Experimente der Psychologie

Rezensiert von Kim Kindermann |
Jeder von uns hat schon von ihnen gehört. Von diesen berühmten Experimenten der Psychologie, die Gänsehaut verursachen. Etwa das von Stanley Milgram. Der seine Versuchspersonen erfolgreich anwies, fremden Menschen heftige Elektroschocks zu versetzen. Es waren ganz normale Menschen, die das taten. Ganz ohne Not.
Sie gaben Elektroschocks, einfach weil es ihnen gesagt wurde. Wer aber waren diese Männer? Warum gab es den Versuch überhaupt? Und wie hat er uns geprägt? Fragen, denen Lauren Slater in ihrem Buch "Von Ratten und Menschen" versucht auf den Grund zu gehen. Dabei ist Milgrams Experimente nur eins unter zehn, das die Autorin einer genauen wie auch sehr persönlichen Analyse unterzogen hat.

Von "Ratten und Menschen" - schon der Titel ist Programm, denn die amerikanische Autorin Lauren Salter, ihrerseits übrigens selbst Psychologin, entführt sehr gekonnt, humorvoll und manchmal auch ein bisschen zynisch in die oft skurill wirkende Welt der Psychologie und ihrer Akteure. Oder wie es im Originaltitel so schön heißt Openning Skinner's box: Sie öffnet die Kiste, eine für Laien geheimnisvolle. Und das macht sie äußerst unkonventionell. Denn Lauren Slater beschreibt nicht nur zehn der bedeutendsten psychologischen Experimente des 20. Jahrhunderts und ordnet sie historisch ein, sondern sie stellt auch die Versuchsmacher ausführlich vor, schildert deren Vita, beruflich wie privat und versucht dabei immer zu ergründen, inwieweit die Versuche das Leben der Macher selbst beeinflusst haben.

Geschickt haucht die Autorin so den Versuchen Leben ein, holt sie raus aus der entrückten Welt der Wissenschaft und macht sie fassbar. Dabei scheut sie nicht davor zurück, einige der vorgestellten Experimente am eigenen Leib zu wiederholen. All das macht sie so gut, so gekonnt, dass man ihr als Leser gerne folgt. Man kriecht förmlich selbst durch die Black Box eines B. F. Skinner, der erfolgreich zeigte, dass man das Verhalten von Ratten durch Belohnung konditionieren konnte und damit auch Schlussfolgerungen für menschliches Verhalten anbot. Sprich: Dass der Mensch weniger aus freiem Willen als durch die Aussicht auf Belohnung gelenkt wird. Besondere Würze bekommt die Geschichte um diesen Versuch aber vor allem dadurch, dass Slater den Gerüchten um Skinner's ältere Tochter nachgeht. Gerüchte, die besagen, dass Skinner seine Tochter in den ersten zwei Jahren ihres Lebens auch in eine Box gesteckt haben soll, um ihr Verhalten zu konditionieren. Dass daran nichts Wahres ist, erfährt der Leser zwar schon bald, aber trotzdem lockt Slater mit Gruselaspekten wie dieser weiter zum Lesen. Ein bisschen bedient sie damit den Voyeurristen in jedem von uns.

Und so liest man mit Schaudern über Stanley Milgram´s Elektroschock-Versuch, bei dem Milgram seine Versuchspersonen anwies, fremden Menschen Elektroschocks zu versetzen, was diese auch taten. Nervös fragt sich Lauren Slater und mit ihr der Leser, warum taten sie das und wie würde ich handeln? Dabei hat das Experiment, das vielen als Erklärungsansatz für den Holocaust galt, Milgram schließlich seine Reputation gekostet. Man warf ihm vor, seine Versuchsteilnehmer arglistig einer furchtbaren Erfahrung ausgesetzt zu haben. Ob das stimmt? Lauren Slater hat zwei von ihnen getroffen und ausführlich befragt. Ihre Antworten sind erschütternd und bewegend zugleich. Zeigen sie doch: Experimente im Namen der Forschung strahlen immer auch nach außen ins echte Leben. Wie auch der Versuch von David Rosenhan: Er und sieben seiner Freunde wurden aufgrund der erfundenen Geschichte, dass sie alle eine Stimme hörten, die ihnen Plopp zuraunten, in die Psychiatrie eingewiesen. Auf der geschlossenen Abteilung wollte man sie alle mit schweren Medikamenten behandeln.

Der erste kam nach 7, der letzte nach 57 Tagen raus und das, obwohl sie alle kerngesund waren. Das beunruhigt umso mehr als Lauren Slater im Selbstexperiment nachweist, dass sie heute mit derselben erfundnen Geschichte, zwar nicht mehr eingewiesen wurde, dafür aber schwere Antidepressiva verschrieben bekam. Zumindest schreibt sie das. Und genau das ist der Schwachpunkt dieses gut geschriebenen Buches, das nachdenklich macht und persönlich berührt, denn Lauren Slater bleibt Belege für viele ihrer Aussagen schuldig. Sobald sie den historischen Rahmen ihrer Geschichten verlässt und ins heute wechselt, weiß man nicht, was entspricht den Tatsachen, was nicht? Was vor allem daran liegt, dass Lauren Slater keine nachprüfbaren Quellen nennt, sondern sich auf Gespräche beruft, die sie nicht aufgezeichnet hat. Und so schildert die Autorin in einem fiktionsartig Stil, der sich sehr gut lesen lässt, was passiert ist. Scheu hat sie keine.

Und so lässt Lauren Slater angesehene Wissenschaftler schon mal im wahrsten Sinne des Wortes unter Tische kriechen, um ihre Statements zu belegen, beschreibt ihre Ticks und zitiert aus sehr persönlichen Briefen der Forscher. Oft diskreditiert sie diese damit. Das aber will sie auch!
Schließlich geht es Lauren Slater darum, die menschliche Seite der von ihr beschrieben Versuche und ihrer Macher aufzuzeigen. Fast so, als wolle sie sagen, seht her, die Psychologen mögen große Forscher sein, aber sie sind menschlich genauso fehlbar wie wir selbst. Und genau das hat in den USA, wo das Buch schon im letzten Jahr erschienen ist, für großen Tumult gesorgt. Einige der im Buch vorkommenden Forscher bezichtigen die Autorin sogar der bewussten Lüge. Einen stichhaltigen Beweis können aber auch sie nicht erbringen. Es steht Wort gegen Wort. Und so beweist das Buch "Von Menschen und Ratten" einmal mehr, dass wir gar nicht immer erst ins Labor der Psychologen schauen müssen, um etwas über die Natur des Menschen zu lernen. Es genügt das reale Leben.


Lauren Slater: Von Menschen und Ratten. Die berühmten Experimente der Psychologie
Aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl
BELTZ Verlag 2005
345 Seiten, gebunden: 22,90 €