Expedition zur Wiege der Zivilisation

Rezensiert von Susanne Nessler |
Göbekli Tepe, eine Tempelanlage im Südosten Anatoliens, wurde 11.600 vor Christus gebaut und ist damit 6000 Jahre älter als die Pyramiden von Gizeh. Erst Mitte der 90er Jahre begann ein Archäologenteam mit der Erforschung dieser ältesten Kultstätte der Menschheit. Klaus Schmidt war an den Ausgrabungen beteiligt und berichtet in seinem Buch "Sie bauten die ersten Tempel" von sensationellen Funden.
Vier Männer wandern durch eine Steinwüste, der Wind pfeift ihnen um die Ohren und es beginnt eine Reise in die Vergangenheit. So startet die Geschichte der Steinzeitjäger. Abenteuerlustige Wissenschaftler auf dem Weg zu einem spannenden Hochplateau im Südosten der Türkei. Ein Sachbuch über Archäologie, das wie ein Krimi beginnt.

Knirschend traben die Männer über das weite, öde Steinfeld. Sie klettern über Geröll - eine bizarre Landschaft aus schwarz-grauen Basaltblöcken – sie treffen auf Ziegenherden und erleben immer wieder fantastische Ausblicke über die Ebene. Doch plötzlich stehen sie vor einer Gruppe bewaffneter Einheimischer.

Von der ersten Minute an ist man als Leser mit auf der Expedition. Erschauert vor den möglichen Gefahren und genießt gleichzeitig die wunderbaren Beschreibungen der Landschaft.

Die Expedition geht zum Göbekli Tepe, auf Deutsch "der Nabelberg" im Südosten Anatoliens, nahe der Provinzhauptstadt Urfa. Hier beginnt 1995 der deutsche Archäologe Klaus Schmidt die Grabung nach der ältesten Kultstätte der Menschheitsgeschichte.

Eine Tempelanlage von erstaunlichen Ausmaßen und unglaublichem Alter. Das weiß die kleine Forschergruppe, als sie 1995 mit der Erkundung des Geländes beginnt noch nicht. Erst im Verlauf der Grabung wird den Wissenschaftlern klar: Hier liegt die Wiege der Zivilisation.

Ein fulminanter Einstieg, der eine Art archäologische Indiana-Jones-Geschichte verspricht. Und sie auch liefert. Die Wissenschaftler finden einen Schatz, nach dessen Entdeckung wesentliche Teile der Vor- und Frühgeschichte umgeschrieben werden müssen.

Doch soviel muss vorweg schon gesagt werden: Der spannende Erzählton weicht nach wenigen Seiten dem Forscherherz, das Zahlen, Daten und Fakten liebt.
Trotzdem ein spannendes Sachbuch, handelt es sich doch bei der Entdeckung des Göbekli Tepe um eine der größten archäologischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Eine Sensation der Menschheitsgeschichte, die zeigt, dass Kult- und Kulturpflege Jahrtausende früher begann als bislang angenommen.

11.600 v. Christus baute eine Gruppe unbekannter Menschen eine Tempelanlage, die 6000 Jahre älter ist als die gigantischen Pyramiden von Gizeh und fast doppelt so alt wie die Monolithen von Stonehenge.

Bislang haben Klaus Schmidt und sein Team 39 Pfeiler, um die fünf Meter hoch und an die 20 Tonnen schwer, freigelegt. Steinsäulen, die in T-Form aufgestellt wurden und mit zahlreichen Reliefs versehen sind.

Stiere, Schlangen, Keiler, Wildesel, Enten, Füchse, Gazellen, Kraniche, Tausendfüßler und Löwen zieren die riesigen Stelen. Naturgetreue Darstellungen der Tierwelt, gemeißelt in Stein, als dafür noch kein Werkzeug zur Verfügung stand. Immense Mauern, die viereckige oder runde Räume mit bis zu 20 Meter Durchmesser bilden, erschaffen zu einer Zeit, als der Mensch noch als Jäger und Sammler lebte.

Göbekli Tepe wurde als überregionales Kultzentrum genutzt, schreibt Schmidt. Welche Art von Religion hier ausgeübt wurde, ist unbekannt. Sicher aber ist, dass die Menschen vom Göbekli Tepe sich einer großen Öffentlichkeit präsentieren wollten und dies mit künstlerischem Anspruch taten. Wer die Anlage geschaffen hat, wollte kundtun, wer er ist und was er zu leisten vermag, betont Schmidt.

Auf vielen der Tempelpfeiler entdeckt der Prähistoriker Schmidt Symbole, die wie Schriftzeichen aussehen. Auf über 30 Pfeilern findet er zum Beispiel immer wieder ein H-Zeichen. Ein an Hieroglyphen erinnerndes Symbolsystem, das erste Ansätze einer Schrift vermuten lässt. Ein unglaublicher Fund 12.000 Jahre vor Christus, am Ende der Steinzeit, der auch für den Wissenschaftler rätselhaft ist.

Die Grabungen am Göbekli Tepe haben noch mehr Rätsel zu bieten. Das gigantische Heiligtum, das erst zu fünf Prozent freigelegt ist, wurde weder zerstört noch zugeweht. Es wurde beerdigt. Die Erbauer oder ihre Nachfolger schütteten die riesige Kultanlage mit Geröll und Erde zu. Die Fläche wurde danach nie wieder bebaut. Warum das geschah? Die Forscher wissen es nicht. Noch nicht.
Göbekli Tepe hat für die Zukunft noch viele spannende Kapitel zu bieten. Die ersten fünf hat Klaus Schmidt in "Sie bauten die ersten Tempel" eindrucksvoll beschrieben. Ein Buch, das an den Klassiker "Götter, Gräber und Gelehrte vom C.W. Ceram erinnert. Man darf gespannt sein, ob es eine Fortsetzung am Göbekli Tepe gibt.

Klaus Schmidt: Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger
C.H. Beck Verlag München, 2006
282 Seiten, 24,90 Euro