann gehört das halt dazu. Aber für die Kinder ist es halt natürlich schwierig, weil gerade sie brauchen dieses vom Gegenüber."

Erhöhte Sensibilität für das, was im Leben wichtig ist

In den Wochen des Lockdowns gab es in der Praxis von Stuart Massey Skatulla weniger Neu-Anmeldungen als sonst üblich. Mit den ersten Lockerungen schnellte die Zahl der Neu-Anmeldungen jedoch in die Höhe.
Auch Moritz Petzold von der Charité wird weiterlernen und an der Frage dranbleiben, welche Ängste sich durch die Corona-Pandemie entwickeln. Einige seiner der Probanden hat er bereits mehrfach befragt – die Ergebnisse liegen aber noch nicht vor. Er wird die Menschen noch über einen längeren Zeitraum regelmäßig befragen. Auch neue Teilnehmer sind willkommen und können sich über die Website der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité anmelden.
"Wichtig sind natürlich die Menschen, die am Anfang einmal teilgenommen haben und wo wir sozusagen den kompletten Verlauf über die Krise nachvollziehen können. Aber wir schließen auch weitere Menschen ein, und jeder, der interessiert ist, kann auch gerne jetzt noch einsteigen in unsere Studie."
Bleibt die Frage – oder die Hoffnung – ob die Wochen des Lockdowns nicht auch etwas Gutes hervorbringen? Stephan Grünewald vom Rheingold Institut in Köln ist davon überzeugt:
"Viele haben auch eine andere Sensibilität dafür entwickelt, was ihnen im Leben wichtig ist. Die Entschleunigung hat dazu geführt, dass man die Tiefe, die Intensität gemerkt hat, die in analogen Tätigkeiten wie dem Wandern, dem Beziehungsgespräch, dem Kochen oder Gärtnern oder Werkeln begründet sein kann. Wir haben eine neue Wertschätzung des Kleinen, des Regionalen erfahren. Auch eine Wertschätzung von Menschen, die das System mitstabilisieren, die wir häufig geringgeschätzt oder komplett übersehen haben. Seien es die Pflegekräfte oder die Kassiererin oder die Menschen, die das öffentliche Leben in Gang halten. Also das sind sicherlich Erfahrungen, die überdauern werden."

Eine Verschnaufpause für die Umwelt

Der Zwickauer Psychologe Sven Quilitzsch fügt hinzu:
"Was erzählt man dann am Arbeitsplatz, wenn man aus dem Urlaub wiederkommt? Oder was lässt man denn die Kinder nach den Sommerferien in der Schulklasse erzählen? Wo wart ihr im Urlaub? Das ist in diesem Jahr viel leichter zu sagen, ach, wir waren bei Oma auf dem Bauernhof. Das ist in den anderen Jahren, und das wird vielleicht dann auch nach der Krise wieder schwieriger sein, dort zu sagen: Ja, wir waren zu Hause und haben eine Radtour gemacht. Und wir waren halt nicht auf dem Galapagosinseln oder haben eine Nordatlantik- Tour gemacht oder irgendsowas ähnliches oder eine Kreuzfahrt."
Immer weiter weg, immer aufregender, immer exotischer: auf der Jagd nach neuen Reise-Superlativen hat die Coronakrise uns vorerst ausgebremst. Völlig ungeplant wird die Pandemie zur Verschnaufpause für einen noch viel größeren Krisenherd: Die Umwelt. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren die weltweiten Emissionen nicht mehr so niedrig wie in den vergangenen Monaten. Ein positiver Effekt der Coronakrise und einer, an den wir uns auch nach der Krise hoffentlich noch erinnern.

Mitwirkende
Sprecherin: Annika Maurer
Ton: Inge Görgner
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig

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